Ohne zu antworten, schnürte der Maler den Kragen seines Wamses auf und zog ein gefaltetes und versiegeltes Pergament heraus, das er der jungen Frau hinhielt:
»Da! Lest! … Ich glaube, die Stunde ist gekommen, meinen Auftrag zu erfüllen! Lest! Diese Fackel gibt genügend Licht … Lest! Ihr müßt! Es ist wichtig …«
Er schob das Pergament in die eisigen Hände der jungen Frau. Einen Augenblick drehte sie es hin und her. Es war mit schwarzem Wachs gesiegelt, in das ein fünffaches Lilienwappen eingedrückt war.
»Öffnet!« flüsterte Jan.
Sie gehorchte fast mechanisch, näherte die Augen dem Blatt, um die wenigen Worte der sehr kurzen Botschaft zu entziffern. Wie ein Kind buchstabierte sie:
»Die Sehnsucht nach Dir läßt mir weder Rast noch Ruh. Komm zurück, meine süße Liebe, und ich werde Dich um Verzeihung bitten! … Philippe …«
Cathérine hob den Kopf und traf auf den ängstlichen Blick des Malers. Mit leiser, inbrünstig überredender Stimme murmelte er: »Der hat Euch nicht vergessen, Cathérine … Ihr habt ihn verlassen, verhöhnt, beleidigt! Trotzdem liebt er Euch! Wenn man seinen unbändigen Stolz kennt, dann versteht man, was es ihn gekostet hat, diesen Brief zu schreiben, nicht wahr? Kommt mit mir zurück, Cathérine! Laßt mich Euch zu ihm zurückführen. Er hat Euch so viel Liebe zu geben, daß ihr Euren Schmerz vergeßt! Ihr werdet wieder Königin sein … und mehr noch! Kommt.«
Er versuchte, sie mitzuziehen, aber sie sträubte sich. Sanft schüttelte sie den Kopf: »Nein, Jan! Ich werde Königin sein, sagt Ihr, und noch mehr? Vergeßt Ihr die Herzogin?«
»Monseigneur liebt nur Euch. Nachdem die Herzogin ihm einen Sohn geschenkt hat, hat sie ihre Pflicht getan. Er verlangt nichts mehr von ihr.«
»Mein Stolz würde mehr verlangen! Was immer Messire Arnauds Fehler sind, trage ich noch seinen Namen und könnte mit diesem Namen nicht wie eine Gefangene an den Hof des Feindes gehen.«
»Ihr seid längst nicht mehr mit der Politik vertraut. Alles arrangiert sich, Cathérine. Bald werden König Karl VII. und Herzog Philippe Frieden schließen, daran zweifelt niemand!«
»Vielleicht! Aber ich habe einen Sohn. Ich muß ihn erziehen, wie es seinem Rang gebührt. Er soll seine Mutter nicht als anerkannte Mätresse Herzog Philippes sehen! Ich werde ihm diese vergoldete Schande nicht antun!«
»Ihr steht noch unter dem soeben erlittenen Schock. Schlaft erst ein wenig, Cathérine. Morgen ist wieder ein Tag, und Ihr werdet klarer sehen. Und Ihr werdet verstehen, daß Ihr es Euch schuldig seid, endlich das glänzende Leben zu führen, das Ihr zurückgewiesen habt. Ihr werdet unabhängige Ländereien besitzen, ein Fürstentum! Euer Sohn wird mächtiger sein, als Ihr es Euch jemals träumen ließet … Hört mich an! Glaubt mir: Der Herzog liebt Euch mehr denn je!«
Die junge Frau preßte beide Hände über die Ohren und schüttelte schmerzlich den Kopf.
»Schweigt, Jan! Heute abend möchte ich nichts mehr hören! Ich werde hineingehen … ein wenig schlafen, wenn ich kann. Verzeiht mir … Ihr könnt mich nicht verstehen.«
Die Hand zurückstoßend, die sich ihr von neuem entgegenstrecke, kehrte sie in den großen Saal zurück. Dieser war halbdunkel. Nur die Glut des herabgebrannten Feuers erhellte die überall auf dem Boden ausgestreckten Körper der schlafenden Reisenden. Cathérine sah Josse, der zusammengerollt wie eine Katze neben dem Feuerherd schlief … Nur Ermengarde, etwas abseits sitzend, war noch wach …
Als sie Cathérine auftauchen sah, erhob sie sich, aber die junge Frau gab ihr ein Zeichen, sich nicht zu bemühen. Sie wollte sich nicht unter all diese Leute mischen. Mehr als je hatte sie den zwingenden Wunsch, allein zu sein. Nicht, um über den Brief nachzudenken, den sie vor ihre Füße hatte fallen lassen, auch nicht, um ihr Schicksal zu beklagen. Diesmal wollte sie nachdenken, wollte versuchen klarzusehen … Der Ruf Philippes sollte zumindest dazu dienen, sie wieder ins Gleichgewicht zu bringen. Zu dieser Stunde mußte der Kreuzgang leer sein. Trotz der dicken Mauern hörte man undeutlich die Stimmen der in der Kapelle singenden Barmherzigen Brüder … Den Mantel fest um sich wickelnd, stieß Cathérine die niedrige, auf den Wandelgang führende Pforte auf und trat unter die schweren Arkaden hinaus, deren gebrochene Bögen durch solide Strebepfeiler verstärkt waren, um die schneebedeckten Dächer zu stützen. Das grelle Mondlicht zeichnete die strenge Architektur des Klosters vor dem Hintergrund des winterlichen Gartens ab.
Langsam schritt sie weiter, stummer Schatten unter den Schlagschatten der Arkaden. Die Bewegung tat ihr gut. Es schien, daß sie sich wieder fing, je mehr der brennende Schmerz von vorhin allmählich dem Zorn wich … Nach einer Viertelstunde entdeckte Cathérine in sich einen wütenden, herrischen Wunsch nach Vergeltung! Fortunat hatte geglaubt, sie zerbrechen zu können, indem er ihr ihren liebeskranken Gatten zu Füßen einer anderen schilderte; hatte geglaubt, ihr Furcht einjagen zu können durch seine Beschreibung des Loses christlicher Frauen im maurischen Land! Aber er kannte sie nicht! Er wußte nicht, der Unglückliche, das Cathérine jederzeit zu allem bereit gewesen war, um das Ziel zu erreichen, das sie sich gesetzt hatte; bereit, die schlimmsten Gefahren auf sich zu nehmen, zu töten, wenn nötig, selbst sich zu verkaufen, wenn es keinen anderen Ausweg gab!
Nein, sie würde ihren Gatten dieser Frau nicht überlassen! Sie hatte sich, viel zu teuer, ein Recht auf ihn erworben! Was bedeuteten auf der Waage des Schicksals das Lächeln und die Küsse dieser Ungläubigen im Vergleich zu dem schweren Gewicht ihrer Tränen, ihrer Leiden? Und wenn Arnaud geglaubt hatte, sich für immer von ihr befreien zu können, dann irrte er sich. Er hielt sie für verheiratet, gewiß, aber war das ein Grund, sie weiterhin an seine Lepra glauben zu lassen? Er hatte nur an seine Mutter gedacht, nicht einmal an seinen Sohn, und hatte sich, Reisender ohne Gepäck, munter aufgemacht, der ersten besten seine Liebe anzubieten …
»Selbst wenn ich unter der Sklavenpeitsche arbeiten muß, selbst wenn ich gefoltert werde«, murmelte Cathérine mit knirschenden Zähnen, »werde ich dorthin reiten, werde ich ihn wiederfinden! … Ich werde ihm sagen, daß ich keinen anderen Herrn als ihn habe … daß ich immer und ewig seine Frau bin. Und dann werden wir einmal sehen, wer den Ausschlag geben wird, ich oder diese Mulattin!«
Je heftiger diese Gedanken wurden, desto mehr beschleunigte Cathérine ihre Schritte. So kam es, daß sie bald den Klostergang schneller durchmaß, als sie je einen Berg erstürmt hatte. Der Mantel flatterte wie ein schwarzer Schleier hinter ihr her. »Ich werde reiten! Ich werde nach Granada reiten!« sagte sie laut. »Ich möchte wissen, wer mich daran hindern könnte!«
»Psst! Dame Cathérine!« klang eine Stimme hinter einer Säule hervor. »Wenn Ihr nach Granada reiten wollt, braucht Ihr es nicht über alle Dächer zu schreien … und Ihr müßt Euch beeilen.«
Einen Finger auf die Lippen legend, tauchte Josses hagere Gestalt neben ihr auf. Er trug ein Bündel unter dem Arm und warf von Zeit zu Zeit einen Blick zurück. Cathérine sah ihn erstaunt an.
»Ich dachte, Ihr schlaft!« sagte sie.
»Das dachten andere auch! Dame Ermengarde und Euer Freund, der Herr Maler! Sie nahmen sich nicht vor mir in acht! Und obgleich sie leise sprachen, habe ich sie verstanden …«
»Was sagten sie?«
»Sie wollten Euch, sobald alles im Rasthaus schläft und Ihr selbst Euch zur Ruhe gelegt habt, gewaltsam nach Burgund entführen!«
»Was?« hauchte Cathérine verblüfft. »Sie wollen mich … gewaltsam … entführen? Das ist ja ungeheuerlich!«
»Nein«, entgegnete Josse und lächelte sein seltsames Lächeln bei geschlossenen Lippen. »Genaugenommen ist es sogar eine freundliche Geste! Zuerst glaubte ich, sie hätten böse Absichten … wollten Euch vielleicht töten, und beinahe hätte ich nicht weiter zugehört. Aber das ist es nicht. Sie wollen Euch entführen, um Euch vor Euch selbst zu retten, gegen Euren Willen. Sie kennen Euch gut und befürchten, daß Ihr beschließt, direkt nach Granada zu reisen, wo Euch ihrer Meinung nach nur ein schrecklicher Tod ereilen würde.«
»Sie brauchen nur mitzukommen«, gab Cathérine trocken zurück. »Das würde die Gefahr vermindern. Selbst ein maurischer Fürst dürfte es sich zweimal überlegen, bevor er einen Botschafter Burgunds massakrieren läßt …«
»Der übrigens nichts bei ihm zu suchen hätte! Ich glaube nicht, daß Euer Freund ohne Anweisung seines Herrn derlei riskieren würde. Nein, Dame Cathérine. Wenn Ihr nicht nach Dijon zurückkehren wollt, wenn Ihr ihnen entwischen wollt, dann müßt Ihr fliehen … und zwar schnell!«
Einen Augenblick musterte Cathérine die unregelmäßigen Züge ihres merkwürdigen Dieners. Mißtrauen schlich sich in ihre Gedanken. Diese Geschichte – sie konnte nicht daran glauben. Sie kannte Ermengarde und Jan schon zu lange, um für möglich zu halten, daß sie ihr Gewalt antun wollten. Und was diesen Burschen da vor ihr betraf, war er alles in allem ein nicht sehr achtbarer Landstreicher, und sie wußte herzlich wenig über ihn, außer daß er flinke Finger besaß und ein sehr dehnbares Gewissen. Sie sprach ihre Gedanken ohne Umschweife aus.
»Welchen Grund sollte ich haben, Euch zu glauben? Sie sind meine Freunde, alte und treue Freunde, während …«
»Während ich nur ein Straßendieb, ein kleiner Pariser Herumtreiber bin, der nichts taugt, nicht wahr? Hört zu, Dame Cathérine. Zweimal habt Ihr mich gerettet, das erstemal unbewußt, zugegeben, aber das zweitemal sehr bewußt. Ohne Euch wäre ich im Begriff, am Galgen des Abtes von Figeac zu verfaulen. Im Hof der Wunder, bei den Gaunern und Bettlern, sind das Dinge, die man nicht vergißt. Auch wir haben einen Ehrbegriff, auf unsere Art …«
Cathérine antwortete nicht sofort. Josse konnte den Widerhall nicht ahnen, den seine Worte in ihr weckten, konnte nicht wissen, daß auch sie einmal ihr Leben und ihre Sicherheit diesem selben Hof der Wunder verdankt hatte, von dem er sprach … Schließlich sagte sie:
»Und um Eure Schuld zu begleichen, drängt Ihr mich nun, mit Euch nach Granada aufzubrechen? Ihr wißt doch, daß ich dort Schlimmeres als den Tod riskiere.«
»Nun«, meinte Josse kalt, »wenn Ihr sterbt, dann nur, weil ich vor Euch tot sein werde! … Die Zeit eilt, Dame Cathérine, entscheidet Euch! Entweder glaubt Ihr mir, und wir brechen auf, oder Ihr glaubt mir nicht … und Ihr werdet ja sehen. Ich kenne Spanien ein wenig … war schon einmal da. Ich kenne auch die Sprache ein wenig. Ich kann Euch als Führer dienen!«
»Könntet Ihr mir auch nach Burgund folgen? Das wäre zweifellos angenehmer!«
»Ich glaube nicht. Diese Leute, die Euch vor Euch selbst retten wollen, erweisen Euch einen schlechten Dienst. Sie wissen nicht, daß Ihr nicht glücklich sein könntet mit einer Reue, mit dem Bedauern im Herzen, nicht ausgeführt zu haben, was Ihr Euch vornahmt! Ich ziehe vor, Euch in die Gefahr stürzen zu sehen und sie mit Euch zu teilen, weil Ihr wie ich seid! Ihr gebt nie auf. Und ich halte Euch für fähig, die größten Schwierigkeiten und Gefahren zu überwinden. Ich weiß sehr wohl, was wir riskieren werden, Ihr und ich: die Sklavenpeitsche, den Tod, die Folter – und für euch, da Ihr eine Frau seid, noch mehr … aber ich glaube, es lohnt sich, das Abenteuer zu wagen und zu erleben. Ihr findet vielleicht Euren Gatten wieder, und ich treffe vielleicht auf das Glück, das mir noch nicht hold war. Es heißt, das Königreich Granada sei reich … Also? … Reiten wir? Die Pferde sind gesattelt und warten unter dem Gewölbe!«
Eine leise Hoffnung richtete Cathérine auf! Allein dieser Bursche hatte die richtigen Worte gefunden, den Zuspruch, den sie brauchte. Er war tapfer, intelligent, gewandt … Er wollte ihr helfen! Nein! Sie würde sich nicht wie ein hübsches, mit Goldfäden umwickeltes Paket Philippe von Burgund ausliefern lassen, nur weil zwei wohlgesonnene Narren glaubten, dies sei das beste Mittel, ihr zum Glück zu verhelfen! Sie warf Josse einen funkelnden Blick zu.
»Reiten wir! Ich bin bereit …«, rief sie hingerissen.
»Einen Augenblick!« sagte er, ihr das Bündel reichend. »Hier sind Männerkleider, die ich einem Soldaten gestohlen habe. Zieht sie an, und packt die Euren ein. Wir werden sie mitnehmen. Aber macht schnell … So wird man uns schwerer verfolgen können!«
Begierig griff sie nach den Kleidern, befahl Josse, Wache zu stehen, trat hinter einen Strebepfeiler und zog sich um, ohne sich um die Kälte zu kümmern. Ein wunderbarer Tatendrang feuerte sie an … In dem Augenblick, in dem sie zum Kampf antrat, konnte sie ihren ganzen Kummer vergessen! Es würde noch Zeit genug sein, sich ihm zu überlassen, wenn sie scheiterte, aber diesen Gedanken wollte sie gar nicht erst in sich aufkommen lassen, keinen Augenblick!
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