Die Männer an der Winde seufzten erleichtert.
Cathérine ahnte mehr, als daß sie's sah, wie sie sich mit dem Ärmel über die schweißnassen Stirnen wischten.
»Diese Nacht ist wirklich stockfinster!« brummte Hans. »Man kann fast nur tastend arbeiten … Findet ihr die Tür?«
»Ja«, flüsterte Josse. »Ich hab' sie vor mir!«
Der plumpe Eisenriegel, mit dem der Käfig verschlossen war, war wirklich so primitiv, daß er kein Problem bildete. Nachdem die Tür geöffnet war, schob sich Cathérine hinein und tastete mit ungeduldigen Händen nach der bewegungslosen, durchnäßten Gestalt im Innern.
»Er rührt sich nicht!« murmelte sie ängstlich. »Er muß tot sein …«
»Das werden wir sehen!« erwiderte Josse. »Tretet zur Seite, Dame Cathérine. Laßt uns machen …«
»Beeilt Euch!« brummte Hans. »Schaut Euch den Himmel an …«
Tatsächlich war ein leiser Schimmer hinter einer Wolkenbank aufgetaucht. Es war zwar nichts Bedeutendes, aber man konnte auf einmal etwas klarer sehen.
»Wenn einer der Wachtposten oder irgendein Bürger auf die Idee kommt, die Augen zu heben, und feststellt, daß der Käfig nicht mehr da ist, dann bekommen wir in wenigen Augenblicken die ganze Stadt auf den Hals! Und dann behüte uns Gott.«
»In allen Ländern der Welt«, entgegnete die junge Frau trocken, »ist eine Kirche eine Zufluchtsstätte …«
»Vielleicht in allen Ländern … aber hier bin ich nicht so sicher!«
Nicht ohne Mühe, aber mit unendlicher Behutsamkeit zogen die drei Männer den Gefangenen aus seinem Käfig. Er war tatsächlich vollkommen reglos. Man hörte ihn nicht einmal atmen. Rasch legte Cathérine ihm die Hand aufs Herz und zog sie gleich darauf mit einem erleichterten Seufzen wieder zurück.
»Er lebt!« hauchte sie. »Aber wie lange noch?«
»Schnell!« befahl Hans. »Zieht ihn aus!«
»Warum?«
»Das werdet Ihr gleich sehen. Um Himmels willen, beeilt Euch! Es wird immer heller.«
Wie zur Bestätigung seiner Worte hörte man unten auf dem Platz einen der Wachtposten husten. Dann das Geräusch einer auf Stein klirrenden Lanze. Die vier Komplicen erstarrten, die Herzschläge setzten aus, und sie warteten auf den Alarm, der unausbleiblich folgen mußte … Aber nichts kam! Vier Seufzer entrangen sich gleichzeitig den Lippen. Josse, Cathérine und Hatto machten sich daran, Gauthier auszuziehen, während Hans einen prallen Sack, den er mitgebracht hatte, öffnete. Er enthielt ein dickes, eiligst zusammengezimmertes Stück Holz, das ungefähr die Form eines zusammengekauerten Menschen hatte.
»Der Käfig muß immer besetzt erscheinen!« sagte Hans leise. »Wenn nicht, wird die Stadt morgen früh in Aufruhr geraten, und wir werden diesen Mann nie hinausbringen. Mit etwas Glück wird vor ein paar Tagen niemand den Ersatz bemerken.«
Cathérine hatte bereits begriffen, was der tapfere Deutsche vorhatte. Es war nicht schwer, Gauthier die Fetzen, die ihn bedeckten, abzunehmen. Schnell wurde der bewußtlose Körper in den Mantel gehüllt, den Cathérine mitgebracht hatte, während Hans seine künstliche Figur in den Käfig setzte und sie, so gut es ging, mit den Lumpen des Gefangenen und einigen Lappen von undefinierbarer Farbe, die er mitgebracht hatte, bedeckte. Eine Kugel aus Lehm, unter Lumpen verborgen, täuschte den auf die Arme gestützten Kopf vor. In der Dunkelheit der Nacht war die Illusion frappierend echt.
»Von den Türmen aus, am hellichten Tag gesehen, würde es einer genauen Prüfung vielleicht nicht standhalten«, meinte Hans. »Aber von unten gesehen, müßte es gehen.«
Die Hauptschwierigkeit waren die Ketten, mit denen der Gefangene gefesselt war. Hans hatte in dem Beutel, den er Josse anvertraut hatte, zwar Schlosserwerkzeug mitgenommen, aber es war nicht leicht, die Eisen abzunehmen, ohne Gauthier zu verletzen. Der geringste Schrei wäre verhängnisvoll. Als Hans den Handschellen mit einer Säge zu Leibe ging, hielt Cathérine den Atem an, denn es schien ihr, daß es fürchterlichen Lärm machen müsse, trotz der eingefetteten Lappen, mit denen sie umwickelt war. Aber der Baumeister bewies wirklich große Geschicklichkeit. Die Arbeit wurde so gut ausgeführt, daß der bewußtlose Mann nicht einmal einen Seufzer ausstieß.
Eiligst wurden die Eisen der plumpen Figur angelegt, und nachdem der Käfig wieder geschlossen war, bedienten Hans und Hatto erneut die Winde, während Cathérine und Josse dafür sorgten, daß er ohne Anprall hinuntergelassen werden konnte. Einige Minuten später hatte das scheußliche Folterinstrument seinen Platz am Turm wiedereingenommen.
Es war aber auch höchste Zeit!
Als hätte der Mond nur auf diesen Augenblick gewartet, trat er aus den Wolken hervor und warf sofort ein kaltes, hartes Licht auf die gesamte Landschaft. Gleichzeitig hörte man am Turm unten die Soldaten einige Worte in ihrer gutturalen Sprache wechseln. Cathérine sah Hans' Zähne blitzen und entnahm daraus, daß er grinste.
»Na also!« flüsterte er. »Der Himmel ist wahrhaftig auf unserer Seite. Jetzt gilt es, unseren Geretteten hinunterzutransportieren, was bei seinem Gewicht keine so leichte Sache sein wird. Die Turmtreppe ist steil, und es ist gut, daß Hatto uns zu Hilfe gekommen ist. Ihr, Dame Cathérine, werdet mit einer Fackel vorangehen, um uns zu leuchten. Gehen wir!«
Die drei Männer packten Gauthier, der eine bei den Füßen, die anderen beiden an den Schultern, während Cathérine sich beeilte, eine Fackel unter dem Schutzdach der Treppe anzuzünden. Dann setzte der Zug sich die Wendeltreppe hinab mit einer Langsamkeit in Bewegung, die verriet, wie anstrengend das war. Obgleich durch die Entbehrungen abgemagert, hatte Gauthier noch immer ein respektables Gewicht, und außerdem ließ sich der riesige Körper nicht leicht auf einer so schmalen Treppe tragen. Ängstlich ging Cathérine der Gruppe voraus, von Zeit zu Zeit einen forschenden Blick auf den Verwundeten werfend, ob sich unter dem Schmutz und dem struppigen Bart das geringste Lebenszeichen zeigte. Aber nichts, kein Zucken, kein Verziehen des Gesichts. Nur das erleichterte Aufseufzen der drei Männer war zu hören, da man unten angekommen war und die Aufgabe jetzt leichter wurde. Leichter vielleicht, aber auch gefährlicher. Wenn einer der Mönche im Gebet den Kopf wandte oder einer der Wachtposten draußen auf den Gedanken käme, in die Kirche zu treten, wären die vier Verschworenen verloren. Es wäre um sie alle geschehen!
Auf Samtfüßen, den keuchenden Atem angehalten, glitten Cathérine und ihre Gefährten langsam zum Portal. Sie hatten es beinahe erreicht, als Gauthier plötzlich ein Stöhnen ausstieß, das in der von dem monotonen Gemurmel der Mönche kaum unterbrochenen Stille in Catherines Ohren wie die Posaunen des Jüngsten Gerichts klang. Die drei Männer hatten gerade noch Zeit, sich mit ihrer Last in den Schatten eines riesigen Pfeilers gegen das geschlossene Gitter einer Seitenkapelle zu drücken, während die junge Frau dem Verwundeten schnell die Hand auf den Mund preßte.
Die Angst, die die Flüchtlinge während der folgenden Minuten erfüllte, war entsetzlich. Cathérine fühlte ihr Herz in schweren Schlägen in der Brust klopfen. An ihrem Ohr nahm sie den keuchenden Atem Hans' wahr, gegen den sie sich preßte. Die beiden Mönche im Chor hatten ihr Gebet unterbrochen. Sie wandten die Köpfe nach der Seite, von der das Geräusch gekommen war. Cathérine sah das scharfe Profil des einen im Schein einer Kerzenflamme. Der andere machte sogar eine Bewegung, als wollte er aufstehen, aber sein Begleiter hielt ihn zurück.
»Es un gato!«[1] sagte er. Und ohne sich weiter zu beunruhigen, nahmen sie ihr Gebet wieder auf. Aber die Lage der kleinen Gruppe hatte sich durchaus nicht gebessert. Unter ihrer Hand spürte Cathérine, wie der Mund Gauthiers Leben gewann. Er versuchte, das Hindernis abzuschütteln. Und der zarte Knebel, den ihre Hand bildete, würde das Geräusch nicht ersticken, wenn er wieder stöhnen sollte.
»Wie kann man ihn zum Schweigen bringen?« flüsterte Cathérine bestürzt und preßte ihre Hand so stark, wie sie konnte, auf Gauthiers Mund. Ein schwaches Stöhnen entrang sich ihm wie Wasser unter einem Fels. Von neuem sahen sie sich verloren. Die Mönche würden wieder innehalten. Diesmal würden sie nachsehen …
»Wenn man sie totschlagen muß, dann schlagen wir sie tot«, flüsterte Josse unerschütterlich. »Aber hier müssen wir raus.« Plötzlich erklang in der Tiefe der Kirche das Geläute einer Glocke, dem unmittelbar der ernste, allmählich anschwellende unheimliche Gesang von etwa fünfzig Männerstimmen folgte. Cathérine fühlte, wie Hans vor Freude bebte. »Die Mönche«, sagte er. »Sie kommen uns mit ihrem Gesang zu Hilfe! Jetzt ist der Augenblick!«
Zusammen ergriffen die drei Männer Gauthier von neuem, hoben ihn auf, als wöge er überhaupt nichts, und schleppten ihn schnell an der Mauer entlang. Es war höchste Zeit. Gauthiers Stöhnen ließ nicht mehr nach. Aber die kräftigen Stimmen der heiligen Männer trugen den Gregorianischen Kirchengesang in die riesigen Gewölbe der Kirche und erfüllten sie mit einer strengen Harmonie, in der sich die Stimme des Verletzten verlor. Die Portale wurden fast im Laufschritt durchmessen. Es war wichtig, von der sich aus dem Kreuzgang nähernden Prozession nicht gesehen zu werden. Außer Atem, mit klopfenden Herzen fanden die vier Gefährten sich wieder unter dem Portalvorbau ein. Der Mond schien immer heller, aber entlang der Kathedralmauer zeichnete sich ein breiter, sehr schwarzer Schattenstreifen ab.
»Noch eine letzte Anstrengung«, keuchte Hans freudig, »und wir sind da. Vorwärts …«
Einige Augenblicke später schloß sich die niedrige Tür der Werkstatt geräuschlos hinter ihnen. Cathérine ließ sich erschöpft und überglücklich auf den Brunnenrand fallen. Unfähig, ihre überanstrengten Nerven noch länger im Zaum zu halten, brach sie danach in krampfhaftes Schluchzen aus.
6
Gelassen ließen Hans, Josse und Hatto Cathérine sich ausweinen. Sie trugen Gauthier unter den Schuppen, wo der Steinmetz seine Blöcke aus Sandstein und Travertin lagerte, legten ihn auf ein Bett aus Stroh, das Hatto schnell zusammengelesen hatte, und machten sich daran, ihn zu untersuchen. Cathérine, die sich plötzlich ihres Alleinseins bewußt wurde, hörte auf zu weinen, trocknete sich die Augen und gesellte sich zu ihren Gefährten. Die Tränen hatten ihr gutgetan. Sie fühlte sich außerordentlich entspannt und von ihrer körperlichen Ermüdung befreit. Es war wunderbar, Gauthier der Grausamkeit Don Martins entrissen zu wissen! Selbst wenn die Hälfte der Arbeit noch zu leisten war, selbst wenn er im Sterben lag …
Aber die Freude hielt nicht an, als sie den ersten Blick auf den großen, lang ausgestreckten Körper warf. Er war mager, furchtbar schmutzig, und wenn sich seine Augen manchmal öffneten, blieb ihr grauer Blick verschwommen, matt. Als sie sich auf die junge Frau richteten, wurden sie von keinem Schimmer der Überraschung oder des Erkennens erhellt.
Cathérine konnte sich noch so sehr über ihn beugen, ihn leise beim Namen rufen, der Normanne sah sie zwar an, blieb aber teilnahmslos.
»Ist er wahnsinnig geworden?« fragte die junge Frau besorgt, »Offenbar erinnert er sich an nichts. Er muß sehr krank sein! Warum hat man ihn dann hierhergetragen statt in die Küche?«
»Weil es bald Tag wird«, antwortete Hans. »Wenn Urraca aufsteht, darf sie ihn nicht vorfinden.«
»Was macht das schon aus? Sie ist ja taub!«
»Taub, ja, aber weder blind noch stumm und vielleicht auch nicht so dumm, wie sie scheint. Wir werden diesen Mann behandeln, ihn so gut wie möglich waschen, ihn angemessen kleiden, ihn stärken, soweit es uns irgendwie möglich ist! Dann wird es Tag sein. Dann müssen wir ihn unverzüglich aus der Stadt hinausschaffen.«
»Aber wie kann man ihn in diesem Zustand mitnehmen? Was macht man mit ihm unterwegs?«
»Die Mittel, ihn mitzunehmen, werde ich Euch geben«, entgegnete Hans ernst. »Danach, Dame Cathérine, wird es Eure Aufgabe sein, das Schicksal dieses Mannes zu bestimmen. Ich kann Euch weder folgen noch ihn hierbehalten. Es hieße meinen Kopf riskieren und den aller meiner Leute … Außerdem, wenn ich Euch geholfen habe, aus instinktiver Sympathie und aus Haß gegen Don Martin, bin ich doch nicht lebensmüde und habe auch nicht die Absicht, die Arbeit, die ich hier leiste, aufzugeben. Ich muß Euch sagen, daß Ihr nicht mehr mit mir rechnen könnt, wenn Ihr diese Stadt einmal verlassen habt. Ich bedaure das … aber ich kann's nicht ändern.«
Cathérine hatte den Worten Hans' aufmerksam zugehört. Ein wenig Scham und Verwirrung durchfuhren sie. Dieser Mann hatte ihr spontan geholfen, und im Grunde ihres Unterbewußtseins hatte sie beinah geglaubt, daß er ihr weiterhelfen werde. Aber sie besaß zu viel gesunden Menschenverstand, um sich nicht sogleich einzugestehen, daß er völlig recht hatte, daß sie nicht noch mehr von ihm verlangen konnte. Mit einem Lächeln streckte sie ihm die Hand hin.
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