Plötzlich ließ sich von der anderen Seite des geschlossenen Tores schwach ein frommer Gesang hören, ein so bekannter Gesang, daß Cathérine jäh den Kopf hob.
»E ul treia! E sus eia! Deus aia nos!«
Der jahrhundertealte Gesang der Pilger von Compostela. Der Gesang, den sie immer anstimmten, wenn die Müdigkeit sie übermannte, der Gesang, den Cathérine noch vor wenigen Wochen beim Verlassen von Puy und auf den einsamen Wegen des Aubrac selbst angestimmt hatte. Eine vage Hoffnung stieg in ihr auf. Es schien ihr, daß die alte Kantilene die Antwort Gottes auf ihr sehnliches Gebet sei. Sie sprang vom Wagen, eilte zum Fallgatter, klammerte sich mit beiden Händen daran und drückte das Gesicht zwischen die Stangen. Vor ihr, auf der römischen Brücke, näherte sich ein Trupp ermatteter und zerlumpter Pilger, die sich bemühten, ihre müden Rücken aufzurichten und ihre hängenden Köpfe zu heben. An der Spitze, die Augen zum Himmel gehoben, den fanatischen Blick auf die Wolken gerichtet und hoch den Stab hebend, mit dem er den Takt zu dem Gesang schlug, marschierte Gerbert Bohat …
»Sieh mal einer an!« flüsterte Josse, der neben Cathérine geglitten war. »Wie man sich wiedertrifft!«
Aber Gerbert hatte seine ehemaligen Weggenossen nicht gesehen. Er war einige Schritte vor dem heruntergelassenen Fallgatter stehengeblieben und hob den Kopf zum Wall hinauf, wo Soldaten Wache standen.
»Warum ist dieses Tor geschlossen?« fragte er. »Öffnet den fahrenden Rittern Gottes!«
Und gleich wiederholte er seine Worte auf spanisch. Ein Bewaffneter erwiderte etwas, was offenbar bedeutete, er solle zum Teufel gehen, denn der Ton war barsch. Aber die christliche Sanftmut hielt den Clermonteser nicht zurück, scharf zu antworten. Er hob die Stimme und herrschte seinen Gegner an.
»Was sagt er?« fragte Cathérine.
»Keine christliche Stadt habe jemals gewagt, vor den Pilgern von Compostela ihre Tore zu verschließen. Er und die Seinen seien erschöpft, er habe Kranke in seinem Zug und Verwundete, die unbedingt ins Hospiz müßten, denn sie seien von Briganten überfallen worden, und er verlange, daß die Tore geöffnet würden!«
»Und was antwortet man ihm?«
»Don Martin wolle es nicht!«
So ging das Gespräch, immer schneller und heftiger werdend, einige Augenblicke hin und her. Schließlich bohrte Gerbert Bohat seinen Stab in die Erde, lehnte sich in wartender Positur darauf, während um ihn die Pilger sich ermattet und erschöpft auf den Boden lagerten.
»Nun?« fragte Cathérine Josse.
»Gerbert berief sich auf den Erzbischof. Der Soldat hat ihm geantwortet, man werde Don Martin holen lassen.«
Der Alkalde kam auch sofort. Cathérine bemerkte flüchtig seine lange schwarze Gestalt, seine Spinnenbeine, die die Stiege zum Wall erklommen. Hans wiederum war vom Karren gestiegen, trotz der Wachen, die von ihm verlangten, er solle nach Hause zurückfahren, und hatte sich seinen Gefährten angeschlossen. »Dahaben wir vielleicht eine Chance«, sagte er leise. »Ich habe Don Martin sagen hören, die Pilger seien vielleicht von Oca-Briganten überfallen worden, und man müsse die Ankömmlinge verhören.«
Tatsächlich war die schneidende Stimme Don Martins einen Augenblick später über Catherines Kopf zu hören. Gerbert hatte höflich gegrüßt, hatte aber seine starre Haltung dabei nicht aufgegeben. Ein neuer Wortwechsel, unverständlich für die junge Frau, folgte, dann mäßigte sich der Ton des Alkalden abrupt. Hans flüsterte erstaunt:
»Er sagt, er werde die Tore vor den frommen Leuten öffnen lassen … aber mir gefällt seine plötzliche Sanftheit gar nicht. Die Kunst des Verhörens Fremder macht Don Martin nicht viel Schwierigkeiten. Trotzdem, wenn das Fallgatter aufgemacht wird, müssen wir daraus Nutzen ziehen …«
»Aber Ihr riskiert, verfolgt zu werden«, wandte Cathérine ein. »Vielleicht wird man auf Euch schießen? Wenn Euch ein Pfeil träfe, könnte ich mir nie verzeihen.«
»Ich mir auch nicht«, lächelte Hans mit süßsaurem Gesicht, »aber wir haben keine Wahl. Wenn man entdeckt, wen wir im Wagen haben, teilen wir sein Schicksal. Die Suppe, die wir uns eingebrockt haben, müssen wir auslöffeln! Hört Euch bloß diesen Lärm hinter uns an! Man kämmt alle Häuser durch. Wenn es schon sterben heißt, ist mir ein Pfeil lieber als der Scheiterhaufen.«
Und Hans nahm entschlossen wieder seinen Sitz ein und forderte Cathérine und Josse auf, dasselbe zu tun. Gerade hatten sie wieder Platz genommen, als Don Martin Gomez Calvo mit einem Trupp Stadtknechte unter dem Gewölbe auftauchte. Er zuckte zusammen, als er den Karren bemerkte, und ging schnell auf ihn zu. Als Cathérine ihn herankommen sah, das hagere Gesicht wutverzerrt, wäre sie am liebsten gestorben. Er wollte den Karren zurückschieben lassen, befahl, ihn zu durchsuchen. Sie hörte, wie seine schneidende Stimme Hans anfuhr, war überzeugt, daß nichts sie oder Gauthier oder ihre Freunde mehr vor dem leeren Schafott, das nur auf seine Beute zu warten schien, retten könnte.
Aber sie kannte den Baumeister schlecht. Dem Zorn des Alkalden setzte er eine majestätische Ruhe entgegen, erklärte ihm, wie Josse Cathérine ins Ohr flüsterte, er müsse seine Ladung Steine unbedingt nach Las Huelgas fahren, er sei ohnehin schon viel zu spät dran für eine Arbeit, die ihm vom Konnetabel Alvaro de Luna aufgetragen worden sei. Der Name des Herrn Kastiliens tat seine Wirkung. Die Bissigkeit Don Martins ließ um einige Grade nach. Sein scharfer, mißtrauischer Blick streifte der Reihe nach über jeden Insassen des Fuhrwerks. Cathérine mußte sich zusammennehmen, um nicht unter seinen grausamen Augen kalten Widerwillen zu zeigen. Einen Moment herrschte drückendes Schweigen, doch endlich entrang sich den dünnen, halbgeöffneten Lippen Don Martins ein kurzer Satz. Hinter sich hörte Cathérine, wie Josse leise durch die Zähne zischte. Hans hatte, ohne mit der Wimper zu zucken, mit fester Hand die Zügel wieder ergriffen, und die junge Frau begriff, daß es weiterging. Tatsächlich hob sich das Fallgatter langsam. Aber hinter dem Fuhrwerk und auf beiden Seiten scharten sich Bewaffnete. Don Martin ging bis zur Brücke vor, machte eine herrische Bewegung, die den Pilgern bedeutete, näher zu kommen. Sie erhoben sich mühsam und stellten sich mehr oder weniger in Reih und Glied auf. Nur Gerbert hatte seine hochmütige Haltung nicht aufgegeben. »Los!« murmelte Hans. »Wir nehmen hier zuviel Platz ein. Wir werden auf der Brücke warten, bis der ganze Zug vorüber ist.«
Der Karren fuhr langsam vor, aus dem Schatten der Porta heraus. Cathérine, die bis zu diesem Augenblick das Gefühl gehabt hatte, alle Steine des Stadtwalles lasteten auf ihrer Brust, empfand Erleichterung. Hans lenkte sein Fuhrwerk beiseite, um die Pilger vorbeizulassen. Sie schienen vor Müdigkeit und Elend niedergedrückt. Die Überquerung des Gebirges mußte sie hart mitgenommen haben. Im Vorbeifahren erkannten Cathérine und Josse einige Gesichter wieder, aber die Mehrzahl der anderen trugen die sichtbaren Spuren ihrer Mühen und ihrer Not. Die Kleider waren zerlumpt, die Körper verschwollen oder sogar verletzt. Die Straßenräuber mußten ihnen übel mitgespielt haben. Kaum einer unter ihnen hatte den Mut zu singen.
»Arme Menschen!« murmelte Cathérine. »Uns hätte es eigentlich ebenso ergehen müssen!«
»Gott sei's gelobt, daß es uns nicht so erging«, flüsterte Josse mit einer Befriedigung, die allerdings nur von kurzer Dauer war. Denn plötzlich wurde es dramatisch. Kaum hatten die Pilger die Porta Santa Maria erreicht, als die Soldaten sie umringten und sich ihrer bemächtigten.
»Beim Blut Christi!« fluchte Josse. »Sie … sie werden arretiert!«
»Don Martin will ihnen einige Fragen stellen«, entgegnete Hans mit besorgter Stimme. »Er möchte sich ihrer versichern … zunächst einmal!«
»Das ist unwürdig!« rief Cathérine aus. »Was können diese armen Leute ihm schon mitteilen? Sie brauchen Pflege, keine Polizeihunde!«
»Man wird sie zum Beispiel fragen, ob die Straßenräuber von Oca sich ihren Kameraden wiedergeholt haben. Und wo sie ihren Schlupfwinkel haben. Fragt sich noch, wovor diese Unglücklichen mehr Angst haben: vor der Rache der Straßenräuber oder vor Don Martin!«
Cathérine antwortete nicht. Zur Stadt gewandt, verfolgte sie ängstlich den Verlauf des Dramas. Denn obgleich die Mehrzahl der Pilger sich widerstandslos abführen ließ, wehrten sich doch einige gegen die Männer des Alkalden, allen voran natürlich Gerbert Bohat. Man hörte ihn schreien:
»Verrat! Wehren wir uns, meine Brüder. Gott will es!«
Und er stürzte sich selbst mutig ins Getümmel, trat mit seinem lächerlichen Pilgerstab den Degen und Lanzen der Soldaten entgegen. Unfähig weiterzufahren, sahen Cathérine und Josse fasziniert zu, die Augen vor Entsetzen geweitet. Auf der Brücke rann das Blut in langen dunklen Bächen, die unter der bereits hoch am Himmel stehenden Sonne glitzerten. Der Brutalität der Kastilianer war freier Lauf gelassen, und in einiger Entfernung stand mit verschränkten Armen Don Martin und beobachtete den Vorgang, während er sich mit der Zunge genießerisch über die Lippen fuhr.
Es dauerte nicht lange, denn der Kampf war zu ungleich. Bald waren alle Pilger überwunden. Cathérine vernahm außer sich den Todesschrei Gerberts, dessen Brust von einer Lanze durchbohrt wurde. Ein kurzer Befehl hallte wider, und der unglückliche Clermonteser wurde in den Fluß geworfen, dessen gelbe Flut, durch die letzten Regenfälle angeschwollen, ihn zuerst langsam, dann immer schneller davontrug. Die anderen Pilger wurden in die Stadt getrieben, und das Fallgatter rasselte wieder herunter …
Zornig rüttelte Cathérine Hans auf, der wie vom Schlag gerührt dasaß.
»Schnell, fahren wir! Die Straße ist frei … Und wir können ihn vielleicht herausziehen.«
»Wen?« fragte Hans, ihr einen bedrückten Blick zuwerfend.
»Ihn natürlich … Gerbert Bohat, den diese Elenden ins Wasser geworfen haben. Vielleicht ist er gar nicht tot …«
Gehorsam setzte Hans den Karren in Marsch. Der Weg nach Las Huelgas folgte glücklicherweise dem Lauf des Arlanzón. Josse hatte seinen Platz hinten im Karren verlassen und sich zu den anderen beiden nach vorn gesetzt. Auch er machte ein bedrücktes Gesicht und blickte wie betäubt vor sich hin.
Er stammelte: »Pilger! Fahrende Ritter Gottes, die nur um Asyl baten, wie es ihr gutes Recht ist …«
»Ich sagte Euch doch, daß die Menschen hier Wilde sind!« warf Hans mit plötzlicher Heftigkeit ein. »Und Don Martin ist der Schlimmste von allen! Ich glaubte, Ihr würdet nach der Sache mit dem Käfig nicht mehr daran zweifeln, aber offenbar mußte erst Blut vergossen werden, um Euch zu überzeugen! ich wünsche sehnlichst, meine Arbeit hier bald zu beenden, dann werde ich mit Freuden in mein Vaterland am Ufer des Rheins zurückkehren … Ein großer Strom, ein echter Strom! Majestätisch, grandios! Nicht zu vergleichen mit diesem dreckigen kleinen Fluß hier!«
Schweigend ließ Cathérine ihn seine Wut austoben. Die gespannten Nerven des Bildhauers hatten es nötig … Forschend betrachtete sie das gelbe Wasser, suchte die Leiche Gerberts. Plötzlich sah sie sie, eine lange schwarze Gestalt, preisgegeben der Gewalt der schmutzigen Wellen. Sie richtete sich auf, wies mit dem Arm.
»Da! Da ist er! Haltet an!«
»Er ist tot!« sagte Hans. »Weshalb anhalten!«
»Weil er vielleicht nicht ganz tot ist. Und selbst, wenn er's ist, hat er das Recht auf ein christliches Begräbnis.«
Hans hob die Schultern:
»Das dreckige Wasser taugt soviel wie die Erde in diesem verkommenen Land! Halten wir an, wenn Ihr darauf besteht.«
Er lenkte das Fuhrwerk neben den tief ausgefahrenen Weg. Schnell sprang Cathérine ab. Josse auf den Fersen, lief sie zum Arlanzón hinunter und blieb an einer Flußbiegung stehen, auf die die Leiche zutrieb. Ohne Zögern ging Josse ins Wasser, packte Gerbert und zog ihn ans Ufer. Von Cathérine unterstützt, hob er ihn aus dem Wasser und legte ihn auf die Kiesel der Uferböschung. Die Augen des Clermontesers waren geschlossen, die Nase wirkte spitz, und seine Lippen waren weiß und zusammengepreßt, aber er atmete noch schwach. In der Brust hatte er eine tiefe Wunde, die aber nicht mehr blutete. Josse schüttelte den Kopf.
»Es dauert nicht mehr lange mit ihm! Wir können nichts mehr tun, Dame Cathérine. Er hat zuviel Blut verloren!«
Ohne zu antworten, setzte sie sich auf die Erde und legte Gerberts Kopf mit unendlicher Sanftheit auf ihre Knie. Auch Hans war hinzugetreten und reichte ihr eine Art Kürbisflasche aus Ziegenhaut, die er sich vor Verlassen des Hauses an den Gürtel gehängt hatte. Es war Wein darin. Cathérine benetzte die entfärbten Lippen des Sterbenden.
Gerbert durchfuhr ein Schauer, er schlug die Augen auf und sah die junge Frau überrascht an. »Cathérine!« stammelte er. »Ihr seid … gestorben, Ihr auch … da ich Euch wiedersehe … Ich habe soviel an Euch gedacht!«
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