»Nein. Ich lebe, und Ihr lebt auch! Sprecht jetzt nicht!«
»Es muß so sein! Ihr habt recht … Ich fühle es an meinen Schmerzen, ich lebe noch, aber nur noch kurze Zeit! Ich … möchte einen Priester haben, um nicht … mit meinen Sünden scheiden zu müssen!«
Er machte eine klägliche Anstrengung, sich aufzurichten, klammerte sich an Catherines Arm. Leise kniete Josse sich hinter ihn und richtete ihn vorsichtig auf. Er sah die drei ihm zugeneigten Gesichter und seufzte:
»Von euch ist keiner Priester, nicht wahr?«
Cathérine machte ein verneinendes Zeichen und hielt mit Mühe die Tränen zurück. Gerbert versuchte zu lächeln.
»Also … werdet ihr mich eben anhören! Cathérine … ihr drei! Ich habe Euch davongejagt, habe Euch verdammt, ohne uns Euren Weg fortzusetzen … weil ich glaubte, Euch zu hassen, wie ich alle Frauen haßte. Aber ich habe begriffen, daß Ihr … daß Ihr unvergleichlich seid! Der Gedanke an Euch … hat mich nicht mehr verlassen … und der ganze Weg wurde mir zur Hölle! … Trinken! … Noch ein wenig Wein! … Er stärkt mich.«
Cathérine ließ ihn trinken, vorsichtig und sanft. Er hatte einen Schwächeanfall, kam aber wieder zu sich und schlug die Augen auf: »Ich werde sterben … und das ist gut so! Ich war nicht würdig … mich dem Grab des Apostels zu nähern, weil … ich meine Frau getötet habe, Cathérine! … Ich habe sie aus Eifersucht getötet … weil sie einen anderen liebte! Ich hätte am liebsten alle Frauen getötet …«
Er schwieg, legte sich zurück, und Cathérine glaubte wieder, er hauche seine Seele aus. Doch nach einem Augenblick schlug er die Lider auf, die der Tod schon zeichnete. Seine Stimme wurde schwächer, seine Rede stockte. Er rang nach Luft.
»Verzeiht! … Ihr müßt … verzeihen! Ich habe Böses getan! … Oh, so Böses! … Alysia! … Ich liebte sie! Damals konnte ich noch lieben!«
Die letzten Worte wurden unverständlich. Der schwache Lebensfunke, den der Wein in dem ausgezehrten Körper wieder angefacht hatte, verlosch schnell. Gerbert wurde noch blasser, und sein Gesicht schien zu schrumpfen, sich zusammenzuziehen.
»Es geht zu Ende!« murmelte Josse.
Und so war es. Die fahlen Lippen bewegten sich, ohne daß sich ihnen ein Ton entrang. Cathérine fühlte, wie sich ihr der erschöpfte Körper im letzten Krampf der Agonie entgegenbog. Dann schien der Mund ein einziges Wort zu formen.
»Gott! …«
Das Wort war nur noch ein Hauch, und dieser Hauch war der letzte. Die Augen hatten sich geschlossen und öffneten sich nicht wieder. Sanft ließ Cathérine den Körper zurückgleiten, trocknete sich die Tränen und blickte Hans an. Er war wie versteinert.
»Wo kann man ihn begraben?«
»Die Mönche des Hospitals des Königs werden sich darum kümmern. Wir werden ihn auch auf den Wagen legen.«
Gemeinsam trugen Josse und Hans den leblosen Körper und wickelten ihn, so gut es ging, in seinen zerrissenen Pilgermantel. Sie legten ihn auf die Steine, unter denen Gauthier verborgen war. Dieser, immer noch in seine Wagendecke gehüllt und von Stroh umgeben, hatte sich nicht gerührt. Er schlief tief, durch die Dosis des ihm von Hans mit dem Wein eingeflößten Schlafmittels betäubt. Hans knallte mit der Peitsche.
»Glücklicherweise ist es nicht mehr weit«, sagte er mit heiserer Stimme, die als einziges seine Bewegung ausdrückte.
Tatsächlich vergingen nur ein paar Minuten, bis die weißen Mauern und der viereckige Turm eines mächtigen Zisterziensernonnenklosters auftauchte, dessen Umfassungswall nur von zwei Toren unterbrochen wurde.
»Las Huelgas!« brummte Hans. »Das vornehmste Nonnenkloster Spaniens. König Alfons VIII. und Königin Eleanor von England haben es vor langer Zeit für die Töchter des Hochadels und als Grabstätte ihrer Geschlechter gegründet. Aber es heißt, diese hohe Bestimmung sei heute einigermaßen in Vergessenheit geraten.«
Tatsächlich drang zur großen Überraschung Catherines ein Strom von Musik aus den rein romanischen Fenstern des Klosters. Es waren die Klänge von Violen, Flöten und Harfen, die nichts Religiöses an sich hatten. Von diesen Instrumenten begleitet, sang eine jugendliche Frauenstimme ein Liebeslied, von Zeit zu Zeit vernahm man auch Gelächter. Der tiefblaue Himmel und die Pracht der Sonne verliehen diesem seltsamen Kloster eine Note ausgelassener Heiterkeit.
»Was soll das bedeuten?« fragte Cathérine verblüfft.
»Daß die Nonnen von Las Huelgas in Wirklichkeit auf Grund ihrer Schönheit und ihrer Liebeskünste ausgewählt werden und nicht nach ihrer vornehmen Herkunft oder ihrer Frömmigkeit«, erwiderte Hans spöttisch. »König Johann, ein Künstler, der die Musik über alles liebt, und der Konnetabel, der die Damen über alles liebt, halten sich häufig … und in sehr angenehmer Gesellschaft im Kloster auf. Aber da werden wir unseren Toten und unsere Steine nicht abladen, sondern bei den alten Mönchen des Hospitals des Königs, das übrigens sehr schlecht zu dieser parfümierten Nachbarschaft paßt.«
Das alte Hospiz stand etwas entfernt und war wesentlich weniger schick als das schöne Kloster. Seine Mauern zerbröckelten und drohten an mehr als einer Stelle zur Ruine zu verfallen. Die Pilger von Compostela stiegen hier nicht ab, zogen vielmehr das Hospiz von Santo Lesmes mitten in Burgos vor. Allmählich versank das Hospital des Königs in Vergessenheit. »Die Ausbesserungen, die ich hier machen muß, sind mehr als dringend!« bemerkte Hans. »Aber wir sind da!«
Er hatte mit seinem Gespann den Turmvorbau durchfahren, durch den man in den Innenhof gelangte, und schon kam ihnen der alte Bruder Torhüter entgegen, ein Willkommenslächeln im ausgemergelten Gesicht.
»Meister Hans!« rief er. »Euch schickt wahrhaftig der Herr, denn die Glocke unserer Kapelle droht uns bei jedem Messeamt auf den Kopf zu fallen! Es war höchste Zeit, daß Ihr kamt. Ich werde den Ehrwürdigen Abt benachrichtigen.«
Während er über den mit Gras überwucherten Hof trippelte, glitt Cathérine langsam von ihrem Sitz.
Als sie und Josse eine Stunde darauf das Hospital des Königs wieder verließen, war ihre Stimmung trotz der gelungenen Flucht auf dem Tiefstand. Gerberts Tod lag der jungen Frau noch schwer auf der Seele. Sie machte sich Vorwürfe, als wäre sie an diesem Tod schuld gewesen. Außerdem beunruhigte sie der Zustand Gauthiers außerordentlich …
Vor kurzem, als nach einem schnellen Getuschel zwischen Hans und dem Vater Abt die lange, in rauhes Linnen gewickelte Gestalt vom Wagen heruntergenommen worden war, hatte sich nämlich etwas Befremdendes und Schreckliches ereignet. Der Normanne war aus seiner Betäubung erwacht, als man ihn auf eine Bank gelegt hatte. Aber er hatte die übrigens verdrehten Augen nur aufgeschlagen, um eine merkwürdige Krise durchzumachen. Sein Körper war steif geworden, und seine Kinnlade hatte sich so verkrampft, daß die Zähne knirschten. Dann war der Riese plötzlich von der Bank gerollt und hatte sich mit heftigen Kopf- und Körperzuckungen auf dem Boden gewälzt. Danach war er in tiefe Betäubung gefallen, während ihm weißer Schaum auf die Lippen trat. Entsetzt war Cathérine bis zur Wand zurückgewichen und hatte sich so fest an sie gedrückt, als hoffte sie, mit ihr zu verschmelzen. Hans und Josse hatten sich nicht gerührt: Mit gerunzelten Stirnen sahen sie zu. Dafür hatte der Abt sich mehrere Male bekreuzigt, war eilends davongelaufen und fast sofort mit einem vollen Eimer Weihwasser wiedergekommen, den er über den Verwundeten ausgoß. In seinen Fußstapfen trottete ein Mönchlein mit einem riesigen Weihrauchfaß, dem ein dicker, erstickender Qualm entströmte.
Hans hatte keine Zeit gehabt, das Vorhaben des Abtes vorauszusehen und den unglücklichen Gauthier vor der kalten Dusche zu bewahren. Aber er bemühte sich sofort, den Zorn des heiligen Mannes zu besänftigen, dessen wütende Miene keinen Zweifel an seinem Verlangen zuließ, daß der vom Teufel besessene Unbekannte alsbald aus seinem heiligen Hospiz gebracht wurde. Hans hatte Cathérine einen besorgten Blick zugeworfen.
»Ihr müßt jetzt gehen. Man wird Euch einen zweirädrigen Planwagen geben, um ihn fortzuschaffen. Der Abt glaubt, er sei vom Teufel besessen … und ich kann nicht mehr viel für Euch tun!«
»Ist er wirklich … besessen?« fragte Cathérine bestürzt.
Es war Josse, der sie unerwarteterweise aufklärte.
»Die alten Römer nannten diese Krankheit die heilige Krankheit. Sie behaupten, daß ein Gott den Menschen in seinem Krampf bewohne. Aber ich habe einmal einen maurischen Arzt gekannt, der versicherte, es handle sich nur um eine Krankheit, deren Sitz im Kopf sei.«
»Ihr habt einen maurischen Arzt gekannt?« fragte Hans erstaunt. »Wo denn?«
Josses verkniffenes braunes Gesicht rötete sich jäh.
»Oh«, meinte er unbekümmert, »ich bin viel herumgekommen!«
Weiter ließ er sich nicht darüber aus, und Cathérine wußte, warum. In einem mitteilsamen Augenblick hatte Josse ihr einmal anvertraut, daß er in einer Pechsträhne einst zwei Jahre auf einer Berbergaleere hatte rudern müssen. Daher kamen seine unerwarteten Kenntnisse.
»Ein maurischer Arzt?« fragte Hans nachdenklich.
Während sie Gauthier, der allmählich ruhiger geworden war, wieder in sein Linnen wickelten und zum Karren trugen, den ein Bruder in den Hof geführt hatte, erzählte er seinen beiden Freunden, was er in Burgos über den sonderbaren Erzbischof von Sevilla, Alonso de Fonseca, gehört hatte. Prunkliebend, habgierig, leidenschaftlicher Sammler von Edelsteinen und begeisterter Alchimist, unterhielt der Erzbischof in seiner Feste Coca einen bizarren Hof, an dem Astrologen und Alchimisten weit zahlreicher vertreten waren als Mönche. Das große Wunder an diesem Hof war nach allem, was man vernahm, ein maurischer Arzt mit reichem Wissen und außerordentlichen Fähigkeiten.
»Wenn die Vertrauten des Konnetabels Alvaro de Luna nicht in der Nähe sind, flüstern sich die Leute von Burgos gerne zu, dieser Arzt könne Wunder vollbringen. Warum sucht Ihr ihn nicht auf? Wenn Ihr nach Toledo fahrt und dabei in Coca Station macht, würde das kein Umweg sein.«
»Welchen Grund sollte der Herr Erzbischof haben, uns zu empfangen?« fragte Cathérine skeptisch.
»Drei Gründe: seine Gastfreundschaft, die sprichwörtlich ist; das Interesse, das er an allen fremden Dingen nimmt, die sich unter seinem Dach abspielen; und endlich … habe ich Euch nicht schon gesagt, daß er leidenschaftlicher Sammler von Edelsteinen ist?«
Diesmal hatte Cathérine verstanden. Wenn sie kein anderes Mittel hatte, sich der Dienste des Magiers von Coca zu versichern, würde der Smaragd der Königin Yolande ihr bestimmt die Pforten zu der Festung öffnen.
Ihr Entschluß war schnell gefaßt. Um Gauthier zu retten, war sie bereit, noch weit andere Opfer zu bringen als einen Umweg auf ihrer Route und den Verlust eines Juwels, so teuer es ihrem Herzen auch war. Sie hatte Hans für seine uneigennützige Hilfe mit einer Wärme gedankt, die den Deutschen tief erröten ließ. Als ihre Lippen die schlechtrasierte Wange Hans' berührten, hatte sie gesehen, wie seine hellen Augen sich mit Tränen füllten.
»Vielleicht sehen wir uns eines Tages wieder, Dame Cathérine?«
»Wenn Ihr Eure Arbeit hier beendet habt und ich Montsalvy wiedersehe, kommt Ihr zu uns, um bei uns Wunder zu vollbringen.«
»Das schwöre ich!«
Ein letztes Händeschütteln zwischen den beiden Männern, ein letztes Lebewohlzeichen, und das Fuhrwerk hatte sich rumpelnd auf den Weg nach Süden gemacht. Hinten war Gauthier bequem im Stroh untergebracht. Josse hatte die Zügel ergriffen und trieb die beiden Pferde an. Wenig an ein Geschirr gewöhnt, nahmen diese jeden Augenblick seine ganze Aufmerksamkeit und Kraft in Anspruch. Cathérine jedoch hatte nichts anderes zu tun, als die Landschaft zu betrachten.
Trotz der Sonne, die jetzt am blauen Himmel strahlte, war der unfruchtbare, wilde, baumlose Landstrich von einer bedrückenden Traurigkeit, der sich der immer ferner klingende Ton der Totenglocke, die die Mönche des Hospizes für den verstorbenen Pilger läuteten, zugesellte.
Catherines Gedanken verweilten bei diesem Gerbert, dem fremden und verbrecherischen, der in seinem Stolz und seinem Schmerz wie in einem doppelten ehernen Panzer eingeschlossen gewesen war. Sie hatte begriffen, daß sich seine Seele in Not unter seinem erbarmungslosen Äußeren verbarg, und bedauerte, nicht versucht zu haben, ihn besser zu verstehen. Mit etwas Freundlichkeit wäre es ihr vielleicht gelungen, sein verschlossenes Herz wenigstens halb zu öffnen … Vielleicht wären sie sogar Freunde geworden …
Trotzdem sagte ihr eine innere Stimme, sie versuche, sich in einer falschen Hoffnung zu wiegen. Bei einem Mann wie Gerbert waren nur zwei Gefühle möglich: Liebe oder Haß. Was sie betraf, so hatte er den Haß aus Furcht vor der Liebe gewählt, und jetzt hatte der versöhnende Tod diese leidende Seele für immer beruhigt. Vielleicht war es nach allem besser, statt sich zu grämen, Gott für seine Gnade zu danken …
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