»Was wird man nun mit ihm machen?«

Zur großen Überraschung Catherines ergriff der Arzt selbst das Wort, um sie in einem beinahe fehlerlosen Französisch aufzuklären.

»Mit Hilfe dieses Meißels«, sagte er, auf eine Art Drehbohrer zeigend, dessen Ende pfeilförmig war, »werde ich die Hirnschale um die Einbuchtung herum herausschneiden, und zwar derart, daß ich den verletzten Teil wie eine kleine Kappe abheben kann. So werde ich die Schäden sehen, die möglicherweise dem Gehirn zugefügt wurden, und die vielleicht beschädigten Knochen wieder einrichten können. Wenn das nicht gelingt, müssen wir ihn der Gnade des Allmächtigen empfehlen … Aber auf jeden Fall wird Blut fließen, und das ist kein Anblick für die Augen einer Frau. Es wäre besser, wenn du dich zurückzögest«, schloß er mit einem schnellen Blick auf die junge Frau. Diese richtete sich auf und ballte die Hände.

»Und wenn ich es vorziehe hierzubleiben?«

»Dann riskierst du, ohnmächtig zu werden … und meine Aufgabe wäre darüber hinaus noch schwieriger. Mir ist es lieber, du gehst«, sagte er sanft, aber fest.

»Dieser Mann ist mein Freund, und er wird furchtbare Qualen unter deinem Messer leiden. Ich könnte ihm helfen …«

»Leiden? Glaubst du? … Sieh doch, wie fest er schläft!«

Tatsächlich schlief Gauthier in seinen Fesseln wie ein Kind, ohne auch nur den kleinen Finger zu bewegen.

»Aber er wird unter dem Messer aufwachen!«

»Seinem Schlaf machen weder das Messer noch die Flamme etwas aus. Er schläft nicht nur, weil ich ihm eine Arznei gegeben habe, sondern weil ich ihm befohlen habe zu schlafen. Und er wird erst erwachen, wenn ich ihm den Befehl dazu gebe.«

Cathérine spürte, wie sich ihre Haare sträubten. Sie warf dem Mauren einen entsetzten Blick zu und bekreuzigte sich mehrere Male, so daß der Arzt lachen mußte.

»Nein, nein, ich bin nicht der Dämon, vor dem die Christen sich so fürchten. Ich habe nur in Buchara und Samarkand studiert. Dort verstehen es die Magier, eine aus dem menschlichen Willen geborene und durch das Licht verbreitete Kraft zu benützen, die sie Hypnotismus nennen, aber dies ist eine Sache, die sich schwer erklären läßt, besonders einer Frau. Jetzt werde ich beginnen … Geh!« Während er noch sprach, schnallte er den Kopf des Verwundeten mit einem Lederriemen in der gewünschten Stellung fest, ergriff ein blitzendes Skalpell und machte schnell einen kreisrunden Einschnitt in die Haut. Das Blut tropfte, rann, und Cathérine erblaßte. Sanft führte Don Alonso sie zur Tür.

»Geht jetzt in die Gemächer, die für Euch vorbereitet sind, meine Tochter. Tomas wird Euch hingeleiten. Ihr werdet den Kranken wiedersehen, wenn Hamza seine Operation beendet hat.«

Plötzliche Müdigkeit hatte Cathérine überwältigt. Ihr Kopf war schwer. Im Treppenhaus des Schloßturms angekommen, folgte sie unwillkürlich der schmalen Gestalt des Pagen, der plötzlich wiederaufgetaucht war. Tomas ging vor ihr her, ohne das geringste Geräusch zu machen, ohne ein Wort zu reden. Sie hatte den Eindruck, ein Phantom zu begleiten. Vor einer niedrigen Tür aus bemaltem und geschnitztem Zypressenholz angelangt, stieß er den Türflügel auf, trat beiseite und sagte nur:

»Hier!«

Sie trat nicht sofort ein, blieb vor dem jungen Mann stehen.

»Kommt wieder, um mich zu benachrichtigen, wenn … wenn alles vorüber ist«, bat sie mit einem Lächeln. Aber der Blick des jungen Mannes blieb eisig.

»Nein«, sagte er hart, »ich werde nicht wieder zu dem Mauren hinaufsteigen. Das ist die Höhle des Teufels, und seine Arzneikunst ist Gotteslästerung. Die Kirche verbietet Blutvergießen!«

»Aber Euer Herr ist nicht dagegen.«

»Mein Herr?« Die Lippen des jungen Torquemada zogen sich zu einem unbeschreiblichen Ausdruck der Verachtung herunter. »Ich habe keinen anderen Herrn als Gott. Bald werde ich Ihm dienen können, Dank sei Ihm gesagt! Ich werde diese Wohnung des Satans vergessen.«

Gereizt durch den feierlichen Ton und fanatischen Dünkel, die bei einem so jungen Mann ziemlich lächerlich wirkten, wollte Cathérine ihn schon an die Achtung erinnern, die er Don Alonso schuldete, als ihr Blick plötzlich abschweifte und auf einer Gestalt in der Galerie haftenblieb, die langsam näher kam: ein schwarzgekleideter Mönch. Er war sehr groß. Der Knotenstrick seiner Kutte umspannte einen knochigen Körper, und sein graues Haar war kurz geschoren und ließ eine große Tonsur frei. Auf den ersten Blick hatte dieser Mönch nichts Außergewöhnliches an sich; wenn er nicht eine schwarze Binde über einem Auge getragen hätte. Er war ein Mönch wie alle anderen, aber als er jetzt langsam auf sie zu kam, spürte Cathérine, wie ihr das Blut in den Adern gerann, während in ihrem Kopf die Gedanken wild durcheinanderwirbelten. Ein Angstschrei entrang sich ihren Lippen, und sie stürzte unter den verblüfften Augen des jungen Tomas in ihr Gemach, schlug die Tür hinter sich zu und lehnte sich mit ihrem ganzen Gewicht daran, während ihre zitternde Hand an den Hals fuhr und den Kragen aufzureißen versuchte, der sie zu erwürgen drohte. Unter der Tonsur und der schwarzen Augenbinde des Mönches hatte sie, aus dem Schatten der Galerie auftauchend und auf sie zu kommend, das Gesicht Garins de Brazey erkannt – – –

Lange glaubte Cathérine, den Verstand verloren zu haben. Alles verschwand: die Jahreszeit, die Stunde, der Ort. Nichts existierte mehr als das verwirrende Bild, das vor ihr aufgetaucht war, dieses vergessene Gesicht, seit vielen Jahren verschwunden und so jäh wieder erschienen.

Mit kraftlosen Beinen hatte sie sich zu Boden gleiten lassen, hatte sich an die Tür gelehnt und den Kopf in beide Hände genommen, als wollte sie den Sturm, der in ihrem Innern tobte, besänftigen. Die grausamen Bilder von einst stiegen wieder aus der dunklen Tiefe der Vergangenheit auf, bitter wie eine Woge von Galle. Sie sah Garin im Gefängnis, angekettet, an den Füßen gefesselt. Sie hörte wieder, wie er sie flehentlich um das Gift bat, das ihm die Schande ersparen würde, verhöhnt zu werden. Auch die Stimme Abu al-Khayrs hörte sie murmeln, während er ihm den todbringenden Wein reichte: »Er wird einschlafen … und nicht mehr erwachen.«

Dann sah sie sich selbst wieder, am nächsten Tag, die Nase ans Fenster gedrückt, nach draußen in einen grauen, regnerischen Morgen blickend. Die Bilder stellten sich jetzt sehr schnell und genau ein, wie mit der Feder gestochen: die wütende Menschenmenge, der an die Leiter gespannte schwere Ackergaul, die Pfützen grauen Wassers und die athletische rote Gestalt des Henkersknechts, der auf seinen Armen den Leib eines reglosen Mannes trug … »Er ist bestimmt tot«, hatte Sara gesagt. Und wie konnte man auch nur einen Augenblick daran zweifeln? Cathérine glaubte, noch jetzt auf den roten Fliesen dieses fremden Zimmers den großen weißen Hampelmann vor sich zu sehen, in eine Starre gebannt, die nicht täuschen konnte. Es war bestimmt die Leiche Garins gewesen, die damals, auf die Leiter gebunden, holpernd und stoßend über das grobe Pflaster geschleift worden war. Und nun der andere … der soeben in der Galerie vor ihr aufgetaucht war, der mit dem Gesicht Garins, mit der schwarzen Binde Garins? Konnte es sein, daß der Finanzminister von Burgund nicht tot, daß er durch ein unwahrscheinliches Wunder seinem Schicksal entgangen war? Aber nein, das war nicht möglich! Selbst wenn Abu al-Khayr statt eines Gifts nur eine kräftige Arznei verabreicht hätte, hatte der Leichnam des Verurteilten dennoch am Galgen gehangen. Tot oder lebendig, Garin war gehängt worden. Sara, Ermengarde, ganz Dijon hatten ihn gesehen, nackt und schauerlich am Galgen hängend … Alle hatten ihn gesehen … außer Cathérine. Und so groß war ihre Verwirrung, daß sie an sich selbst, am Zeugnis ihrer Sinne, zu zweifeln begann. War es wirklich der Leib Garins gewesen, den sie auf der Leiter gesehen hatte? Sie war an jenem Tage so verstört gewesen. Konnten ihre verweinten Augen sie nicht getäuscht haben? Andererseits, warum sollten ihre Freunde, ihre Umgebung gelogen haben, wenn sie etwas Verdächtiges bemerkt hätten? War die Sinnestäuschung denn so vollkommen gewesen, daß eine ganze Stadt sich von ihr hatte einfangen lassen?

Und plötzlich schoß ihr ein schrecklicher Gedanke durch den Kopf. Wenn Garin noch lebte, wenn er es wirklich war, den sie eben in dieser Mönchskutte bemerkt hatte, dann war ihre Heirat mit Arnaud null und nichtig, dann war sie eine Bigamistin, und Michel, ihr kleiner Michel, war nur ein Bastard!

Mit all ihren Kräften wies sie diesen scheußlichen Gedanken, der in ihr aufgestiegen war, zurück. Sie wollte es nicht, es durfte nicht sein! Gott und das Schicksal konnten ihr das nicht antun! Von Garin hatte sie nur Leid und Verzweiflung erfahren. Er hatte ihr ein prächtiges, aber würdeloses Leben ermöglicht, ein Leben, wie sie es um nichts in der Welt wieder führen wollte. »Ich werde noch verrückt!« sagte sie laut. Und dann zerriß der drohende Schleier des Wahnsinns. Und alsbald stellte sich brutal die Reaktion ein. Cathérine straffte sich. Sie wollte fliehen, dieses Schloß sofort verlassen, in dem solche Schatten geisterten, den sengenden Weg der Sonne wiederfinden, der zu Arnaud führte. Ob er nun lebte oder tot war, ob Mensch oder Phantom, sie würde ihr Leben nicht durch Garin zerrütten lassen. Er war tot, und tot sollte er bleiben. Und um nicht das Risiko einzugehen, erkannt zu werden, mußte sie fliehen. Sie wandte sich zur Tür, wollte sie öffnen …

»Dama«, sagte eine leise Stimme hinter ihr.

Sie fuhr herum. In der Tiefe des Gemachs, neben einem von Säulen umrahmten Fenster, knieten zwei junge Dienerinnen vor einer großen offenen Truhe aus bemaltem und vergoldetem Leder. Sie entnahmen ihr schimmernde Seidengewänder und breiteten sie über die roten Fliesen des Bodens. In ihrer Panik hatte Cathérine sie nicht einmal gesehen. Sie rieb sich, wieder in die Wirklichkeit versetzt, die Augen. Nein … es war nicht möglich zu fliehen. Da war ja Gauthier, ihr Freund Gauthier, den sie nicht im Stich lassen konnte. Ein Schluchzen entrang sich ihr. Mußte sie denn immer die Gefangene ihres Herzens bleiben, Gefangene der Bande, die es mit dem einen oder anderen ihrer Umgebung verknüpften?

Verlegen, weil sie sich bei einem Schwächeanfall, in völliger Verwirrung hatte überraschen lassen, antwortete sie mechanisch auf das schüchterne Lächeln der kleinen Dienerinnen, die ihr um die Wette Gold- und Silberbrokatstoffe, schimmernde Seide oder weichen Samt, drei Roben einer verstorbenen Schwester des Erzbischofs anboten. Die beiden jungen Mädchen traten näher, ergriffen ihre Hände und zogen sie zu einer Fußbank, bedeuteten ihr, sich zu setzen, und begannen sie ohne lange Umschweife zu entkleiden. Cathérine ließ es ohne Widerrede geschehen, ihre Gedanken wanderten und fanden mühelos zurück zu den alten Gewohnheiten von einst, als sie sich noch lange Minuten der ehrerbietigen Fürsorglichkeit der von Sara geleiteten Mägde überlassen hatte.

Die Erinnerung an ihre alte Freundin machte Cathérine mit einem Schlage deutlich, wie einsam sie war. Was hätte sie darum gegeben, Sara an diesem Abend bei sich zu haben! Wie hätte die Zigeunerin wohl auf dieses verwirrende Zusammentreffen reagiert? fragte sich die junge Frau. Und die Antwort kam bald, unverzüglich und klar. Sara hätte sich dem Phantom ohne jede Umschweife an die Fersen geheftet, hätte es verfolgt und sein Schweigen durchbrochen. Sie hätte ihm die Wahrheit entrissen.

»Auch ich werd's tun«, sagte Cathérine mit nachdenklicher Stimme. »Ich muß es wissen.«

Es war sonnenklar. Es würde weder Rast noch Ruhe geben, wenn sie nicht bis zum Kern des Geheimnisses durchdränge. Vorhin hatte der Mönch, ganz in seine Lektüre versunken, sie nicht bemerkt. Er mußte sie sehen, ganz deutlich, im vollen Licht. Seine Reaktion würde sie aufklären. Und danach …

Cathérine verbot sich, an das zu denken, was danach käme. Aber sie wußte im voraus, daß sie von neuem zum Kampf bereit war. Nichts, niemand, nicht einmal ein Gespenst aus dem Reich des Todes würde sie von Arnaud abbringen. Garin mußte tot sein, unbedingt tot, damit ihre Liebe leben konnte. Außerdem würde er, wenn er wirklich dem Tode entkommen war, zweifellos nicht wieder in sein einstiges Leben zurückkehren wollen; weshalb denn sonst das geistliche Kleid, weshalb dieses im Innern einer Festung des alten Kastiliens vergrabene Leben? Der Mann war Mönch, Gott hingegeben, Gott so eng verbunden, wie sie ihrem Gatten verbunden war. Und Gott ließ seine Beute niemals frei. Aber sie wollte trotzdem Gewißheit …

Die frischere Nachtluft, die durch das offene Fenster hereindrang, ließ sie frösteln. Die beiden Dienerinnen hatten sie gewaschen, ohne daß es ihr bewußt geworden war, und rieben jetzt ihre Haut mit ätherischen Ölen und seltenen Essenzen ein. Mit dem Finger deutete sie aufs Geratewohl auf eins der reichen Gewänder, die um sie herumlagen. Eine Woge sonnengelber Seide rauschte über ihren Kopf und rieselte in unzähligen schweren Falten an ihr nieder, doch ihr war zu bang im Herzen, als daß sie für die zarte Liebkosung des Stoffes empfänglich gewesen wäre. Einst hatte sie prächtige Gewänder und wundervolle Stoffe geliebt, aber das war schon lange her. Wozu war ein schmeichelndes Gewand gut, wenn es nicht für den Blick des geliebten Mannes bestimmt war?