Der Normanne erholte sich schnell von der Operation, die Hamza an ihm vorgenommen hatte. Seine außergewöhnliche Konstitution in Verbindung mit der peinlichsten Sauberkeit, mit der sein Arzt ihn umgab, dazu die ausgezeichnete Verpflegung, die im Schloß verabfolgt wurde, hatten ihn alle Gefahren überstehen lassen, die solche Eingriffe so oft tödlich ausgehen ließen. Leider jedoch schien der Riese das Gedächtnis verloren zu haben.
Gewiß hatte er die Klarsicht wiedergefunden, das völlige Erkennen dessen, was um ihn vorging, und sein Bewußtsein war wiederhergestellt. Aber an all das, was vor der Minute, in der er die Augen im Turmgemach aufgeschlagen hatte, vor sich gegangen war, hatte er keinerlei Erinnerung. Nicht einmal an seinen Namen konnte er sich erinnern, und über diesen Tatbestand geriet Cathérine in Verzweiflung. Als der maurische Arzt ihr mitgeteilt hatte, Gauthier habe das Bewußtsein wiedererlangt, war sie sofort zu ihm geeilt, doch als sie sich über das Bett gebeugt hatte, war sie von grausamem Schmerz heimgesucht worden. Der Riese hatte sie mit bewundernden Augen angeblickt, als sei sie eine Erscheinung, aber nichts hatte angedeutet, daß er sie wiedererkannte. Darauf hatte sie zu ihm gesprochen, hatte ihren Namen genannt, hatte wiederholt, daß sie Cathérine sei, die er doch wiedererkennen müsse … doch Gauthier hatte nur den Kopf geschüttelt.
»Verzeiht mir, Dame«, hatte er gemurmelt. »Gewiß, Ihr seid schön wie das Licht … aber ich weiß nicht, wer Ihr seid. Ich weiß nicht einmal, wer ich bin«, hatte er traurig hinzugefügt. »Du heißt Gauthier Malencontre. Du bist mein Diener und mein Freund … Hast du denn alles von früher vergessen, alle unsere Mühseligkeiten, Montsalvy … Michel? Sara … und Messire Arnaud?«
Beim Namen ihres Gatten erstickte ein Schluchzen ihre Stimme, aber in dem dumpfen Blick des Riesen blitzte kein Licht auf. Wieder hatte er den Kopf geschüttelt.
»Nein … ich erinnere mich an nichts.«
Da war sie zu Hamza zurückgegangen, der, die Arme unter seinem weißen Gewand verschränkt, schweigend die Szene aus einer Ecke des Gemachs beobachtete. Ihr schmerzvoller Blick hatte gefleht, als sie murmelte:
»Ist denn … gar nichts zu machen?«
Er hatte sie unauffällig näher gewinkt und nach draußen gezogen.
»Nein, ich kann nichts mehr tun. Nur die Natur hat die Kraft, ihm das Gedächtnis wiederzugeben.«
»Wie aber?«
»Durch einen seelischen Schock vielleicht. Ich gestehe, daß ich ihn durch dein Erscheinen bei ihm erhoffte, aber ich habe mich getäuscht.«
»Dennoch war er mir immer sehr zugetan … Ich kann sogar sagen, daß er mich liebte, ohne je zu wagen, es mir zu zeigen.«
»Nun, dann versuche, diese Liebe wiederzuerwecken. Es kann sein, daß sich das Wunder dann einstellt. Aber es kann ebensogut sein, daß es nie kommt. Du wirst sein Gedächtnis sein und ihm seine ganze Vergangenheit wieder beibringen müssen.« Diese Worte wiederholte sich Cathérine, als sie das schmale, nur von einer Kerze erhellte Gemach betrat. Gauthier saß auf der Fensterbrüstung und sah in die Nacht hinaus. Mit seinen langen, unterzogenen Beinen, in eine gestreifte arabische Gandoura, eine Art ärmelloses Wollhemd gekleidet, das durch eine Schärpe in der Taille zusammengehalten wurde, schien er größer als je. Als Cathérine eintrat, wandte er den Kopf, bot dem Licht sein von Leid gezeichnetes Gesicht, in dem die grauen Augen jedoch ihren klaren Blick wiedergewonnen hatten. Trotz ihrer Magerkeit war die Gestalt des Normannen immer noch eindrucksvoll. Früher hatte Cathérine ihm oft lachend gesagt, er sehe wie eine Belagerungsmaschine aus. Davon war noch etwas geblieben, aber die Krankheit hatte das derbe Gesicht mit den plumpen Zügen mit einer Art Vornehmheit gezeichnet, die ihm ein rührend jugendliches Aussehen verlieh. Auch die blaß und mager gewordenen Hände wirkten veredelt. Jetzt, da er nicht mehr ständig lag, schien das Zimmer viel zu klein für ihn.
Er wollte aufstehen, als die junge Frau näher trat, aber sie hinderte ihn daran, legte ihm schnell die Hand auf die knochige Schulter.
»Nein … rühr dich nicht! Du hast dich noch nicht hingelegt?«
»Ich habe keine Lust zu schlafen. Ich ersticke in diesem Zimmer. Es ist so klein.«
»Du wirst nicht mehr lange hierbleiben. Wenn du kräftig genug bist, um zu reiten, brechen wir auf …«
»Wir? Nehmt Ihr mich denn mit?«
»Du hast mich stets begleitet«, entgegnete Cathérine traurig. »Das schien dir ganz natürlich … Möchtest du denn nicht mehr mit mir kommen?«
Er antwortete nicht sogleich, und Catherines Herz zog sich schmerzhaft zusammen. Wenn er sich nun weigern sollte? Wenn er sich ein anderes Los suchen wollte? Sie war nicht mehr für ihn als eine hübsche Frau, da seine Erinnerung gestorben war. Und noch nie, niemals hatte sie ihn so nötig gehabt, seine Kraft, diesen unerschütterlichen Hort, der er immer für sie gewesen war. Hatte sie ihn denn wiedergefunden, einem schrecklichen Tod entrissen, nur um ihn desto sicherer zu verlieren? Sie spürte, wie ihr die Tränen in den Augen brannten.
»Du antwortest nicht?« murmelte sie heiser.
»Ich weiß es eben nicht. Ihr seid so schön, daß ich Euch gern folgen würde … wie einem Stern. Aber wenn ich meine Vergangenheit wiederfinden will, ist es vielleicht besser, wenn ich allein reite. Etwas in meinem Innern sagt mir, ich müsse allein sein, wie ich es immer gewesen bin …«
»Aber nein, das stimmt ja gar nicht! Während dreier Jahre bist du mir fast nie von der Seite gewichen. Wir haben zusammen gelitten, zusammen gekämpft, unser Leben zusammen verteidigt, du hast mich viele Male gerettet! Was werde ich denn tun, wenn du mich verläßt?«
Sie ließ sich, niedergedrückt durch diesen neuen Schmerz, auf das Fußende des Bettes fallen. Das Gesicht in die zitternden Hände vergraben, murmelte sie:
»Ich flehe dich an, Gauthier, verlaß mich nicht! Ohne dich bin ich verloren … verloren!«
Bittere Tränen quollen zwischen ihren Fingern hervor. Sie fühlte sich furchtbar einsam, von allen verlassen. Da war der Mönch, das Schreckgespenst, das die Mauern dies Schlosses heimsuchte; da war das Heimweh nach ihrem Land und nach ihrem Kind; da war ganz besonders die rasende Eifersucht, die sie jedesmal peinigte, wenn sie an ihren Gatten dachte. Und daß Gauthier sich von ihr abwandte, weil er seine Vergangenheit vergessen hatte, war mehr, als sie vertragen konnte … Sie hörte ihn stammeln: »Weint nicht, Dame. Wenn es Euch soviel Schmerz bereitet, werde ich mit Euch gehen …«
Sie richtete sich mit tränenüberströmtem Gesicht und empört blitzenden Augen auf.
»Das sieht nach Mitleid, nach Resignation aus, aber einst hast du mich geliebt! Du hast nur für mich und durch mich gelebt … Wenn dein Gedächtnis dich im Stich läßt, müßte dein Herz mich wenigstens erkennen!«
Er neigte sich zu ihr nieder, betrachtete prüfend das süße, tränenfeuchte, flehentlich zu ihm emporgehobene Gesicht.
»Ich möchte mich so gern erinnern«, sagte er traurig. »Es kann nicht schwer sein, Euch zu lieben. Ihr seid so schön! Man glaubt, Ihr seid aus Licht geschaffen. Eure Augen sind süßer als die Nacht …«
Mit schüchterner Hand hatte er die junge Frau unter dem Kinn berührt und es gehoben, um die Augen besser sehen zu können, in denen die Tränen schimmerten. Das gespannte Gesicht des Normannen war dem ihren jetzt ganz nahe, und Cathérine konnte einen plötzlichen Impuls nicht unterdrücken. Es schien ihr, als hörte sie noch die Stimme Hamzas murmeln: »Versuch, diese Liebe wiederzuerwecken …« Leise sagte sie:
»Küsse mich!«
Sie sah, daß er zögerte. Sie hob sich ihm entgegen, suchte seine Lippen und drückte die ihren auf sie, während sie die Arme um seinen kräftigen Nacken schlang und sich an ihn schmiegte. Sein geschlossener Mund reagierte nicht sofort auf ihre Liebkosung, als zögerte er an der Schwelle der Lust. Und dann, ganz plötzlich, spürte Cathérine, daß er zum Leben erwachte, gierig und brutal, während seine Arme sich um sie schlossen. Umschlungen rollten sie aufs Bett.
Unter seinem wilden Kuß spürte Cathérine, wie in ihrem zu lange sittsamen Körper das Begehren stürmisch erwachte. Sie hatte für Gauthier schon immer tiefe Zärtlichkeit empfunden, und in dem Augenblick, in dem sie ihm ihre Lippen dargeboten hatte, dachte sie nur daran, den Schock hervorzurufen, der ihm das Gedächtnis zurückgeben könnte. Nun jedoch erwachte ihr eigenes Verlangen im Einklang mit dem, das sie in dem an sie gepreßten Körper emporschießen fühlte … Blitzschnell durchfuhr sie der Gedanke an ihren Gatten, aber sie verdrängte ihn zornig. Nein, nicht einmal die Erinnerung an ihn würde sie hindern, sich ihrem Freund hinzugeben! Hatte seine Liebe ihn etwa gehindert, seine Küsse und Liebkosungen an eine andere zu verschenken? Die Rache schmeckte süß, sie verzehnfachte noch die Köstlichkeit der kommenden Wonnen. Aber sie spürte, wie Gauthiers Hände nervös an der umständlichen Verschnürung ihres Gewandes zerrten. Sanft schob sie ihn zurück.
»Warte! Nicht so hastig!«
Mit einer geschmeidigen Bewegung ihrer Hüften richtete sie sich auf und erhob sich. Das schwache Kerzenlicht schien ihr ungenügend. Sie wollte sich ihm nicht heimlich, im Dunkel hingeben. Sie wollte viel Licht auf ihrem Gesicht, auf ihrem Körper, wenn er sie besäße …
Die Kerze ergreifend, zündete sie die beiden auf der Truhe an der Wand stehenden Kandelaber an. Auf dem Bett sitzend, sah er ihr verständnislos zu.
»Warum das alles? Komm …«, bat er, ihr die Hände ungeduldig entgegenstreckend, bereit, von ihr Besitz zu nehmen. Aber mit einem Blick hielt sie ihn zurück:
»Warte, sag' ich …«
Sie entfernte sich ein paar Schritte. Dann nahm sie ein Messer vom Tisch, schnitt mit einem Streich die Verschnürung ihrer Robe durch, streifte sie hastig ab und ließ den weißseidenen Unterrock und das feine Hemd zu Boden gleiten. Sein trunkener, gieriger Blick verfolgte jede ihrer Bewegungen, glitt über ihren Körper, der sich vor ihm entblößte. Cathérine fühlte ihn auf ihren Brüsten, auf ihrem Leib, ihren Schenkeln und erfreute sich daran wie an einer Liebkosung. Als die letzte Hülle gefallen war, rekelte sie sich wie eine Katze im warmen Licht der Kerzen, dann glitt sie aufs Bett, streckte sich aus und öffnete endlich die Arme:
»Jetzt komm!«
Da warf er sich auf sie …
»Cathérine! …«
Er hatte ihren Namen gerufen, es war wie ein Schrei auf dem Höhepunkt der Euphorie, und keuchend betrachtete er jetzt mit verstörten Augen das süße Gesicht, das er zwischen den Händen hielt. »Cathérine«, wiederholte er. »Dame Cathérine! Träume ich noch?«
Eine Woge der Freude überspülte die junge Frau. Hamza hatte recht gehabt. Die Liebe war wieder erwacht, hatte ein Wunder bewirkt … Der Mann, den sie in den Armen hielt, war kein Fremder mehr, kein Leib, dessen Seele entflohen war. Er war wieder er selbst geworden … und sie fühlte sich so beglückt wie seit langem nicht. Als er versuchte, sich von ihr zu lösen, hielt sie ihn in ihren Armen zurück und drückte ihn an sich.
»Bleib! … Ja, ich bin's … Du träumst nicht, aber verlaß mich nicht! Ich werde es dir später erklären. Bleib, liebe mich … Heute nacht gehöre ich dir.«
Der Mund, der sich ihm bot, war zu süß, zu zärtlich der Leib, den Gauthier umschlang. Es war auch ein zu alter Traum, zu lange und zu grausam verbannt, diese angebetete Frau endlich zu besitzen. Er hatte das Gefühl, einen Traum zu erleben, aber die warme Haut, der berauschende Duft dieses Fleischs waren erschütternde Wirklichkeit. Er gab sich ihr mit Leidenschaft hin, erfrischte sich an ihr wie an einem starken Wein mit der Gier eines Menschen, der viele Tage lang Durst gelitten hat. Und Cathérine, glücklich, selig, überließ sich mit animalischer Freude diesem Liebessturm.
Gegen Mitternacht jedoch schien es ihr, als ob sich etwas Seltsames ereignete. Sie glaubte, die Tür der Kammer knarren zu hören. Sie richtete sich auf, horchte einen Augenblick und machte Gauthier ein Zeichen, sich still zu verhalten. Die Kerzen waren fast heruntergebrannt, gaben jedoch noch Licht genug, um erkennen zu lassen, daß die Tür sich nicht bewegte. Sonst war kein Geräusch zu hören … Da dachte Cathérine, sie sei das Opfer einer Täuschung gewesen, vergaß die Tür und wandte sich wieder ihrem Geliebten zu …
Der Morgen dämmerte beinah, als Gauthier endlich einschlief. Er sank in schweren, tiefen Schlaf und erfüllte den Turm mit einem sonoren Schnarchen, das Cathérine zum Lächeln brachte. Das waren die wahren Siegesfanfaren! Einen Augenblick betrachtete sie den Schlafenden; friedlich, gelöst, mit weichen, halbgeöffneten Lippen lag er da. Sein mächtiger, quer über dem zerwühlten Bett ruhender Leib hatte etwas Kindliches. Sie empfand tiefe Zärtlichkeit für ihn. Die Liebe, die er ihr geschenkt hatte, war, wie sie wußte, selten. Gauthier liebte sie um ihrer selbst willen, ohne etwas für sich zu beanspruchen, und diese Liebe erwärmte wieder ihr erstarrtes Herz.
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