»Setzt Euch hierher, meine Kleine, und unterhalten wir uns! Wie lange ist es her, seit Ihr mich verlassen habt, um die Stadt Orleans im Sturm zu nehmen?«
»Fünf Jahre«, sagte Cathérine. »Schon fünf Jahre! Wie schnell die Zeit vergeht!«
»Fünf Jahre«, entgegnete Ermengarde, »versuche ich schon vergeblich herauszufinden, was aus einer gewissen Dame de Brazey geworden ist. Das letztemal, als ich Nachricht von Euch hatte, wart Ihr in Loches, Edeldame bei Königin Yolande. Schämt Ihr Euch gar nicht?«
»Doch«, gab Cathérine zu, »aber die Tage sind verronnen, ohne daß ich es merkte. Und dann, liebe Ermengarde, müßt Ihr Euch abgewöhnen, mich Brazey zu nennen. Das ist nicht mehr mein Name …«
»Welcher dann?«
»Der allerschönste: Montsalvy!« erwiderte die junge Frau mit so viel Stolz, daß die alte Gräfin sich eines Lächelns nicht erwehren konnte.
»Ihr habt also gewonnen? Irgendwie habt Ihr mich schon immer in Erstaunen versetzt, Cathérine! Welche alchimistischen Kunststückchen habt Ihr angewandt, um eine Verbindung mit dem unzugänglichen Messire Arnaud zustande zu bringen?« Das beim Namen ihres Gatten sich zeigende Lächeln Catherines verschwand, und eine schmerzliche Falte grub sich um ihren zarten Mund.
Sie wandte die Augen ab.
»Das ist eine lange Geschichte …«, murmelte sie. »Eine grausame Geschichte …«
Die Dame de Châteauvillain verharrte einen Augenblick in Schweigen. Sie betrachtete ihre Freundin, bewegt von deren Schmerz, den Cathérine zum erstenmal hatte sehen lassen und dessen Tiefe sie instinktiv erfaßte. Sie wußte nicht, wie sie die Zwiesprache weiterführen sollte, da sie fürchtete, Cathérine zu verletzen. Nach einem Augenblick sagte sie mit bei ihr ungewohnter Zartheit:
»Ruft eine meiner Frauen. Sie wird Euch helfen, Eure durchnäßten Kleider auszuziehen, wird sie trocknen lassen und Euch andere besorgen … ein wenig zu große, aber warme. Man wird uns das Souper aufs Zimmer bringen, und Ihr erzählt mir alles. Ihr scheint erschöpft …«
»Das bin ich wahrhaftig!« gab Cathérine mit einem schwachen Lächeln zu. »Aber vorher muß ich mich noch um eine meiner Gefährtinnen kümmern, diejenige, die so dringend ein Zimmer brauchte.«
»Ich werde Anweisung geben …«
»Nein«, unterbrach Cathérine. »Ich muß selbst gehen. Aber ich bin gleich wieder zurück.«
Sie trat im selben Augenblick in den Gang hinaus, in dem man Gillette in das benachbarte Zimmer brachte, das von den beiden Kammerfrauen Ermengardes frei gemacht worden war. Die Frau, die Cathérine versprochen hatte, auf die Kranke aufzupassen, war auch da … Sie lächelte die junge Frau an.
»Es heißt, Ihr habt eine alte Freundin in diesem Haus wiedergetroffen«, sagte sie. »Wenn Ihr wollt, werde ich mich heute nacht um unsere Gefährtin kümmern. Sie ist weder anspruchsvoll noch aufsässig.«
»Das möchte ich nicht«, sagte Cathérine. »Auch Ihr braucht Ruhe!«
Die andere lachte.
»Ach, ich bin kräftiger, als es den Anschein hat! Ich kann überall schlafen, auf Steinen, im Regen, ja sogar im Stehen!«
Cathérine betrachtete sie interessiert. Es war eine junge Frau in den Dreißigern, klein, braun und schmal, aber ihre von Wind und Sonne gebräunte Haut strömte Gesundheit aus, ein Eindruck, der noch durch die festen weißen Zähne betont wurde. Sie war ärmlich, aber anständig angezogen. Und was ihr Gesicht betraf, so verliehen die leichte Stubsnase und der große, lebhafte Mund ihm eine Art Lustigkeit, die der jungen Frau gefiel.
»Wie heißt Ihr?« fragte sie freundlich.
»Margot! Aber man nennt mich Margot la Déroule … Ich … ich bin nicht sehr achtbar!« fügte sie mit einer bescheidenen Offenheit hinzu, die Cathérine rührte.
»Ach was!« sagte sie. »Die Pilger sind alle Brüder und Schwestern. Ihr seid soviel wert wie jeder von uns … Aber vielen Dank für Eure Hilfe! Ich werde im benachbarten Zimmer sein. Ruft, wenn Ihr mich braucht.«
»Seid beruhigt«, versicherte Margot, »ich werde mir schon allein helfen können. Übrigens, die arme Gillette braucht vor allem eine gute Suppe und einen langen Schlaf … obgleich unser Chef daran denkt, sie sich vom Hals zu schaffen!«
»Was hat er zu ihr gesagt?«
»Daß er sie morgen nicht mit uns weiterziehen lassen werde, weil er keine Kranken bis nach Compostela mitschleppen wolle.«
Cathérine runzelte die Stirn. Dieser Gerbert schien entschlossen, allen seinen Willen aufzuzwingen, aber sie nahm sich schon vor, dies nicht zu dulden. »Das werden wir ja sehen!« sagte sie. »Morgen ist auch noch ein Tag. Und ich werde diese Frage mit ihm regeln. Wenn unsere Schwester nicht hierzubleiben wünscht, wird sie mit uns aufbrechen!«
Sie warf Margot noch ein letztes Lächeln zu, die sie bewundernd ansah, und trat wieder in Ermengardes Zimmer.
Es war schon spät in der Nacht, als Cathérine zu sprechen aufhörte, aber im romanischen Hof des Hospizes läutete noch immer die Glocke der Verlorenen, Catherines Erzählung gleichsam einen seltsamen Kontrapunkt gebend, der die tragische Seite ihres Berichts unterstrich. Diesen Bericht hatte Ermengarde sich von Anfang bis Ende wortlos angehört, doch als Cathérine schwieg, stieß die alte Dame einen Seufzer aus und schüttelte den Kopf.
»Wenn eine andere als Ihr mir diese Geschichte erzählte, würde ich nicht die Hälfte glauben«, sagte sie. »Aber es scheint, daß Ihr für ein außergewöhnliches Schicksal geschaffen und auf die Welt gekommen seid. Und ich halte Euch für fähig, die schlimmsten Abenteuer zu bestehen. Schließlich, Euch im Pilgermantel wiederzutreffen ist nicht nur eine einfache Anekdote! … Also, Ihr seid auf dem Weg nach Compostela? Wenn Ihr Euren Gatten dort aber nicht findet?«
»Dann werde ich weiterziehen. Bis ans Ende der Welt, wenn nötig, denn ich werde weder rasten noch ruhen, bis ich ihn gefunden habe.«
»Und wenn er keine Heilung erlangt hat und die Verwüstungen der Lepra deutlich zu sehen sind?«
»Dann werde ich trotzdem an seiner Seite bleiben. Wenn ich ihn erst einmal gefunden habe, wird nichts und niemand mich mehr von ihm trennen können! Ihr wißt ja, Ermengarde, daß er schon immer mein einziger Lebensinhalt war.«
»Ach, das weiß ich nur zu gut! Seitdem ich mit ansehe, wie Ihr Euch in die fürchterlichsten Sackgassen verrennt und in die blutigsten Mißgeschicke stürzt, frage ich mich, ob man dem Himmel wirklich danken soll, daß er Euch Arnaud über den Weg geführt hat.«
»Der Himmel konnte mir kein wundervolleres Geschenk machen!« rief Cathérine mit solcher Begeisterung, daß Ermengarde die Brauen hob und in lässigem Ton bemerkte:
»Wenn man bedenkt, daß ihr ein Reich regieren könntet! Wißt Ihr, daß Herzog Philippe Euch nie vergessen hat?«
Cathérine wechselte die Farbe und zog sich brüsk von ihrer Freundin zurück. Diese Erinnerung an vergangene Tage war ihr peinlich.
»Ermengarde«, sagte sie ruhig, »wenn ihr wollt, daß wir Freundinnen bleiben, dann sprecht mir nie mehr von Herzog Philippe! Diesen ganzen Abschnitt meines Lebens möchte ich vergessen.«
»Da müßt Ihr aber ein verflucht willfähriges Gedächtnis haben! Das dürfte nicht leicht sein!«
»Vielleicht! Aber …« Catherines Ton wurde plötzlich milder. Sie rückte wieder dicht neben Ermengarde, die immer noch auf ihrem Bett kauerte, und sagte freundlich:
»Erzählt mir lieber von den Meinen, von meiner Mutter und meinem Onkel Mathieu, von denen ich so lange keine Nachricht mehr habe! Wenn Ihr welche habt.«
»Natürlich habe ich«, brummte Ermengarde. »Beiden geht es gut, aber sie ertragen es weniger gut als Ihr, ohne Nachricht gelassen zu werden. Das letztemal, als ich nach Marsannay ging, traf ich sie recht gealtert an. Aber ihre Gesundheit ist gut.«
»Mein … Verschwinden hat ihnen hoffentlich keinen Ärger bereitet?« fragte Cathérine mit leiser Verlegenheit.
»Es wird langsam Zeit, daß Ihr Euch Gedanken darüber macht!« bemerkte die alte Dame mit einem Lächeln im Mundwinkel. »Nein, beruhigt Euch«, fügte sie eiligst hinzu, als sie sah, daß Catherines Gesicht sich verdüsterte, »es ist ihnen nichts Unangenehmes zugestoßen. Der Herzog ist trotz allem noch nicht so tief gesunken, um sie seine Liebesenttäuschungen büßen zu lassen. Ich würde sogar glauben … er hofft im Gegenteil, daß der Wunsch, sie wiederzusehen, Euch eines Tages in seine Dienste zurückführen wird. Folglich wird er nicht die Gemeinheit begehen, sie des Landes zu verweisen, nur um sie nicht mehr sehen zu müssen. Meiner Meinung nach wünscht er, Euch zu zeigen, was für eine großmütige Seele er besitzt! Auch das Vermögen Eures Onkels floriert ganz hübsch. Von dem der Châteauvillain würde ich nicht dasselbe sagen!«
»Was meint Ihr damit?«
»Daß auch ich eine Art Verbannte bin. Seht her, mein Herz, ich habe einen Sohn, der mir ähnelt. Er besitzt genügend englisches Blut, um sich in seiner französischen Haut nicht wohl zu fühlen. Also hat er die junge Isabelle de La Trémoille, die Schwester Eures Freundes, des Exgroßkämmerers, geheiratet.«
»Ich hoffe nur, daß sie ihm nicht gleicht!« rief Cathérine entsetzt.
»Durchaus nicht: Sie ist charmant! Mein Sohn hat dem Herzog von Bedford den Hosenbandorden zurückgeschickt und ist in offene Revolte gegen unseren teuren Herzog getreten. Ergebnis: Die herzoglichen Truppen belagern unser Schloß Grancey, und was mich betrifft, so habe ich mir gedacht, es wäre langsam an der Zeit, ein wenig auf Reisen zu gehen. Ich hätte eine abscheuliche Geisel abgegeben. Daher kommt es, daß Ihr mich auf den Landstraßen findet, auf dem Weg nach Compostela und zu meinem Seelenheil, über das ich mir ernstlich Gedanken mache. Aber ich segne diesen verfluchten Unfall, der mir ein Bein kaputtgemacht und mich hier aufgehalten hat. Ohne diesen Unfall wäre ich schon weit und hätte Euch nicht getroffen …«
»Leider«, seufzte Cathérine, »werden wir uns von neuem aus den Augen verlieren. Sicherlich wird Euer Bein Euch noch mehrere Tage hier festhalten, und ich muß morgen mit meinen Gefährten weiterziehen!«
Die natürliche, gesunde Gesichtsfarbe der Dame de Châteauvillain wurde dunkelrot.
»Glaubt das nur nicht, meine Schöne! Ich habe Euch wiedergefunden und werde Euch nicht verlassen. Ich ziehe mit Euch. Meine Leute werden mich auf einer Bahre tragen, wenn ich mich nicht auf dem Pferd halten kann, aber ich werde keine Minute länger als Ihr hierbleiben. Und wie wär's, wenn Ihr jetzt ein wenig schlafen würdet? Es ist spät, und Ihr müßt müde sein. Legt Euch neben mich, es ist Platz für zwei!«
Ohne sich weiter bitten zu lassen, legte Cathérine sich neben ihrer Freundin zur Ruhe. Der Gedanke, daß sie mit und neben Ermengarde aufbrechen würde, der Gedanke an deren gesunde, moralische Haltung erfüllte sie gleichzeitig mit Freude und Vertrauen in die Zukunft.
Die alte Dame war unzerstörbar. Schon einmal, nach dem Tode des kleinen Philippe, hatte Cathérine geglaubt, sie sei am Ende. Sie war gramgebeugt, war plötzlich gealtert. Ihre Seele hatte sich auf den Tod vorbereitet … und jetzt traf sie sie auf den großen Landstraßen wieder, vitaler und bissiger denn je! Gewiß würde der Weg mit Ermengarde leichter und viel angenehmer sein.
Das Feuer im Kamin brannte herunter. Die Gräfin hatte die Kerze ausgeblasen, und Schatten hatten das kleine Zimmer überflutet. Cathérine konnte nicht umhin zu lächeln, als sie daran dachte, was für ein Gesicht Gerbert Bohat machen würde, wenn er am Morgen die imposante Dame auf ihrer Trage sähe und erführe, daß er sie in Zukunft seinen Pilgern hinzuzählen mußte. Seine Reaktion wäre es zweifellos wert, gesehen zu werden.
»Woran denkt Ihr?« fragte Ermengardes Stimme plötzlich. »Ihr schlaft noch nicht, ich fühl's!«
»An Euch, Ermengarde, und an mich! Ich habe Glück gehabt, Euch am Anfang dieser langen Reise getroffen zu haben!«
»Glück? Ich habe Glück gehabt, meine Liebe! Seit Monaten, ach, was sage ich, seit Jahren langweile ich mich zu Tode! Dank Euch wird mein Leben, hoffe ich, etwas pittoresker und unterhaltsamer werden. Und verdammt noch mal, das habe ich auch nötig! Ich bin schon völlig verblödet, Gott verzeihe mir! Und ich fühle mich jetzt gesünder.«
Und wie zum Beweis dieser wunderbaren plötzlichen Genesung schlief Ermengarde unverzüglich ein und fing an, so herzhaft zu schnarchen, daß sie das melancholische Gebimmel der Glocke übertönte.
In der alten romanischen Kapelle des Hospizes sprachen die gedämpften Stimmen der Pilger dem Pater Abt die Worte des rituellen Gebetes der Reisigen nach.
»Gott, der du Abraham aus seinem Lande gehen ließest und ihn auf seinen Wanderungen heil und gesund erhalten hast, gewähre deinen Kindern denselben Schutz. Stehe uns bei in der Gefahr, und lindere unseren beschwerlichen Marsch. Sei uns Schatten gegen die Sonne, Mantel gegen Regen und Wind. Trage uns in unserer Müdigkeit, und verteidige uns in jeder Gefahr. Sei der Stab, der uns vor dem Fallen bewahrt, und der Hafen, der die Schiffbrüchigen aufnimmt …«
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