Wieder gehorchte sie, sah nach vorn durch den roten Spitzbogen auf das kahle, großartig sich entfaltende Plateau hinaus, doch an Gauthier vorbei hatte sie trotzdem für einen Moment die hohe schwarze Gestalt des Mönchs bemerkt, der, die Hände in den Ärmeln seiner Kutte verborgen, noch immer an der Stelle stand, wo sie ihn verlassen hatte. Streng, rätselhaft blickte er ihr nach … Und Cathérine ahnte, daß dieses Bild sich wie ein Dorn in ihr Herz, in ihr Fleisch bohren würde, an dem sich ihre Liebe unablässig wund reiben mußte – vorausgesetzt, daß es ihr gelänge, ihn wiederzufinden.
Lange und schweigend ritt sie dahin, überließ ihrem Pferd die Zügel. Josse hatte die Führung übernommen und folgte der Straße. Sie ritt mechanisch hinter ihm, ohne etwas von der Landschaft zu sehen, die bereits unter der gnadenlosen Sonne Kastiliens lag. Nach einem mühsamen Anstieg bot sich ihren Augen ein gigantisches Panorama von Ebenen und ockerroten Sierras, da und dort von elenden Dörfern durchsetzt, die, so gut es gehen wollte, dürftige Hanffelder unterhielten. Hin und wieder die gedrungenen Umrisse einer kleinen romanischen Kirche oder die hochmütigen Mauern eines Klosters, manchmal auch ein dürftiges Schloß, dessen Turm auf einem Felsen stand wie ein sehnsüchtiger, auf einem Bein träumender Reiher … Aber Cathérine sah von allem nichts. Sie sah nur vor ihrem inneren Auge die drohende Gestalt eines einäugigen Mönchs, dessen Schweigen sie vielleicht verurteilte. Zu Füßen der Jungfrau von Puy hatte sie gefleht, Gott möge ihr ihren Gatten wiedergeben … Hatte Gott so mit ihrem Herzen, mit ihrer Liebe gespielt? Konnte Gott so grausam sein, den, den sie für tot hielt, ihren Lebensweg wieder kreuzen zu lassen, während sie verzweifelt einen Lebenden wiederzufinden hoffte? Wo war jetzt die Pflicht? Gauthier sagte, sie müsse ihren Weg weitergehen, koste es, was es wolle, ohne zurückzublicken … Aber Gauthier kannte Gott nicht. Und wer konnte wissen, was Gott von ihr, Cathérine, forderte?
Die Bilder Fray Ignacios und Garins standen sich in ihrem Geist jetzt gegenüber. Alles, was sie über ihren ersten Gatten im Gedächtnis bewahrt hatte, kreiste nun um die strenge Gestalt des Mönchs. Garin am Hochzeitsabend, Garin mit haßverzerrtem Gesicht im Schloßturm von Malain, Garin schließlich im Kerker, im Stock, die Augenhöhle offen sichtbar. Trotz der sengenden Sonne glaubte Cathérine, wieder die Feuchtigkeit der finsteren Zelle auf den Schultern zu spüren und den schimmligen Modergeruch zu riechen. Sie sah, jawohl, sie sah, wie Garin ihr sein verletztes Gesicht zuwandte, als sie in die Zelle getreten war. Und plötzlich fuhr sie auf.
»Mein Gott!« murmelte sie. »Das stimmt ja … Warum habe ich denn nicht früher daran gedacht …«
Mitten auf dem einsamen Saumpfad hielt sie ihr Pferd an und blickte von einen ihrer Begleiter zum anderen, die ebenfalls angehalten hatten. Und ganz plötzlich, aus heiterem Himmel sozusagen, brach sie in Lachen aus. In helles, freudig-junges Lachen … ein befreiendes Lachen, das aus tiefstem Herzen kam, die Kehle löste, ihr Tränen in die Augen trieb, ein verrücktes Lachen, das nicht enden wollte und Cathérine zwang, sich auf den Hals ihres Pferdes hinunterzubeugen … Mein Gott, wie komisch das war! … Wie konnte sie nur ein solches Hornvieh gewesen sein, das sie das nicht sofort bemerkt, sich derart darüber aufgeregt hatte? … Nein, das war wirklich die komischste und drolligste Sache, die ihr je vorgekommen war … Sie lachte, sie lachte, bis sie außer Atem war … Und natürlich hörte sie Josse besorgt ausrufen:
»Sie … sie ist übergeschnappt!«
Und der große Pinsel von Gauthier entgegnete im ernstesten Ton der Welt:
»Vielleicht ist es die Sonne! Sie ist sie nicht gewohnt.«
Doch als sie ihr vom Pferd helfen und sie in den Schatten führen wollten, hörte sie ebenso jäh mit Lachen auf, wie sie begonnen hatte. Sie war puterrot vor Lachen, und ihr Gesicht war mit Tränen bedeckt, aber sie warf dem Normannen einen klaren, frohen Blick zu:
»Soeben ist's mir eingefallen, Gauthier! Fray Ignacio fehlt das rechte Auge! … Und mein verstorbener Gatte, der Finanzminister von Burgund, verlor sein linkes Auge in der Schlacht von Nicopolis! Ich bin immer noch frei, verstehst du, frei, mein Recht von der Ungläubigen zurückzufordern!«
»Wollt Ihr Euch nicht ein wenig ausruhen?« wagte Josse vorzuschlagen, der nichts verstanden hatte. Sie überschüttete ihn mit einem neuen Lachanfall.
»Ausruhen? Ihr seid wohl verrückt geworden! Im Gegenteil, im Galopp weiter! Nach Granada! Nach Granada – so schnell wie möglich! Und nun zu uns beiden, Arnaud de Montsalvy!«
Zweiter Teil
Alhambra
9
Vierzehn Tage später schritten drei Bettler staubbedeckt und in Lumpen gehüllt durch den Hufeisenbogen Bab el-Adrar, die Pforte des Gebirges, inmitten einer dem Markt zuströmenden Menge. Niemand beachtete sie, denn es gab viele Bettler in Granada. Der größte von ihnen, ein wahrer Riese, ging voraus, gab aber keinen Ton von sich. Zweifellos ein Stummer. Dann kam die Frau, doch mit Ausnahme ihrer schmutzigen Füße in den ausgetretenen Pantoffeln sah man unter ihrem schwarzen, abgetragenen Kattun nichts von ihr als dunkle, herrliche Augen. Der dritte, der blind sein mußte, nach seinem zögernden Schritt und der Art zu schließen, wie er sich an die anderen beiden klammerte, war ein schwarzbrauner Trottel, der im Vorübergehen das Mitleid der Passanten zu erregen suchte, indem er mit jammernder Stimme einige Verse des Korans vor sich hin leierte. Auf jeden Fall hätte niemand in dieser jämmerlichen Gruppe die drei munteren, vor vierzehn Tagen aus Coca aufgebrochenen Reiter erkannt … Josse war auf diesen Gedanken gekommen.
»Wenn man uns als Christen erkennt, sind wir verloren!« hatte er zu den beiden anderen gesagt. »Unsere Köpfe werden bald die Mauern von Granada zieren, und unsere Leichen werden den Hunden in den Straßengräben zum Fraß vorgeworfen. Die einzige Möglichkeit, unerkannt durchzukommen, ist als Bettler verkleidet.«
Bei dieser Verwandlung hatte sich der ehemalige Landstreicher als wahrer Künstler erwiesen. Der Hof der Wunder, dem er so lange zur Zierde gereicht hatte, war dafür die beste Schule gewesen. Er konnte ausgezeichnet die Augen verdrehen, bis nur noch das Weiße zu sehen war, und spielte den Blinden bis zur Vollkommenheit.
»Blinde genießen eine gewisse Rücksicht in den Ländern des Islams«, hatte er erklärt. »Man wird uns in Ruhe lassen.«
Was Cathérine betraf, so hatte sie, nachdem sie die Grenze des Königreichs Granada überschritten hatte, nicht genug Augen, um alles zu sehen. Sie hatte inzwischen vergessen, wie schwierig der letzte Teil ihrer Reise gewesen war. Gauthier, Josse und sie hatten aus Toledo fliehen müssen, wo die Pest ausgebrochen war und die Juden wieder einmal die Kosten des Volkszorns zu tragen hatten. Man machte auf sie Jagd, verbrannte öffentlich ihre heiligen Bücher; man nahm ihnen ihr Hab und Gut, und wenn sich Gelegenheit zur Privatrache bot, ermordete man sie unter dem geringsten Vorwand. Die uralte westgotische Stadt, so alt, daß man Adam zu ihrem ersten König ernannte, watete in Blut, so daß Cathérine und die Ihren sich schaudernd davongemacht hatten.
Aber sie kamen vom Regen in die Traufe. Nach nutzlosen Geplänkeln an den Grenzen Granadas zog das Heer des Konnetabels von Kastilien, Alvaro de Luna, wieder gen Valladolid, und das durchquerte Land hatte für die schlechte Laune infolge eines ruhmlosen und verlustreichen Feldzugs hart zu büßen. Auf ihrem Durchzug brandschatzten und plünderten die Soldaten Lunas wie in einem eroberten Land. Das Volk der Sierra, das so arm war, daß es mitunter von dem seltenen, den ausgedörrten Ebenen abgerungenen Gras lebte, stob beim Herannahen der Soldateska in alle Winde auseinander wie Spatzen vor dem Sperber. Die drei Franzosen hatten es ihnen nachgetan. In der Nähe von Jaén hatten einige Späher der Vorhut sie festgenommen, doch dank der Riesenkräfte Gauthiers und der Schlauheit und Geschicklichkeit Josses waren sie entwischt, glücklich, sich nur unter Zurücklassen ihrer Pferde aus dem Staube machen zu können. Übrigens war, wie Josse bemerkte, die maurische Grenze nicht mehr weit, und auf jeden Fall hätte man auf die Pferde verzichten müssen, denn Bettler waren selten beritten. »Aber man hätte sie verkaufen können!« hatte Gauthier als guter Normanne eingewandt.
»An wen? Es gibt in diesem schönen Land keine Menschenseele, die genug Geld hätte, auch nur ein Eselchen zu kaufen! Die Erde ist zwar reich, aber Jahr um Jahr streitet man sich in dieser Ecke, so daß nicht einmal mehr Gras wächst. Entweder machen die Sarazenen Überfälle nach Norden, oder die Kastilier kommen herunter, in der Hoffnung, die Reconquista zu vollenden … aber für das Volk nach Jaén und Umgebung bleibt immer dasselbe Ergebnis: verbrannte Erde.«
Mutig hatten die drei Gefährten sich zu Fuß auf den Weg gemacht, auf den kaum begangenen Pfaden der Gebirgskette bei Nacht marschierend, sich tagsüber verbergend und sich nach den Sternen richtend, die für den Pariser Landstreicher wie für den Waldriesen der Normandie anscheinend keine Geheimnisse bargen. Die letzte Strecke ihrer Wanderung war hart und erschöpfend gewesen, aber Cathérine hielt tapfer durch. Dieses unbekannte, beim Einbruch der Nacht so blaue Firmament, diese Sterne, größer und funkelnder, als sie sie bislang gesehen hatte, all dies sagte ihr, daß sie sich endlich dem fremden, faszinierenden und gefährlichen Ort näherte, wo Arnaud lebte.
Der Weg, den sie entlangzogen, sprach von Krieg, Leid und Tod. Manchmal stolperten sie in der Dunkelheit über eine unter einem Dornstrauch verwesende Leiche, oder während einer Rastpause bei Tag klang der unheilkündende Schrei der Aasgeier am blauen Himmel. Die großen schwarzen Vögel kreisten gewichtig umher, um sich dann plötzlich wie ein Stein auf irgendeinen Punkt in der Landschaft herunterfallen zu lassen. Als Cathérine jedoch von der Höhe der ausgetrockneten Sierra in der von der Sonne eines wundervollen südlichen Tages bereits übergossenen Morgendämmerung die Pracht Granadas erblickte, war sie vor Bewunderung stehengeblieben. In seinen Gebirgsschrein gebettet wie in das Herz einer riesigen Muschel, deren Perlmuttglanz das Meer widerspiegelte, lag es als Juwel am Rande eines grüngoldenen Tales, das die schneebedeckten Gipfel einer Sierra umschlossen.
Zahllose Quellen entsprangen den Bergen, vereinigten sich zu klaren Sturzbächen und erfrischten dieses wunderbare Land, das in den Himmel zu wachsen schien, und als Opfergeschenk errichtet, erhob sich auf einem kantigen Vorgebirge aus roten Felsen der rötlichste, schillerndste aller maurischen Paläste. Eine hohe Mauer, bestückt mit viereckigen Türmen, umschloß liebevoll ein verlockendes Durcheinander von Blumen, Bäumen und Lusthäusern. Stellenweise erriet man das Glitzern von Springbrunnen, den Wasserspiegel der Becken. Und selbst die rauhen Ziegelsteine der Festungswälle, die nicht gerade besondere Schönheit ausstrahlten, schienen die Harmonie und dieses glückliche Tal, in dem sich Reichtum und Überfülle wie ein erstaunlicher Seidenteppich ausbreiteten, nicht stören zu können.
Um den bezaubernden Palast herum stieg die Stadt stufenweise die Hügel hinan. Schlanke weiße oder rote Minarette ragten neben den grünen oder goldenen Kuppeln der Moscheen in die blaue Luft. Paläste erhoben sich über den Häusern, aber höher als sie alle ragte das imposante Gebäude der islamischen Universität, im Wettstreit mit dem gewichtigen Bau des großen Hospitals, dem Maristan, ohne Zweifel dem zu dieser Stunde am besten ausgestatteten Krankenhaus Europas.
Es war die Stunde des Sonnenaufgangs, die Stunde, in der von jedem dieser Minarette die durchdringenden Stimmen der Muezzins erklangen und die Gläubigen zum Gebet riefen.
Der Gebirgspfad bildete an dieser Stelle eine Art Plattform, von der aus man einen Rundblick über das gesamte herrliche Land hatte. Cathérine setzte sich auf einen Felsbrocken ganz am Rand des Vorsprungs, und die beiden anderen, die ihre innere Bewegung errieten, traten beiseite, um sie mit ihren Gedanken allein zu lassen, und machten in einiger Entfernung an einer Wegbiegung Rast.
Cathérine konnte die Augen nicht von dem zu ihren Füßen ausgebreiteten fabelhaften Land wenden. Da unten lag das lang ersehnte Ziel ihrer irrsinnigen Reise, die sie gegen jede Vernunft angetreten hatte, und sie war zu Tränen gerührt, daß es so schön war. War dies nicht das Land der Träume und der Liebe? Und konnte man hier anders leben als in Freude und Glück?
Sie hatte sich abgemüht, hatte gelitten, gezagt, Tränen und Blut vergossen, aber sie war angekommen! Angekommen! Schluß mit den endlosen Wegen, mit Horizonten, die sich immer weiter ausgedehnt, sich immer abgelöst hatten. Ein Ende mit den nagenden Zweifeln der Nächte, in denen sie schlaflos gelegen und sich gefragt hatte, ob sie diesen Ort jemals erreichen würde, den sie manchmal in Minuten des Kleinmuts gar nicht für wirklich, sondern für eine fixe Idee gehalten hatte. Vor ihr war Granada, zu ihren Füßen liegend wie ein zärtliches Tier, und ihre Freude war so groß, daß sie einen Augenblick die Gefahren vergaß, die ihr vielleicht noch drohten. Arnaud war jetzt nur noch ein paar Schritte von ihr entfernt, und sein Wohnsitz mußte dieser fabelhafte, so wohl bewachte Palast sein.
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