»Sie ist zu schön!« sagte sie sich immer wieder. »Sie ist zu schön!« Diesen kleinen grausamen Satz, der sie folterte, wiederholte sie wie ein lästiges Leitmotiv. Sie murmelte ihn immer noch, als am Rande eines kleinen Sturzbachs, dessen rauschende Wasser hinter seinen Mauern hervorsprudelten, das Haus des Arztes Abu unter den grünen Kronen der Palmen, die aus seiner Mitte herauszuwachsen schienen, vor ihr auftauchte. »Wir sind da!« sagte Gauthier. »Hier ist unser Reiseziel.«
Doch Cathérine schüttelte den Kopf, als sie auf der anderen Seite des Bachs das Felsengebirge sah, auf dem stolz, hoch über ihnen, der rote Palast thronte. Das Ziel stand dort oben … und sie hatte weder Kraft noch Mut mehr, es zu erstürmen.
Als sich jedoch die hübsche Pforte mit ihren verzierten, nägelbeschlagenen Flügeln vor ihr öffnete, war die Zeit plötzlich aufgehoben. Cathérine war auf einmal zehn Jahre jünger, denn sie erkannte den großen, weißgekleideten und beturbanten Schwarzen wieder, der auf der Schwelle stand. Es war einer der beiden Stummen Abu al-Khayrs!
Der Sklave runzelte die Stirn, betrachtete die drei Bettler mit mißbilligendem Blick und wollte die Tür wieder schließen, aber Gauthiers Fuß, schnell dazwischengeschoben, hinderte ihn daran, während Josse ihn anherrschte:
»Geh und sage deinem Herrn, daß einer seiner ältesten Freunde ihn zu sprechen wünsche. Ein Freund aus dem Land der Christen …«
»Er kann nicht sprechen«, unterbrach Cathérine. »Der Mann ist stumm!«
Sie hatte französisch gesprochen, und der Schwarze sah sie mit Erstaunen und Neugier an. In den großen kugelrunden Augen sah sie etwas aufblitzen, und flink ließ sie ihren schwarzen Schleier sinken.
»Sieh!« sagte sie, auf arabisch diesmal. »Erinnerst du dich an mich?« Als Antwort ließ der Sklave sich mit einem rauhen Laut auf die Knie fallen, ergriff den Saum des zerlumpten Kleides und drückte ihn an die Lippen. Dann sprang er auf und eilte in den Innengarten, den man hinter einer Art viereckiger, mit großen Ziegelsteinfliesen ausgelegten Halle sehen konnte, die sich zwischen schlanken Säulen auf einen mit Blumenbeeten und drei fabelhaften Palmen bepflanzten Hof öffnete. In einem großen Springbrunnenbecken aus durchsichtigem Alabaster floß sachte klares Wasser und erfrischte den ganzen Wohnsitz.
Pflanzen, besonders Rosen, die in Hülle und Fülle blühten, und blütenübersäte, berauschend duftende Orangenbäume bildeten den größten Teil der Ausstattung dieses Hauses. Ein wahrhaft schönes Haus, in dem sich aber aller Luxus in die reine Linie der Säulen, in die Transparenz des sich wie feine Klöppelspitzen um die Galerie des ersten Stocks rankenden Alabasters und in die Frische des im Garten murmelnden Wassers flüchtete. Abu al-Khayr liebte die Einfachheit des täglichen Lebens, ohne jedoch auf den Komfort zu verzichten …
Auf den Fliesen des Gartens hörte man das Schlürfen von Lederpantoffeln, und plötzlich stand Abu al-Khayr da, derart dem Bild ähnelnd, das Cathérine in Erinnerung hatte, daß die junge Frau einen verblüfften Seufzer ausstieß. Das Gesicht des kleinen Arztes, von seinem absurden weißseidenen Bart umrahmt, war ebenso glatt und makellos wie eh und je, und er war genauso gekleidet wie an dem Tag, an dem sie sich zum erstenmal begegnet waren: Es war dasselbe Gewand aus dicker blauer Seide, derselbe unförmige feuerrote Turban, nach persischer Sitte gewickelt, es waren dieselben Pantoffeln aus purpurrotem Maroquin, zu blauseidenen Kniestrümpfen getragen. Er war kein Jahr, keinen Tag älter geworden! Seine schwarzen Augen blitzten immer noch ironisch, und sein Lächeln war der jungen Frau so vertraut, daß ihr beinahe die Tränen kamen, weil sie, als sie ihn nun wiedersah, das verrückte Gefühl überkam, heimzukehren.
Abu al-Khayr, der den höflichen Gruß Josses und Gauthiers übersah, stellte sich vor Cathérine auf, musterte sie von Kopf bis Fuß und erklärte einfach:
»Ich habe dich erwartet! Aber du kommst sehr spät!«
»Ich?«
»Ja, du! Du kannst dich nicht ändern, Frau einer einzigen Liebe! Und du ziehst es immer noch vor, wie der Nachtfalter im Feuer der Kerze zu sterben, statt in der Dunkelheit zu leben, nicht wahr? Die Hälfte deines Herzens ist hier. Wer kann mit nur einer Herzhälfte leben?«
Jähe Röte stieg Cathérine in die Wangen. Abu hatte seine außerordentliche Fähigkeit nicht verloren, in der geheimsten Kammer ihres Herzens zu lesen. Was hatte es übrigens für einen Sinn, die Höflichkeitsformen zu wahren?
Sie ging sofort in medias res.
»Habt Ihr ihn gesehen? Wißt Ihr, wo er ist? Was tut er? Wie lebt er? Ist er …«
»Langsam, langsam … beruhige dich!« Die kleinen, zarten Hände des Arztes umschlossen die vor Erregung zitternden der jungen Frau und hielten sie fest. »Frau ohne Geduld«, sagte er sanft, »warum diese Hast?«
»Weil ich einfach keine Geduld mehr habe … Ich kann nicht mehr, Freund Abu! Ich bin müde, verzweifelt!« Fast hätte sie in einem Anfall von Nervenschwäche geweint.
»Nein, du bist nicht verzweifelt. Sonst wärst du gar nicht hier! Ich weiß es. Der Dichter hat geschrieben: ›Wann, allmächtiger Gott, wird sich mein inniger Wunsch erfüllen: neben seinem zerzausten Haar Ruhe zu finden?‹ Und du, du redest wie der Dichter, das ist ganz natürlich!«
»Nein, nicht mehr. Jetzt fühle ich mich plötzlich alt …«
Das kindliche Lachen Abu al-Khayrs schallte so klar, so jung, daß Cathérine sich plötzlich ihrer Niedergeschlagenheit schämte.
»Wer soll dir das glauben? Offensichtlich bist du müde, du schleppst den Staub der großen Landstraßen mit dir … und so vieles hat deine Seele belastet, nicht wahr? Du kommst dir schmutzig vor, schmierig bis zum Herzen. Aber das vergeht … Selbst unter deinen Bettlerlumpen bist du immer noch schön. Komm, du brauchst Ruhe, Pflege und Nahrung. Später unterhalten wir uns ausführlich. Nicht vorher …«
»Die Frau, die ich gesehen habe … sie ist so schön!«
»Wir wollen nicht darüber sprechen, solange du dich nicht gestärkt hast. Dieses Haus gehört von nun an dir, und Allah allein weiß, wie glücklich ich bin, dich hier aufzunehmen, meine Schwester! Komm … folge mir! Aber da fällt mir ein – wer sind diese Männer? Deine Diener?«
»Mehr als das, Freunde.«
»Dann sind sie auch die meinen! Kommt alle!«
Folgsam ließ Cathérine sich zu einer schmalen Steintreppe ziehen, die geradewegs an einer Mauer entlang zur Galerie des ersten Stockes führte. Gauthier und Josse, noch unter dem Eindruck der Überraschung stehend, den der kleine Arzt mit seinem fremden Aussehen und seiner blumigen Sprache auf sie gemacht hatte, folgten ihr auf dem Fuß. Diesmal verzichtete Josse darauf, den Blinden zu spielen, und trottete munter hinterher.
»Bruder«, flüsterte er Gauthier zu, »ich glaube, Dame Cathérine hat schon halb gewonnen. Dieser kleine, brave Mann scheint zu wissen, was Freundschaft ist.«
»Du wirst recht haben. Aber was das Gewinnen betrifft, ist sie nicht so sicher … du kennst Messire Arnaud nicht. Er besitzt die Kühnheit des Löwen und die Dickköpfigkeit des Maultiers, den Mut des Adlers … aber auch seine Mordlust. Er gehört zu den Männern, die sich lieber das Herz herausreißen, als nachzugeben, wenn sie sich beleidigt fühlen.«
»Liebt er seine Gattin nicht?«
»Er betete sie an. Nie habe ich ein leidenschaftlicher verliebtes Paar gesehen. Aber er hat geglaubt, sie habe sich einem anderen hingegeben, und er ist geflohen. Wie soll ich wissen, was er zu dieser Stunde denkt?«
Josse antwortete nicht. Seit er Cathérine kannte, wollte er den Mann kennenlernen, der es verstanden hatte, das Herz einer solchen Frau so fest zu gewinnen. Und jetzt, nachdem das Ziel nahe war, war seine Neugier aufs höchste gereizt.
»Es wird sich zeigen!« brummte er in sich hinein.
Mehr sagte er nicht, denn Abu al-Khayr öffnete vor den beiden Männern eine kleine Pforte aus rotem und grünem Zedernholz, die in ein geräumiges Gemach führte, und teilte ihnen mit, daß Diener sich um sie kümmern würden. Dann schlug er dreimal in die Hände und öffnete Cathérine eine andere Tür. Dies war ohne Zweifel der schönste Raum des Hauses: die Decke aus rotgoldenem Zedernholz, wie ein Teppich gewoben, die Wände aus vergoldeten Mosaiken, dicke, weiche Teppiche auf den Marmorfliesen, spitzbogige Nischen mit Spiegeln und Leuchtern oder Toilettenutensilien, Becken und Wasserkanne aus Kupfer. Vier vergoldete Kupfertruhen zur Unterbringung der Kleider standen in den Ecken, aber kein Bett war zu sehen. Es mußte hereingeschoben und an eine der Wände gestellt werden, in einen Winkel außer Sicht nach muselmanischem Brauch, während in einer großen, mit Spiegeln ausgestatteten Nische im Hintergrund des Raums ein runder Diwan mit einer Menge bunter Kissen stand. Die Fenster gingen natürlich auf den Innenhof hinaus.
Abu al-Khayr ließ Cathérine mit einem Blick von diesem angenehmen Appartement Besitz ergreifen, in dem nichts, was das Auge einer Frau verführen konnte, vergessen war. Dann schritt er langsam zu einer der Truhen, öffnete sie, zog einen Armvoll vielfarbiger Seiden- und Musselinstoffe heraus und breitete sie mit fraulicher Sorgfalt auf dem Diwan aus.
»Wie du siehst«, sagte er einfach, »habe ich dich wirklich erwartet! All dies ist am nächsten Tag auf dem Seidenmarkt gekauft worden, nachdem ich erfahren hatte, daß dein Gatte hier ist.«
Einen Augenblick standen sich Cathérine und ihr Freund Auge in Auge gegenüber, dann ergriff Cathérine Abus Hand und drückte, bevor er sie hindern konnte, ihre Lippen auf sie, ohne die Tränen zurückzuhalten, die ihr in die Augen sprangen. Er zog sanft seine Hand zurück. »Der von Gott geschickte Gast ist bei uns stets willkommen«, sagte er liebenswürdig. »Wenn dieser Gast aber unserem Herzen nahe ist, dann gibt es für einen wahren Gläubigen keine größere und reinere Freude. Ich müßte dir Dank sagen!«
Eine Stunde später, nachdem sie sich vom Staub der Reise gereinigt und es sich in den Kleidern bequem gemacht hatten, die ihr Gastgeber ihnen hatte überreichen lassen – weite, schwarz-weiß gestreifte Gewänder aus feiner Wolle, in der Taille durch einen breiten Seidengürtel zusammengehalten, für die Männer, und eine grünseidene, ärmellose arabische Gandoura, bis zu den Brüsten ausgeschnitten, für Cathérine, silberbestickte Pantoffeln aus feinem kurdischem Leder für alle drei –, ließen sich die Reisenden mit Abu al-Khayr auf Kissen nieder, die auf dem Boden rings um ein riesiges, als Tisch dienendes, auf Füße gestelltes silbernes Tablett verteilt waren. Das Tablett war reich bestellt. Außer gebratenen Hammelscheiben gab es sehr feine, außerordentlich schmackhafte Pasteten mit Tauben- und Ochsenfleisch und Mandelfüllung, vor allem jedoch alle Arten Früchte und Gemüse, von denen einige den Menschen aus dem Norden unbekannt waren.
»Ich esse die Früchte der Erde besonders gern«, hatte Abu lächelnd gesagt, während er eine riesige Melone mit herrlich duftendem Fleisch anschnitt und Scheiben davon der Runde anbot. »Sie haben die Sonne in sich.« Es gab Orangen, Zitronen, Äpfel, Kürbisse und frische, gewürzte Bohnen, Auberginen, Kichererbsen, Bananen, Trauben, Mandeln und natürlich Granatäpfel, all dies zusammen ein vielfarbig leuchtender Haufen von herrlicher Wirkung. Übrigens schmausten Josse und Gauthier, angeregt vom Inhalt einer hohen, schmalen Flasche Wein, die ihr aufmerksamer Gastgeber hatte neben sie stellen lassen, gleichzeitig voller Neugier und mit Appetit. Sie langten tüchtig zu, mit einer Begeisterung, die Abu, dessen eigene Speisenfolge ziemlich bescheiden war, ein Lächeln abrang. »Ist es in Eurem Hause immer so, Seigneur?« fragte Josse mit naiver Gefräßigkeit.
»Nennt mich nicht Seigneur, sondern Abu. Ich bin nur ein einfacher Gläubiger. Ja, es ist immer so. Seht, wir kennen hier keine Hungersnot. Sonne, Wasser und Erde geben uns alles im Überfluß. Wir brauchen nur Allah zu danken. Ich weiß, daß man sich in euren nördlichen Breiten ein Land wie das unsrige nicht einmal vorstellen kann. Das ist zweifellos der Grund«, fügte er mit plötzlicher Trauer hinzu, »weshalb die Kastilier sehnlichst wünschen, uns zu vertreiben, wie sie uns bereits aus Valencia, aus dem heiligen Córdoba und anderen Landen dieser Halbinsel, die wir reich und blühend gemacht hatten, vertrieben haben. Sie verstehen nicht, daß unsere Reichtümer auch aus dem Orient und aus Afrika kommen, deren Schiffe ungehindert an unseren Küsten landen können … was nicht mehr der Fall wäre, wenn das Königreich Granada eines Tages fiele!«
Während er sprach, beobachtete er Cathérine aus den Augenwinkeln. Trotz der langen Reise, die sie hinter sich hatte, rührte die junge Frau kaum etwas von den Speisen an. Sie hatte an einer Wassermelonenscheibe geknabbert, einige Mandeln, einige Pistazien gegessen, und jetzt kostete sie zerstreut mit einem Goldlöffelchen einen Rosensorbett, den einer der Stummen ihr vorgesetzt hatte. Den Blick im üppigen Grün des Gartens verloren, hörte sie der Unterhaltung ihrer Gefährten kaum zu. Sie schien weit von diesem schönen, angenehmen Raum mit seiner kunstvoll gearbeiteten Stuckdecke zu sein, war im Geist in dem so nahen und so gut verteidigten Festungspalast, hinter dessen rosafarbenen Mauern das Herz Arnauds für eine andere schlug. Abu al-Khayr sah, daß sie den Tränen nahe war. Er winkte einen seiner Sklaven heran und flüsterte ihm einige Worte ins Ohr. Der Schwarze machte ein Zeichen, daß er verstanden hatte, und ging schweigend hinaus. Einige Augenblicke später kreischte eine gellende Stimme von der Schwelle:
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