»Was für verlorene Zeit!« murmelte sie und bot Ermengarde, deren Frauen ihr nicht ohne Mühe vom Pferd halfen, ihren Arm. Die Edle von Châteauvillain, durch die vielen im Sattel verbrachten Stunden ebenfalls ermüdet, war steif wie ein Brett. Aber sie hatte nichts von ihrem Temperament verloren.

»Wetten wir, daß ich weiß, was Ihr denkt, meine Kleine?« sagte sie fröhlich, Cathérine zum Tor einer großen Herberge ziehend, deren die Mauern abstützende Strebepfeiler ihr etwas Festungsähnliches gaben.

»Sagt's ruhig!«

»Ihr würdet viel darum geben, Euch morgen früh auf ein Pferd schwingen, alle unsere salbadernden Betbrüder sitzenlassen und mit Windeseile in die Stadt Galicia galoppieren zu können, wo Euch, wie Ihr glaubt, etwas erwartet.«

Cathérine versuchte nicht einmal zu leugnen. Sie lächelte nur müde.

»Es ist wahr, Ermengarde! Die Langsamkeit dieses Marschs bringt mich noch um. Bedenkt nur, wir sind hier so nahe bei Montsalvy, daß es mir eine Leichtigkeit wäre, hinzugehen und meinen Sohn zu umarmen! Aber ich bin zu einer Pilgerfahrt aufgebrochen und werde Gott nicht bemogeln! Wenn unterwegs nicht etwas eintritt, was mich überzeugt, daß ich Arnaud auf eine andere Weise suchen muß, werde ich mit meinen Gefährten die Reise bis zum Ziel fortsetzen. Und dann ist es natürlich gut, wenn man zusammenbleibt. Der Weg ist gefährlich, es wimmelt von Banditen. Es ist besser, wenn man stark ist. Mit Euren Frauen und Euren Bewaffneten wären wir nur sieben. Vorausgesetzt, wir halten bis zum Ende durch, da einer Eurer Soldaten schon geflohen ist.«

Das stimmte. Am frühen Morgen, als man die Kommandantur von Espalion verlassen hatte, bestand Ermengardes Eskorte nur noch aus drei Mann: Der vierte fehlte. Doch zur großen Überraschung Catherines hatte die alte Dame keinerlei Ärger gezeigt. Sie hatte lediglich mit den Schultern gezuckt.

»Die Burgunder lieben das Reisen nicht! Und die Vorstellung, nach Spanien zu reisen, paßte Saulgeon gar nicht. Er muß es vorgezogen haben, zurückzureiten!«

Diese unerwartete Philosophie hatte Cathérine zu denken gegeben. Sie kannte Ermengarde und die unbeugsame Festigkeit, mit der sie ihre Leute führte, zu gut, um ihre jetzige Haltung nicht eigenartig zu finden. Oder sollte die furchtbare alte Dame sich in dieser Hinsicht geändert haben?

In der Herberge Sainte-Foy wurde die Dame de Châteauvillain mit allen ihrem Rang gebührenden Ehren empfangen. Ermengarde verstand es übrigens ausgezeichnet, sich bedienen zu lassen. Das Haus war voll besetzt, aber sie bekam trotzdem zwei Zimmer: eins für Cathérine und sich selbst, das andere für ihre Kammerzofe und Gillette de Vauchelles, die sie kurzerhand unter ihre Fittiche genommen hatte. Die Reisenden vertilgten ihr Abendessen schnell und schweigend. Alle waren müde, aber während Ermengarde, kaum ins Zimmer getreten, sich niederlegte und einschlief, hielt Cathérine sich trotz ihrer Müdigkeit am Fenster auf, das auf den kleinen Platz hinausging. Und außerdem war der Schlaf an diesem Abend weniger wichtig, da man noch einen Tag hierbleiben würde.

Auf dem kleinen steinernen Vorsprung in der Fensterecke sitzend, ließ Cathérine den Blick über das fremde und pittoreske Bild draußen wandern. Komödianten, wie sie oft in den Städten der großen Pilgerfahrt erschienen, hatten sich vor der Kirche eingefunden und gaben ihre Vorstellung vor einer Versammlung von Dorfbewohnern und Pilgern, die mangels Unterkunft sich auf dem Vorplatz niedergelegt hatten. Es waren Musikanten, Viola- und Lautenspieler, Harfenisten und Flötisten. Ein magerer Junge, in ein halb grünes, halb gelbes Kostüm gekleidet, jonglierte mit brennenden Fackeln. Am Fuße eines der beiden romanischen Türme der Vorderfront sitzend, hatte ein Erzähler derber Schnurren in buntem Flitter einen Kreis von Jungen und Mädchen um sich versammelt. Schließlich tanzte zum Klang der Musik ein grellrot gekleidetes, schmales Mädchen mit bloßen Füßen vor der hohen fahlen Steinfassade, von der herab Christus in seiner Majestät seine segnende Hand über die Menschheit hob. Die Flammen der Fackeln belebten wie in einem Theater die Figuren des gewaltigen, in das Giebelfeld eingehauenen Letzten Gerichts, das wie eine Seite des Evangeliums koloriert und vergoldet war. Die Erwählten schienen im Begriff, sich in die himmlischen Regionen zu erheben, und die Verdammten verzerrten in der Höllenpein unter dem Gelächter der Teufel schmerzlich die Gesichter.

Der Zauber dieser Kulisse wirkte auf Cathérine. Sie dachte, daß sie genau an diesem Ort auf den Weg stieß, den Arnaud und nach ihm Gauthier gegangen waren. Einer wie der andere, der Reiter mit der schwarzen Maske, den mageren Knappen an der Seite, und der große blonde Normanne, mußten ihren Fuß vor dieses edle Portal gesetzt und sich einen Augenblick unter die Menge gemischt haben, die zu dieser Stunde unter den Sternen träumte … Cathérine brauchte nur für einen Moment die Augen zu schließen, um sie vor sich heraufzubeschwören, den flüchtigen Leprakranken und den Sohn der Wälder des Nordens. Wo waren sie um diese Stunde? Was war ihnen zugestoßen, und welche Spur würde sie finden, sie, die sich mit den schwachen Kräften einer Frau auf die Suche nach ihnen gemacht hatte? Denn ebensowenig, wie sie glauben konnte, daß Arnaud auf immer für sie verloren war, gab sie sich mit dem Gedanken zufrieden, daß Gauthier tot sein sollte. Der Riese hatte etwas Unzerstörbares an sich. Der Tod konnte ihn nicht so niedergestreckt haben, in voller Jugend, auf dem Höhepunkt seiner Kraft. Erst in vielen Jahren würde er ihn in seine Gewalt bekommen, wenn sein Diener, das Alter, seine gemeine Arbeit an dem granitenen Körper verrichtet hätte.

Plötzlich wurde Cathérine in ihren Gedanken unterbrochen. In der Menge, die den Gauklern zusah, erkannte sie Gerbert Bohat. Er näherte sich der roten Tänzerin. Das Mädchen hielt keuchend inne, um der Menge ein Tamburin entgegenzustrecken, als der Clermonteser es ansprach. Trotz der, wenn auch geringen, Entfernung konnte Cathérine mühelos den Sinn ihres Gesprächs verstehen. Die Hand Gerberts wies sogleich schroff auf das Kleid des Mädchens, das eng anlag und sehr dekolletiert war, und dann auf Christus im Giebelfeld, und sein wütendes Gesicht war eindeutig. Er mußte die Tänzerin mit Vorwürfen überschütten, daß sie es wagte, in dieser dreisten Kleidung vor einer Kirche eine Vorstellung zu geben. Und tatsächlich schien die große schwarzgekleidete Gestalt vor ihr der jungen Frau Angst zu machen. Sie hob den Arm, als fürchtete sie, geschlagen zu werden. Doch bald konnte Cathérine sich eines undeutlichen Unruhegefühls nicht erwehren. Der puritanische Wutausbruch Gerberts schien nicht nach dem Geschmack der Schar junger Bauern zu sein, die noch einen Augenblick zuvor dem Erzähler gelauscht hatten. Sie sahen nichts Unrechtes darin, daß man vor der Kirche tanzte, und begannen, die Tänzerin zu verteidigen. Einer von ihnen, ein kräftiger Bursche, dessen Körperbau Cathérine ein wenig an Gauthier erinnerte, packte Gerbert sogar am Rockkragen, während drei andere eine drohende Haltung gegen ihn einnahmen und die hitzigen Stimmen der Mädchen ihn beschimpften … Im nächsten Augenblick würde Gerbert Bohat mißhandelt werden.

Cathérine hätte nicht sagen können, was sie augenblicklich zum Handeln trieb. Sie hatte wahrhaftig keinerlei Sympathien für diesen Mann, den sie für hart, hochfahrend und erbarmungslos hielt. Vielleicht fügte sie sich der einfachen Tatsache, daß sie ihn brauchte, um nach Galicia zu gelangen. Jedenfalls verließ sie eiligst das Zimmer, lief in den Hof hinunter, wo Ermengardes Männer noch einen letzten Becher Wein vor dem Schlafengehen tranken, und sprach den Sergeanten an.

»Schnell!« befahl sie. »Befreit den Führer der Pilger. Sonst wird er von der Menge zusammengeschlagen!«

Die Männer griffen nach ihren Waffen und eilten hinaus. Sie folgte ihnen, ohne eigentlich zu wissen, warum, denn die Soldaten brauchten sie ja nicht. Vielleicht nur, um zu sehen, wie Gerbert sich verhalten würde. Tatsächlich war alles schnell erledigt. Die drei Burschen hatten breite Schultern, fürchterliche Fäuste, von langen Kriegsjahren gezeichnete Gesichter und blitzende Waffen. Die Menge öffnete sich vor ihnen wie das Meer vor dem Bug eines Schiffes, und Cathérine, in ihrem Kielwasser, befand sich im Nu neben Gerbert unter dem Portalvorbau. Die Menge knurrte zwar, wich aber wie ein bissiger, mit der Peitsche bedrohter Hund zurück und zerstreute sich, zu den Gauklern zurückkehrend, die ihre Kunststücke einen Augenblick unterbrochen hatten.

»Ihr seid außer Gefahr, Messire«, sagte Sergeant Béraud zu Gerbert. »Legt Euch jetzt schlafen, und laßt diesen Leuten ihr Vergnügen. Sie tun nichts Schlechtes.« Dann wandte er sich an Cathérine: »Dame, wir haben nach Eurem Wunsch gehandelt. Begleiten wir Euch nun in die Herberge zurück?«

»Geht ohne mich!« antwortete die junge Frau. »Ich bin noch nicht müde.«

»Wenn ich richtig verstanden habe, verdanke ich Euch dieses Einschreiten?« fragte Bohat schroff, während die Bewaffneten sich entfernten. »Habe ich Euch etwa um Hilfe gebeten?«

»Dafür seid Ihr viel zu hochmütig! Ich glaube im Gegenteil, daß Ihr Euch mit Vergnügen hättet verprügeln lassen. Aber ich habe Euch in Schwierigkeiten gesehen und gedacht …«

»Wenn die Frauen sich schon aufs Denken verlegen!« seufzte Bohat in so verächtlichem Ton, daß Cathérine von Zorn überwältigt wurde. Dieser Mann war nicht nur sonderbar, er war ganz offen widerwärtig. Und sie scheute sich auch nicht, es ihm zu sagen.

»Ich gestehe, daß sie oft Dummheiten begehen, besonders, wenn sie sich einmischen, um das Leben eines bemerkenswerten männlichen Intellekts zu retten. Tatsächlich, Messire, bitte ich Euch, mein Bedauern und meine Entschuldigung entgegenzunehmen. Es wäre viel besser gewesen, wenn ich friedlich am Fenster geblieben wäre und zugesehen hätte, wie Ihr Euch am Kirchenportal aufführtet, wonach ich mich in der Gewißheit, daß Ihr zum Heil des christlichen Glaubens gestorben seid, hätte beruhigt schlafen legen sollen, nicht, ohne einige Vaterunser für die Ruhe Eurer großen Seele gebetet zu haben! Aber, da das Übel nun einmal geschehen ist, erlaubt, daß ich Euch verlasse! Gute Nacht, Messire Gerbert!«

Schon drehte sie sich auf dem Absatz herum, als er sie zurückhielt.

Dieser sarkastische Ausbruch hatte ihn verblüfft, und als Cathérine sich zu ihm zurückwandte, konnte sie keine Spur von Zorn auf seinem Gesicht entdecken.

»Wollt Ihr mir verzeihen, Dame Cathérine?« sagte er mit tonloser Stimme. »Es ist wahr, daß diese armen Leute mir ohne Euer Dazwischentreten das Leben genommen hätten. Und daß ich Euch dafür danken müßte. Aber«, fügte er heftig und mit belegter Stimme hinzu, »es kommt mich schwer an, einer Frau zu danken, um so mehr, als das Leben mir eine unerträgliche Last ist! Wenn ich Gott nicht fürchtete, hätte ich schon lange mit meinem Leben Schluß gemacht.«

»Andere Leute zu benutzen, um Euch zu beseitigen, ist nur eine Finte, mit der Gott sich nicht hinters Licht führen ließe. Ich füge hinzu, daß in diesem Fall das Verbrechen doppelt groß wäre, denn zu Eurer geheimen Absicht käme noch das Unrecht, das Ihr, statt es selbst zu begehen, von Unschuldigen verlangt hättet. Was Euren Dank betrifft, haltet Euch nicht für verpflichtet. Ich hätte dasselbe für jeden anderen getan!«

Gerbert antwortete nicht, aber als Cathérine einige Schritte auf die Herberge zu machte, trat er neben sie, sich leicht zu ihr hinunterbeugend. Er schien sie plötzlich auf keinen Fall verlassen zu wollen, und Cathérine versuchte gar nicht erst, sich diese neue Marotte zu erklären. Da er aber Schweigen bewahrte, fragte sie ihn schließlich:

»Ihr haßt die Frauen, nicht wahr?«

»Mit aller Kraft, von ganzer Seele … Sie sind die unaufhörliche Falle, in der sich der Mann verfängt.«

»Warum dieser Haß? Was haben sie Euch denn getan? Habt Ihr keine Mutter gehabt?«

»Das ist die einzige reine Frau, die ich gekannt habe. Alle anderen waren nichts als schmutzig, unzüchtig und falsch.«

Cathérine hätte durch dieses brutale Urteil verletzt sein können. Trotzdem empfand sie nur eine Art Mitleid, weil sie hinter Gerberts Zorn ein Leiden vermutete, das sich nicht definieren ließ.

»Habt Ihr sie schon immer verabscheut?« fragte sie. »Oder …« Er ließ sie nicht ausreden.

»Oder habt Ihr sie zu sehr geliebt? Ich glaube, daß es in Wahrheit so ist. Weil ich schon immer den verfluchten Geschmack der Frau im Blut gehabt habe, weil sie schon immer mein Feind war! Ich hasse sie!«

Der Widerschein einer Kerze, die noch auf dem Ladentisch eines Händlers mit Heiligenbildern brannte, huschte einen Augenblick über das Gesicht und die Hände des großen Pilgers, deren eine seinen schwarzen Mantel hielt. Seine Züge waren vom Feuer düsterer Leidenschaft durchglüht, und die freie Hand zitterte. Das Verlangen, ihn herauszufordern, bewegte Cathérine stehenzubleiben.