»Schaut mich an!« befahl sie. »Und sagt mir, ob Ihr glaubt, daß ich wirklich nur schmutzig, unzüchtig und falsch bin!«
Sie hatte sich bewegungslos ins gelbe Licht der Kerze gestellt, bot dem flackernden Blick des Mannes ihr reines Gesicht, das, von der den ganzen Tag getragenen Kapuze befreit, von einer dunkelgoldenen Aureole umgeben war, über die fahlrote Lichtreflexe glitten. Dichte Locken hingen fast bis auf die Schultern, ein kleiner Ersatz für den schon zweimal geopferten königlichen Schmuck von einst. Mit leisem Lächeln betrachtete sie ihren Gefährten, der plötzlich bleich geworden war. Er schien sich in eine Statue verwandelt zu haben, aber in eine Statue mit flammendem Blick.
»Alons, Messire Gerbert, antwortet mir!«
Da machte er eine ausholende Bewegung, als wollte er eine teuflische Vision verjagen, und wich in den Schatten der Abteimauer zurück.
»Ihr seid zu schön, um nicht ein Dämon zu sein, der gekommen ist, mich zu versuchen! Aber Ihr werdet nichts bei mir ausrichten, hört Ihr? Nichts werdet Ihr ausrichten! Hebe dich hinweg von mir, Satan!«
Von heiliger Furcht ergriffen, wollte er fliehen. Cathérine begriff, daß man diesem Mann nie beikommen konnte, daß er bis in den Geist befallen war. Eine Art Krankheit. Sie hob die Schultern, und ihr Lächeln schwand.
»Sagt keine solchen Albernheiten«, entgegnete sie gelassen. »Ich habe nichts Dämonisches an mir! Ihr sucht den Seelenfrieden, ich suche etwas anderes … Doch dieses Etwas mir zu geben, liegt nicht in Eurer Macht, in keines Mannes Macht übrigens … mit einer einzigen Ausnahme.«
Wider seinen Willen wagte Gerbert Bohat zu fragen:
»Wer ist dieser Mann?«
»Ich glaube«, sagte Cathérine kurz, »daß Euch dies nichts angeht! Guten Abend, Messire Gerbert!«
Und diesmal entfernte sie sich in Richtung der Herberge, ohne daß er versuchte, sie zurückzuhalten. Die Nacht war still, und die Geräusche der kleinen Stadt verstummten eins nach dem anderen. Irgendwo läutete eine Glocke. Ein Hund bellte. Cathérine fühlte sich jetzt müde und irgendwie entmutigt. Sie hatte gehofft, die Spannung zwischen ihr und Gerbert lösen zu können, aber sie begriff, daß dies niemals möglich sein würde. Dieser Mann beherbergte ein Geheimnis, das sie anscheinend nicht zu durchdringen vermochte. Und alle Versuche, die sie unternehmen könnte, um ihn wieder menschlich zu machen, würden ihr nichts nützen. Was hatte es also für einen Sinn, es zu versuchen?
Der folgende Tag schien Cathérine endlos. Sie verwandte ein gut Teil davon, ihren verletzten Fuß zu pflegen, aber sie mußte auch an den vorgeschriebenen Gottesdiensten teilnehmen. Doch sie war zu sehr von ihrer Ungeduld durchdrungen, als daß sie hätte ruhig beten können … Endlose Minuten hatte sie sinniert, während in den Weihrauchwolken gleich einer phantastischen Erscheinung die barbarische und prunkvolle Goldstatue von Sainte-Foy schimmerte, die mit Edelsteinen bestückt war, zahlreicher als eine Wiese im Frühling mit Blumen. Es war eine seltsame Figur, ziemlich furchterregend mit ihrem massigen Gesicht und ihren starren Augen, und Cathérine betrachtete sie mit einer Art Angst, sah sich außerstande, in ihr das Bildnis einer kleinen dreizehnjährigen Heiligen zu sehen, die einstmals durch ihren Glauben zur Märtyrerin geworden war. Vielmehr sah sie darin eine Art furchtbares Idol, dessen starrer, geweiteter Blick sie bedrückte.
Indessen hieß es, sie habe die Macht, Gefangene zu befreien. Eisen, Ketten, Fesseln und Halseisen waren hinter ihr aufgehäuft, rührende Zeugen der Dankbarkeit. Doch trotz allem fühlte sich Cathérine in dieser düsteren Kirche, inmitten der Betenden, Gefangene einer ungeduldigen Liebe, aus der sie nichts befreien konnte, nahe dem Ersticken.
Da sie auf den Knien bleiben mußte, begannen ihre Beine zu kribbeln, und dies erinnerte sie an die unendlich langen Gebete, die sie einst an der Seite ihrer Schwester Loyse in Notre-Dame von Dijon ertragen hatte. Sie erhob sich, wandte den Kopf und traf auf den Blick Gerbert Bohats, der sie anstarrte. Er wandte sofort die Augen ab, aber sie hatte genügend Zeit gehabt, den seltsamen, zugleich harten und furchtsamen Ausdruck zu bemerken, den sie schon einmal an ihm beobachtet hatte. Wider ihren Willen seufzte Cathérine gelangweilt.
»Man darf ihm nicht zürnen«, flüsterte die leise Stimme Gillettes neben ihr. »Gerbert ist ein unglücklicher Mensch.«
»Woher wißt Ihr das?«
»Ich weiß es nicht, ich fühle es … Er leidet grausam, daher ist er so hart.«
Trotz ihres Mutes und ihres guten Willens konnte Cathérine sich nicht entschließen, der langen Prozession zu folgen, die sich anschickte, die Statue der Heiligen und die ganze Stadt bis zu den seit langer Zeit des Regens beraubten Feldern zu führen. Sie ging zur Herberge und zu Ermengarde zurück, die das Bett nicht verlassen hatte. Die Edle sah sie mit einem Lächeln im Mundwinkel eintreten.
»Nun, Cathérine, habt Ihr noch nicht genug Vaterunser gebetet? Wann werdet Ihr endlich vernünftig sein und meinen Rat und mein Pferd annehmen? Habt Ihr wirklich Lust, mit diesem ganzen Trupp weiterzureisen, obwohl wir viel schneller vorwärts kommen könnten?«
Cathérine preßte die Lippen zusammen und warf, während sie ihren Mantel ablegte, ihrer Freundin einen schrägen Blick zu. »Kommt nicht mehr darauf zurück, Ermengarde. Ich habe Euch bereits meine Gründe genannt. Die Strecke ist gefährlich, man muß in großer Zahl sein, um sich die Straßenräuber vom Halse halten zu können.«
Die alte Dame reckte sich, gähnte unmäßig und seufzte dann: »Und ich bin nach wie vor der Meinung, daß gute, schnelle Pferde mehr wert sind als schlappe Füße, wenn man Straßenräubern entwischen will. Im übrigen sage ich Euch voraus, wenn wir so weitermachen, werdet Ihr auf dem schnellsten Wege verrückt … und ich auch.«
Im Grunde gab Cathérine Ermengarde recht, wollte es aber nicht zugeben. Sie war überzeugt, daß Gott es ihr übelnehmen würde, wenn sie ihren Weg nicht bis zum Ende mit den Pilgern zurücklegte, denen sie sich angeschlossen hatte. Er würde sie dafür bestrafen, indem er sie hinderte, Arnaud wiederzufinden. Aber seit langem schon wußte die Dame de Châteauvillain in dem hübschen, ausdrucksvollen Gesicht ihrer Freundin zu lesen. Sie murmelte:
»Nun, Cathérine, traut Gott ein wenig Großmut zu, und haltet ihn nicht für einen schäbigen Krämer, der sich nur an feste Geschäftsabmachungen hält. Was haltet Ihr von seiner Barmherzigkeit?«
»Ich halte sehr viel von ihr, Ermengarde, aber wir ziehen mit den anderen weiter!«
Sie hatte fest gesprochen, in einem Ton, der keinen Widerspruch duldete. Auch Ermengarde täuschte sich darüber nicht. Ein entmutigter Seufzer war ihre einzige Antwort.
Die Prozession von Sainte-Foy mußte wirksam gewesen sein, denn als die Pilger sich am nächsten Tag in der Frühe von neuem auf den Weg machten und Conques, die gewohnheitsmäßigen frommen Lieder singend, verließen, goß es wie mit Kübeln. Cathérine hatte ihren Platz zwischen Josse Rallard und Colin des Epinettes wieder eingenommen. Mutig schritt sie dahin und versagte es sich, zur Nachhut zurückzublicken, wo Ermengarde und ihr berittener Trupp reisten. Es war der Gräfin gelungen, Gott allein wußte, wie, sich während des Aufenthalts zwei neue Pferde zu beschaffen, deren eines die eine Kammerfrau trug, während das andere frei nebenhertrottete, von Sergeant Béraud am Zügel geführt. Cathérine war sich nicht im unklaren, daß dieses Tier für sie bestimmt war, aber sie wollte es nicht wissen.
Der Weg stieg mühselig am Hang des Hügels an, um wieder ins Tal des Lot zu führen und von da Figeac zu erreichen. Und der Regen diente zu nichts. Er verwüstete die Landschaft, zerschlug die zarten, eben erblühenden Rosen des Heidelands, verschreckte das kleinste Blatt, füllte die Augen und wurde von dem groben Wollstoff der Pilgerkleidung aufgesogen. Bald fein und sprühend, bald von jähen Windstößen gepeitscht, breitete er über das düstere Land eine furchtbare Traurigkeit, schwer wie die Welt, die Catherines Herz zu bedrücken schien. Niemand dachte an diesem Morgen mehr daran zu singen. An der Spitze marschierte Gerbert mit rundem Rücken, den Kopf zwischen die Schultern geduckt, ohne sich auch nur einmal umzudrehen.
Als man die Höhe des Hanges erreichte, waren plötzlich Rufe hinter der Kolonne zu vernehmen.
»Haltet an! … Um der Liebe Gottes willen, haltet an!«
Diesmal wandte Gerbert sich um und alle anderen mit ihm. Weiter unten am Hang taten drei atemlose Mönche ihr Bestes, sie einzuholen. Mitunter strauchelte einer von ihnen in einem Loch oder über einen Stein, aber sie riefen unaufhörlich und schwenkten heftig die Arme.
»Was ist da los?« murmelte Colin mürrisch. »Haben wir etwas vergessen, oder wollen diese frommen Leute sich uns anschließen?«
»Das würde mich wundern«, erwiderte Josse Rallard, der die drei Mönche mit Stirnrunzeln herankommen sah. »Sie tragen nichts bei sich, nicht einmal Pilger Stäbe.«
»Dann wollen sie sich vermutlich unseren Gebeten am Heiligen Grab des Apostels empfehlen«, entgegnete Colin salbungsvoll. Aber sein Gefährte sah ihn so scharf an, daß er nicht wagte, in seinen Vermutungen weiterzugehen. Übrigens lief Gerbert Bohat die ganze Länge der Kolonne zurück, den Ankömmlingen entgegen. Sie trafen ziemlich in der Nähe Catherines und ihrer Gefährten zusammen, so daß der jungen Frau nichts von ihrer Unterhaltung entging. Außerdem brüllten die drei Mönche trotz ihrer Kurzatmigkeit, daß die Felsen barsten.
»Man hat uns bestohlen! Fünf große Rubine sind vom Mantel der heiligen Foy entwendet worden!«
Ein Unmuts- und Zorngeschrei begrüßte diese Nachricht, aber Gerbert erwiderte sofort schlagfertig und aggressiv:
»Das ist eine scheußliche Freveltat, aber ich sehe nicht ein, weshalb ihr uns so eilig gefolgt seid, um uns das mitzuteilen. Ihr nehmt doch nicht etwa an, daß einer von uns der Dieb ist? Ihr seid fromme Leute, aber wir, wir sind die fahrenden Ritter Gottes!«
Der größte Mönch wischte mit verlegener Miene über sein großes rosiges Gesicht, über das der Regen in kleinen Rinnsalen herunterrann, und machte eine ohnmächtige Geste.
»Die schwarzen Schafe des Teufels verbergen sich manchmal zwischen den Besten unter uns. Und die Tatsache, daß man einem Pilgerzug angehört, ist noch längst keine Garantie für Frömmigkeit. Es gibt Beispiele …«
»Wir waren nicht die einzigen in Conques gestern … oder wann immer der Diebstahl begangen wurde. Ich bewundere Eure christliche Nächstenliebe, die sich zuerst gegen arme Pilger wendet, ohne an dieses Pack von Possenreißern und Gauklern zu denken, die sich neulich abends vor Eurer Kirche zur Schau stellten.«
Cathérine unterdrückte ein Lächeln.
Offenbar hatte Gerbert sein Abenteuer von vorgestern abend immer noch nicht verwunden. Aber der Mönch schien noch unglücklicher zu werden.
»Die Gaukler sind gestern morgen weitergezogen, wie ihr wissen dürftet, und gestern, während der Prozession, ist die Statue am hellichten Tage intakt gezeigt worden. Kein Stein fehlte.«
»Seid Ihr dessen ganz sicher?«
»Mich und meine hier anwesenden Brüder hatte der Hochehrwürdige Abt beauftragt, uns von ihrer Unversehrtheit zu überzeugen, bevor wir sie wieder in ihre Nische zurückstellten. Ich kann Euch versichern, daß nicht der kleinste Edelstein fehlte. Heute morgen fehlten fünf große Rubine … und ihr seid die einzigen Fremden gewesen, die die letzte Nacht in unserer Stadt verbrachten!«
Schweigen trat nach dieser Bekundung ein. Jeder hielt den Atem an, wohl fühlend, daß die Beweisführung der Mönche unangreifbar war. Gerbert indessen weigerte sich, sich geschlagen zu geben, und Cathérine bewunderte in diesem Augenblick den Mut und die Hartnäckigkeit, mit der er seine Welt verteidigte.
»Das beweist noch lange nicht, daß wir schuldig sind! Conques ist eine heilige Stadt, aber sie ist immerhin eine Stadt, von Menschen bevölkert, unter denen das Schlechte sehr wohl untertauchen kann.«
»Wir kennen unsere eigenen schwarzen Schafe, und der Hochehrwürdige Abt beschäftigt sich mit ihnen seit heute morgen. Mein Bruder, es wäre soviel einfacher, den Beweis zu liefern, daß keiner von euch die gestohlenen Steine bei sich hat!«
»Was wollt Ihr damit sagen?«
»Daß wir nur zu dritt sind, aber wenn ihr euch durchsuchen lassen wolltet, würden wir euch nicht lange aufhalten.«
»Bei diesem Regen?« erwiderte Gerbert verächtlich. »Und wie wollt Ihr die Frauen durchsuchen?«
»Zwei unserer Schwestern folgen uns auf dem Fuße. Da sind sie übrigens«, sagte der Mönch, der entschieden auf alles eine Antwort hatte. »Und gleich hinter dieser Wegbiegung gibt's eine kleine Kapelle, wo wir uns einrichten können. Ich bitte Euch darum, mein Bruder. Es geht um den Ruhm von Sainte-Foy und die Ehre Gottes!«
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