»Nein … und es ist besser so! Ich werde … sterben!«
»Sag das nicht!« wandte Cathérine zärtlich ein. »Wir werden dich pflegen, wir …«
»Nein! Es hat keinen Zweck zu lügen! Ich weiß es, und ich … ich bin glücklich! Ihr müßt … mir etwas versprechen.«
»Alles, was du willst.«
Er machte ihr ein Zeichen, näher zu kommen. Cathérine beugte sich über ihn, so daß ihr Ohr den Mund des Todkranken fast berührte. Dann keuchte er:
»Versprecht … daß er nie erfahren wird, was … in Coca … geschah! Es würde ihm weh tun … und es war nur … Barmherzigkeit! Es ist nicht der Mühe wert …«
Cathérine richtete sich auf, drückte leidenschaftlich die heiße, auf der Matratze liegende Hand.
»Nein!« sagte sie heftig. »Es war keine Barmherzigkeit! Es war Liebe! Ich schwöre es dir, Gauthier, bei allem, was mir auf der Welt teuer ist: In jener Nacht habe ich dich geliebt, ich habe mich dir von ganzem Herzen gegeben und hätte dich weitergeliebt, wenn du es gewollt hättest. Siehst du«, fügte sie, die Stimme noch mehr senkend, hinzu, »du hast mir so viel Freude geschenkt, daß ich einen Augenblick mit dem Gedanken spielte, dazubleiben und Granada aufzugeben …«
Sie hielt inne. Ein Ausdruck unendlichen Glücks verklärte die verwüsteten Züge Gauthiers und verlieh ihm eine Schönheit, eine Sanftmut, die ihm nie geeignet hatte. Er lächelte wie ein überglückliches Kind, und zum erstenmal seit jener berüchtigten Nacht fand Cathérine erschüttert in dem grauen Blick die Leidenschaft wieder, die sie damals darin gelesen hatte.
»Du hättest es bedauert, meine Liebe …«, flüsterte er, »aber … hab Dank, daß du es mir sagtest! Ich werde glücklich scheiden … so glücklich!« Und als die junge Frau den Mund öffnete, um vielleicht wieder zu protestieren, murmelte er leiser, mit nachlassender Stimme: »Sag nichts mehr … verlaß mich! Ich möchte gern … mit dem Arzt sprechen … und ich habe nicht mehr viel Zeit! Leb wohl … Cathérine! Ich habe … nur dich auf Erden geliebt!«
Die Kehle der jungen Frau schnürte sich in jähem Schmerz zusammen, aber sie wagte nicht, ihm seine Bitte abzuschlagen. Einen Augenblick noch betrachtete sie das Gesicht mit den bereits geschlossenen Augen, die sich vielleicht nicht mehr öffnen würden. Noch einmal beugte sie sich hinunter und drückte die Lippen mit unendlicher Zärtlichkeit auf den ausgetrockneten Mund. Dann drehte sie sich zu Marie um, die, reglos in der hintersten Ecke der Sänfte, still der Unterhaltung beigewohnt hatte.
»Rufe Abu! Er marschiert neben uns … Ich steige aus.«
Der Zug bewegte sich tatsächlich langsam, denn dichter Verkehr behinderte den Weg zur weißen Stadt. Es mußte Markttag sein, was die schon immer große Betriebsamkeit des Hafens noch verdoppelte. Marie machte ein Zeichen, daß sie verstanden habe, und rief den Arzt, während Cathérine, um die aufsteigenden Tränen zu verbergen, sich auf den Weg gleiten ließ. Arnaud ritt einige Schritte voraus, neben Mansour. Sie rief ihn mit so schmerzerfüllter Stimme, daß er anhielt. Er sah das hübsche, tränenüberströmte Gesicht, beugte sich aus dem Sattel hinunter und streckte ihr die Hand hin.
»Komm«, sagte er nur.
Er hob sie auf, setzte sie vor sich und schloß die Arme um sie. Die junge Frau verbarg das Gesicht an seiner Brust und ließ ihren Tränen freien Lauf. Arnaud sagte sanft:
»Ist es zu Ende?«
Sie brachte kein Wort heraus, schüttelte nur den Kopf. Er sagte: »Weine, ma mie, weine, soviel du willst! Über einen Mann wie ihn kann man nie genug weinen!«
Im tobenden Gewimmel des Hafens, zwischen den unzähligen Fisch-, Muschel-, Apfelsinen-, Gemüse-, Früchte- und Gewürzhändlern, die neben großen, überquellenden Körben auf dem Boden hockten und ihre Kunden mit lauten Anpreisungen anriefen, bahnte sich Mansours Trupp einen Weg für die Sänfte mit dem sterbenden Gauthier zu den Schiffen am Kai. Dort lagen zwischen Fischerbooten jeder Größe einige große Handelsschiffe neben zwei Berbergaleeren, schnittig wie Geparden, ruhende wilde Tiere im Vergleich zu den schwerfälligen Kauffahrteischiffen. Mansour zeigte sie Arnaud.
»Das sind meine Schiffe …«
Montsalvy lächelte, ohne zu antworten. Er hatte begriffen, daß Ben Zegris, von seinen Besitzungen im geheimnisvollen Maghreb abgesehen, seine größten Einkünfte aus der Piraterie zog. Das waren Jagd- und Raubschiffe, und mit Unbehagen dachte er daran, Cathérine und Marie an Bord dieser Wasserkatzen gehen zu lassen. Wer konnte sicher sein, ob der Kapitän, einmal auf See, nicht Kurs auf Alexandria oder Kreta oder Tripolis, auf einen der großen Sklavenmärkte nähme, auf dem die schönste Dame des Abendlandes zweifellos einen hohen Preis erzielen würde? Der bevorstehende Tod Gauthiers änderte die Dinge. Er, Arnaud, wäre mit Josse allein, um zwei Frauen gegen die ganze Mannschaft zu verteidigen, da Abu nach Granada zurückkehren würde, nachdem sie Anker gelichtet hatten … Wenn sie einmal die Türme des Außenhafens von Almeria passiert hätten, würde sich keine muselmanische Stimme mehr erheben, um die Christen gegen die Geldgier der Berber in Schutz zu nehmen. Gewiß, Arnaud zweifelte nicht am guten Glauben Mansours, aber ein Seeräuber verstand sich aufs Lügen, Täuschen, Überreden. Der alte Fuchs, der diese Raubgaleere befehligte, brauchte nur zu sagen, er habe seinen Auftrag erfüllt, und niemand würde sich noch Sorgen darüber machen, was aus den Montsalvys geworden war …
Von diesen düsteren Vorahnungen gequält, drückte Arnaud Cathérine instinktiv an sich, aber sie reagierte nicht auf seine Umarmung. Sie starrte fasziniert auf ein Schiff, das in diesem Augenblick das enge Fahrwasser passierte, und fragte sich bei seinem Anblick, ob sie richtig sähe oder träume.
Dieses Schiff ähnelte den im Hafen liegenden in keiner Weise. Keine dreieckigen, spitz zulaufenden Segel, sondern ein riesiges quadratisches, blau-rot gestreift, das eben von Matrosen eingeholt wurde, denn das Einlaufen in den Hafen war Sache der Ruderer. Es war ein Schiff mit dickem, breitem Rumpf, mit hohem, kunstvoll geschnitztem Heck, aber was Cathérine vor allem faszinierte, war nicht so sehr die Form des Schiffes, sondern das Lilienbanner, das im Wind über dem Mastkorb flatterte. Sein Wappen kannte sie gut.
»Jacques Coeur!« rief sie. »Dieses Schiff gehört bestimmt ihm!« Auch Arnaud sah es jetzt, aber es war der andere Wimpel, den er mit Erstaunen betrachtete, der alles beherrschte und sich am üppigsten entfaltete.
»Die goldenen Lilien von Anjou, das Wahrzeichen von Sizilien, die Pfähle von Aragon und die Kreuze von Jerusalem!« flüsterte er. »Die Königin Yolande … Dieses Schiff trägt sicher einen Gesandten.«
Ungeheure Freude erhob sich in den Herzen der beiden Gatten. Dieses Schiff verkörperte in sich das ganze Land, aber auch die Freundschaft, die Pflichttreue, die Herrlichkeit … Die Farben flimmerten in der Sommerwärme. Auf diesem Schiff wären sie schon zu Hause …
»Ich glaube«, sagte Arnaud zu Mansour, »du brauchst keins deiner Schiffe für uns flottzumachen. Das dort drüben gehört einem Freund von uns und hat ohne Zweifel einen Gesandten meines Landes an Bord …«
»Ein Kauffahrer«, bemerkte Ben Zegris mit leiser Verachtung, verbesserte sich aber gleich wieder, indem er hinzufügte: »Aber gut armiert!« In den Schiffsluken zeigten tatsächlich sechs Bombarden ihre klaffenden Mäuler.
Die ›Magdalene‹, so hieß das Schiff, versuchte nicht anzulegen. In der Mitte des Hafens angekommen, warf sie Anker und ließ ein Boot zu Wasser, während ein Schwarm von beturbanten Beamten und Neugierigen auf den Kai eilte. Mansours Trupp und die Sänfte wurden von dieser Woge menschlicher Leiber förmlich überspült, die sich zum Kairand drängten, um die unerwarteten Ankömmlinge besser sehen zu können.
Das Boot indessen ruderte mit aller Kraft und brachte schnell drei Personen an Land, die eine im Turban, die anderen beiden in gestickten Mützen. Aber Cathérine hatte den größten Bemützten bereits erkannt. Bevor Arnaud sie zurückhalten konnte, war sie aus seinen Armen auf den Boden geglitten und erreichte, mit Ellbogen und Füßen derart um sich stoßend, daß man ihr Platz machen mußte, den Wasserrand in dem Augenblick, als das Boot anlegte. Und als Jacques Coeur auf den Kai sprang, fiel sie ihm, lachend und weinend zugleich, fast in die Arme …
Er hatte sie nicht sofort erkannt und wollte die staubige Muselmanin, die sich ihm da an den Hals warf, zurückstoßen. Aber nur einen Augenblick. Jäh erblickte er ihr Gesicht – und erblaßte. »Cathérine!« rief er verblüfft. »Aber das ist nicht möglich! Das seid doch nicht Ihr?«
»Doch, doch, mein Freund, ich bin's … und so glücklich, Euch wiederzusehen! Mein Gott! Euch schickt der Himmel! Es ist zu schön, zu wunderbar, zu …«
Sie wußte gar nicht mehr, was sie sagte, war von solcher Freude erfüllt, daß auch der vernünftigste Mensch den Kopf verloren hätte. Aber Arnaud hatte sein Pferd angetrieben und war nun auch nach vorn gelangt. Er sprang aus dem Sattel und fiel dem verdutzten Jacques ebenfalls beinahe in die Arme, der den maurischen Reiter jedoch alsbald erkannte.
»Messire Arnaud!« rief er. »Welch unglaubliches Glück, Euch wiederzufinden, nachdem ich kaum den Fuß auf festen Boden gesetzt habe! Wißt Ihr, daß ich hier nun nichts mehr zu tun habe?«
»Wieso?«
»Was glaubt Ihr wohl, weshalb ich herkam? Um Euch zu suchen! Habt Ihr das königliche Wappen auf meinem Schiff nicht bemerkt? Ich bin Gesandter der Herzogin-Königin und komme, vom Kalifen von Granada den Seigneur de Montsalvy und seine Gemahlin zu fordern, wofür ich ihm einen seiner besten Kapitäne zurückgebe, der das Unglück hatte, an der Küste der Provence gefangengenommen zu werden. Eine Art Austausch …«
»Ihr setztet Euer Leben aufs Spiel?« rief Cathérine.
»Kaum«, lächelte Jacques Coeur. »Mein Schiff ist stark, und die Menschen dieses Landes respektieren Gesandte, gleichzeitig interessieren sie sich auch für Handelsbeziehungen. Ich verstehe mich ziemlich gut mit den Kindern Allahs, seitdem ich im Mittelmeer herumstrolche!«
Die Freude der drei Freunde über ihr Wiedersehen schien unbändig. Sie lachten, sprachen alle gleichzeitig und vergaßen alles und alle um sie herum. Die Fragen schwirrten so schnell durcheinander, daß niemand sie beantworten konnte, aber jeder wollte alles wissen, und zwar sofort. Es war Cathérine, die sich zuerst wieder fing, weil ihr Blick über Jacques und Arnaud hinaus, die sich noch einmal umarmten und auf den Rücken klopften, auf die Sänfte fiel, zwischen deren Vorhang der unruhige Kopf Abu al-Khayrs erschien. Und sie machte sich Vorwürfe, ihren sterbenden Freund, wenn auch nur einen Augenblick, vergessen zu haben. Sie hängte sich an Jacques' Arme, entriß ihn beinah ihrem Gatten.
»Jacques«, bat sie, »wir müssen gleich absegeln … sofort! Sofort!«
»Warum?«
Sie sagte es ihm in kurzen Worten, und die Freude, die das gebräunte Gesicht des Kaufmanns verklärte, wich.
»Armer Gauthier!« murmelte er. »Er ist also sterblich. Ich gestehe, ich hätte es nicht geglaubt … Wir werden ihn sofort an Bord bringen, damit er seinen letzten Atemzug auf dem Boden seines Landes tut … selbst ein Holzboden wird besser sein als diese Erde!«
Er wandte sich an seine Begleiter, einen kleinen Mann mit klugem Gesicht, eine Art Sekretär, nach dem Schreibzeug und einer kleinen Rolle Pergament zu schließen, die an seinem Gürtel hingen, und den stummen, unbeweglichen Herrn im Turban. Als ob es ihm gleichgültig wäre, wer hinter ihm stand, wandte er sich an diesen:
»Seigneur Ibrahim, seid Ihr nun zu Hause? Ich brauche über Eure Freilassung nicht mehr zu sprechen, da ich meine Freunde ganz persönlich gefunden habe. Ihr seid also frei.«
»Ich danke dir für deine Liebenswürdigkeit, Freund … Ich wußte, daß ich nichts von dir zu fürchten hatte, aber du bist ein Kerkermeister gewesen, wie ihn nur sehr wenige Gefangene haben. Daher bin ich dir ohne Sorge gefolgt.«
»Ich hatte Euer Wort, nicht zu fliehen, und habe mich daran gehalten!« erwiderte der Kaufmann edelmütig. »Lebt wohl, Seigneur Ibrahim!«
Der Gefangene verneigte sich tief und verlor sich schnell in der Menge, die Mansour und seine Männer jetzt zurückdrängten, um Platz für die Sänfte zu schaffen. Die Matrosen Jacques Cœurs hatten den nun bewußtlosen Sterbenden mit äußerster Vorsicht herausgehoben. Die helle Sonne verklärte das abgezehrte, von tragischen Schatten überzogene Gesicht, das die Männer mit einer Art abergläubischer Furcht betrachteten. Man trug ihn in das Boot, in dem Abu sich neben ihn setzte.
»Ich werde bleiben, solange er noch atmet«, erklärte er. »Übrigens, Ihr setzt doch nicht sofort Segel?«
»Nein«, erwiderte Jacques Cœur. »Erst übermorgen. Da ich nun einmal hier bin, möchte ich meinen Aufenthalt nutzen und Seidenstoffe, Möbel mit Intarsien, Gewürze und bearbeitete Felle und Häute, vergoldete Töpferware und diese schönen Pergamente aus Gazellenhaut von der Sahara, eine Spezialität dieses Landes, laden …«
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