Wieder folgte Schweigen. Josse, immer noch auf den Knien, rührte sich nicht, wartete auf Catherines Antwort. Diese, weit davon entfernt, zornig zu sein, fühlte sich durch diesen sonderbaren Jungen merkwürdig gerührt, der flagrante Unredlichkeit mit einer seltsamen Würde und unleugbarem Charme verband. Die verblüffendsten Dinge klangen von seinen Lippen ganz natürlich. Trotzdem glitt ihr Blick, bevor sie antwortete, zu Ermengarde hinüber, die mit zusammengepreßten Lippen ebenfalls schwieg, aber es war ein Schweigen von schlechter Vorbedeutung. »Was ratet Ihr mir, liebe Freundin?«

Die Edle zuckte aufbrausend mit den Schultern.

»Was soll ich Euch raten? Ihr scheint mit denselben Talenten begabt zu sein wie die Zauberin Circe. Sie verwandelte die Männer in Schweine. Offenbar macht Ihr's umgekehrt. Handelt, wie es Euch beliebt, aber ich kenne Eure Antwort schon.«

Während sie noch sprach, hatte Ermengarde endlich ihre Krücken gepackt, sich, Catherines hilfreiche Hand ablehnend, daran geklammert und war nach einer anerkennenswerten Anstrengung aufgestanden. Und als Cathérine erschrocken, fürchtend, sie habe sie beleidigt, fragte:

»Wohin geht Ihr, Ermengarde? Ich bitte Euch, nehmt mir nicht übel, was ich Euch sagen werde, aber …«

»Wo soll ich hingehen?« brummte die alte Dame. »Ich werde Béraud anweisen, ein wenig in der Stadt herumzubummeln, um noch ein Pferd für uns aufzutreiben. Dieser Junge hat vielleicht schnelle Beine, aber doch nicht schnell genug, um uns zu Fuß nach Galicia zu folgen!«

Worauf Ermengarde, mehr schlecht als recht auf ihre Krücken gestützt, einem hochbordigen Schiff mit starker Schlagseite ähnelnd, majestätisch den Hof der Herberge verließ.

3

Vierzehn Tage später überquerten Cathérine und ihre Eskorte, am Fuß der Pyrenäen angekommen, den Sturzbach Oloron auf der uralten befestigten Brücke von Sauveterre. Die Reise war ohne Zwischenfälle verlaufen, denn in den durchquerten Ländern, die zum größten Teil der mächtigen Familie der Armagnac gehörten, waren die Engländer kaum zu fürchten. Die befestigten Plätze, die sie noch in ihrer Gewalt hatten, lagen vorwiegend in Guyenne, und wenig erpicht, sich mit dem Grafen Jean IV. von Armagnac anzulegen, dessen Politik ihnen gegenüber sich seit einiger Zeit merkwürdig geschmeidig zeigte, hüteten sie sich wohl, auf seine Gebiete überzugreifen.

Über Cahors, Moissac, Lectoure, Condom, Eauze, Aire-sur-1'-Adour und Orthez hatten Cathérine, Ermengarde und ihre Leute endlich die Berge erreicht, die sie von Spanien trennten. Aber Catherines Geduld war am Ende. Seit man sich von den Pilgern Gerbert Bohats getrennt hatte, schien Ermengarde es auf einmal nicht mehr eilig zu haben, ihren Bestimmungsort zu erreichen. Sie, die noch am Tage vor ihrer Abreise Catherines Ungeduld angespornt und ihr überzeugend demonstriert hatte, warum es von Vorteil sei, die zu langsame Kolonne der Pilger hinter sich zu lassen – jetzt schien sie auf einmal ein boshaftes Vergnügen daran zu haben, ihren Marsch zu verzögern! …

Anfänglich hatte Cathérine keinen Verdacht geschöpft. Man hatte einen Tag in Figeac bleiben müssen, um Josse Rallard ein Pferd zu besorgen. Auch in Cahors hatte man zwei Nächte verbracht: Es war ein Sonntag, und Ermengarde versicherte, daß es kein Glück bringe, auf den Pilgerwegen den Tag des Herrn nicht zu achten. Das konnte man akzeptieren, und aus Freundschaft hatte Cathérine ihre Ungeduld gezügelt.

Als sich die Edle jedoch in Condom aufhalten wollte, um an einem Fest teilzunehmen, hatte die junge Frau sich nicht enthalten können zu protestieren.

»Vergeßt Ihr, daß ich diese Reise nicht zum Vergnügen mache und daß Feste mir völlig unwichtig sind? Ihr kennt meine Eile, nach Galicia zu kommen, Ermengarde. Wie kommt Ihr dazu, mir von lokalen Festen zu sprechen?«

Ohne sich aus der Fassung bringen zu lassen, hatte Ermengarde, nie um eine Antwort verlegen, eingewandt, daß eine zu starke geistige Anspannung für das reibungslose Funktionieren des Körpers ungünstig sei und daß es heilsam sei, selbst in Eile, sich etwas Zeit zu lassen. Natürlich hatte Cathérine nichts davon hören wollen.

»In diesem Falle hätte ich lieber mein Gelübde halten und bei Gerbert Bohat bleiben sollen!«

»Ihr vergeßt, daß es nicht von Eurem Willen abhing, bei den Pilgern zu bleiben, meine Liebe!«

Cathérine hatte ihre Freundin neugierig angesehen.

»Ich verstehe Euch nicht, Ermengarde. Ihr schient begierig, mir zu helfen, und jetzt könnte man annehmen, daß Ihr Eure Meinung geändert habt!«

»Eben weil ich Euch helfen will, predige ich Euch Mäßigung. Wer weiß, ob Euch nicht noch grausame Enttäuschungen bevorstehen? In diesem Fall kommen sie immer noch früh genug!«

Diesmal hatte Cathérine nichts geantwortet. Die Worte ihrer Freundin entsprachen zu sehr ihren eigenen Ängsten, um nicht ein empfindliches Echo zurückzulassen. Dieses Unternehmen war wahnsinnig, sie wußte es wohl, und es war nicht das erstemal, daß sie sich vor Augen hielt, wie gering ihre Chancen waren, Arnaud zu finden. Oft, in der Nacht, in der tiefen Dunkelheit, in den dunklen und drückenden Stunden, in denen die verzehnfachten Ängste einen nicht schlafen lassen und das Herz klopft, ohne daß man es beruhigen kann, lag sie wach auf dem Rücken, die großen Augen aufgerissen, und versuchte, ihre Vernunft zum Schweigen zu bringen, die ihr riet, nach Montsalvy zu ihrem Kind zurückzukehren und dort mutig ein vollkommen Michel gewidmetes Leben zu beginnen. Mitunter war sie bereit nachzugeben, doch wenn der anbrechende Morgen die deprimierenden Gespenster verjagte, hing Cathérine nur noch verbissener der Verfolgung ihres Traumes nach: Arnaud wiederzusehen, und sei es auch nur einen Augenblick, einmal noch mit ihm zu sprechen. Dann …

Doch sie konnte sich immer weniger des unerfreulichen Eindrucks erwehren, daß sie bei ihrer Freundin statt Ermutigung, die sie so dringend brauchte, nur noch Skepsis und vorsichtige Ratschläge fand. Ermengarde, wie sie sehr wohl wußte, hatte Arnaud nie gemocht. Sie schätzte an ihm die alte Familie, die Tapferkeit und Begabung des Kriegsmannes, aber sie war von jeher überzeugt, daß Cathérine an seiner Seite nur Leid und Enttäuschung finden könnte.

An diesem Morgen jedoch, während die Hufe ihres Pferdes auf den Steinen der alten Brücke widerhallten, war nur Platz für Hoffnung im Herzen Catherines. Taub gegen das Donnern des schäumenden Sturzbachs, dessen weiße Wasser unter ihr rauschten, betrachtete sie mit größter Verblüffung die riesigen Berge, deren scharfgezackte Gipfel von blitzenden Schneehauben bedeckt waren. Für das Kind des flachen Landes, das sie war und das als Berge nur die sanften Hügel der Auvergne gekannt hatte, bildete diese gigantische Kulisse eine ebenso furchteinflößende wie erhebende Schranke, über die kein Weg zu führen schien. Sie konnte sich nicht enthalten, laut zu denken:

»Nie werden wir diese Berge überwinden …«

»Ihr werdet sehen, daß wir's können, Dame Cathérine«, entgegnete Josse Rallard. Treu seiner Gewohnheit, die er seit dem Aufbruch aus Figeac angenommen hatte, ritt er stets auf der Höhe der Kruppe ihres Pferdes. »Der Weg zeigt sich, je weiter man ihn verfolgt.«

»Aber«, fügte sie traurig hinzu, »wer nicht mehr weitergehen kann oder sich in diesem schrecklichen Land verirrt, kann nicht auf Rettung hoffen …« Plötzlich mußte sie an Gauthier denken, dessen mächtige Gestalt, die bis dahin unverwüstlich zu sein schien, die hohen Berge verschlungen hatten. Bis zu diesem Moment hatte Cathérine gehofft, ihn wiederzufinden, aber dies nur, weil sie die echten Berge nicht kannte. Wie konnte man solchen Riesen ihre Beute entreißen? …

Ohne ihre Gedanken zu kennen, warf Josse ihr einen neugierigen und unruhigen Blick zu.

Aber dunkel ahnend, daß sie des Trostes bedurfte, erwiderte er fröhlich.

»Warum dann? Wißt Ihr nicht, daß dieses Land das Land der Wunder ist?«

»Was wollt Ihr damit sagen?«

Ermengarde einen kurzen Blick zuwerfend, die mit ihren Leuten etwas zurückgeblieben war und die Brückengebühren bezahlte, deutete Josse auf die schäumenden Wasser des Sturzbachs:

»Seht Euch dieses Flüßchen an, Dame Cathérine. Es sieht aus, als hätte man nicht die geringste Chance, lebend davonzukommen, wenn man es wagte, sich hineinzustürzen. Nun, vor drei Jahrhunderten ließ der König von Navarra seine junge Schwester Sancie de Béarn, die des Versuchs angeklagt war, ihr Kind zu töten, mit gefesselten Füßen und Händen in diesen Sturzbach werfen. Falls sie lebend wieder herauskäme, sollte ihre Unschuld erwiesen sein …«

»Gottesgericht?« rief Cathérine, mit Entsetzen auf das schäumende Wasser blickend.

»Ja, ein Gottesgericht! Die junge Gräfin war zart, ohne Kräfte und schwer gefesselt. Man warf sie von der Höhe dieser Brücke hinunter, und keiner der Mitwirkenden hätte einen Sou für ihr Leben gegeben. Trotzdem spülte sie das Wasser sicher und gesund ans Ufer. Natürlich haben die Leute von einem Wunder gesprochen, aber ich glaube, daß sich dieses Wunder jederzeit wiederholen könnte. Es genügt, daß Gott es will, Dame Cathérine. Was bedeuten also schon die Berge, die tosenden Elemente oder selbst die unerbittliche Zeit? Es genügt zu glauben …«

Cathérine antwortete nicht, aber der Dankesblick, den sie ihrem improvisierten Knappen zuwarf, bewies ihm, daß er genau getroffen und soeben einen Teil seiner Dankesschuld abgetragen hatte. Mit großer Ruhe sah sie, wie die Strahlen der Sonne die weißen Gletscher entflammten.

Sie ritt einen Augenblick dahin, ohne zu sprechen, die Augen auf die wunderbare rosige Feuersbrunst gerichtet, die sich da oben, ganz nahe dem Himmel, zeigte, mit ihren Gedanken völlig abwesend.

Josse hatte seinen Platz hinter ihr wieder eingenommen, aber plötzlich hörte sie ihn hüsteln, richtete sich auf und warf einen etwas verwirrten Blick zu ihrem Knappen zurück.

»Was ist denn?«

»Wir sollten vielleicht auf die Dame de Châteauvillain warten. Sie ist immer noch auf der Brücke.«

Cathérine hielt ihr Pferd an und drehte sich um. Tatsächlich schien Ermengarde sich noch angelegentlich mit dem die Wache befehligenden Sergeanten zu unterhalten. Cathérine hob die Schultern.

»Was macht sie denn da? Wenn das so weitergeht, werden wir Ostabat heute abend nicht mehr erreichen.«

»Wenn es nur von Dame Ermengarde abhinge«, bemerkte Josse ruhig, »würden wir es nicht einmal morgen abend erreichen.«

Cathérine hob die Brauen und warf ihm einen erstaunten Blick zu:

»Ich verstehe nicht! Erklärt Euch!«

»Ich möchte sagen, daß die edle Dame ihr möglichstes tut, um unsere Reise zu verlangsamen. Es ist ganz einfach: Sie erwartet jemand.«

»Jemand? Und wen?«

»Ich weiß es nicht. Vielleicht diesen Sergeanten, der uns nach Aubrac so abrupt verlassen hat. Habt Ihr nicht bemerkt, Dame Cathérine, daß Eure Freundin oft zurückblickt?«

Die junge Frau begnügte sich damit, zustimmend zu nicken. Tatsächlich hatte sie mehr als einmal Ermengardes Treiben beobachtet. Nicht nur, daß sie keinerlei Eile hatte, nach Galicia zu kommen, sondern sie warf von Zeit zu Zeit auch besorgte Blicke hinter sich. Zornröte stieg Cathérine in die Wangen. So würde sie jedenfalls nicht mehr länger mit sich umspringen lassen, was immer für gute Gründe Ermengarde auch haben mochte. Auf der Brücke palaverte die Gräfin noch immer. Cathérine trieb ihr Pferd an:

»Vorwärts, Josse! Sie wird uns schon einholen! Ich jedenfalls habe beschlossen, noch heute abend in Ostabat zu sein. Um so schlimmer, wenn wir Madame de Châteauvillain hinter uns lassen. Ich weigere mich, noch mehr Zeit zu verlieren!«

Der große Mund Josses verzog sich bis zu den Ohren in einem stummen Feixen, während er sein Pferd in die Spur der jungen Frau lenkte.

Halb Feste, halb Hospiz, hatte die uralte Umspannstation Ostabat viel von ihrem ursprünglichen Wohlstand verloren. Die Zeiten waren schwer, da war besonders der seit Jahren wütende Krieg, der das Königreich Frankreich verwüstete – dies alles hatte die Pilgerfahrten gedrosselt. Die guten Leute zögerten um so mehr, sich auf die Landstraßen zu wagen, als die Truppen, sowohl englische wie französische, sich mit den Straßenräubern verbanden, was die gewöhnlichen Gefahren der großen Überlandwege noch um vieles erhöhte. Man mußte schon in großer Not oder bar jeder irdischen Güter sein, um sich auf eine solche Reise einzulassen, von der es oft keine Rückkehr gab. Und die großen Menschenmassen, die das alte, am Knotenpunkt dreier großer Straßen aus der Auvergne, aus Burgund und der Ile de France gelegene Hospiz hatte vorüberwandern sehen, schmolzen zu einigen durch das, was sie auf dem Weg gesehen hatten, bereits eingeschüchterten Gruppen zusammen, die außerdem die Gefahren der nahen Berge fürchteten, unter denen die berüchtigten baskischen Banditen nicht die geringste waren, ganz zu schweigen von den beunruhigenden, heimlichen Grenzführern, die ihre Dienste nur anboten, um den allzu vertrauensseligen Reisenden noch besser ausplündern zu können. Mehr als ein Raubritter hatte seinen befestigten Turm am Hang des großen Gebirges. Er diente diesen Galgenstricken als Schlupfwinkel.