»Wenn Hoheit befehlen«, sprach sie leise, »aber ich habe seit langer Zeit keinen Ton mehr gesungen. Mir fehlt die Muße jetzt.«

Ein leises Hüsteln der fürstlichen Frau ließ sie einhalten. Durch die Bäume kam der erste kühle Luftzug des Abends.

Der Herzog sprang empor. »Es wird Zeit«, sprach er; »die Wagen!«

Der herzogliche Diener, der unbeweglich an der Gartenpforte gestanden hatte, erhielt von Palmer einen Wink, und in kürzester Zeit waren die fürstlichen Gäste eingestiegen, und die Wagen brausten auf der Straße hin.

»Wir müssen wohl auch an den Abschied denken, Lothar?« sagte Beate zu ihrem Bruder. Er nickte bejahend und schüttelte Joachim die Hand. Als er sich zu Klaudine wenden wollte, war sie verschwunden.

Beate, die Sonnenschirm und Hut holen wollte, traf sie anscheinend ruhig in der Küche beschäftigt, ein Tellerchen mit Erdbeeren zu füllen für Fräulein Lindenmeyer, wie sie sagte.

»Na, wo steckst du denn? Wir wollen fort, Klaudine«, begann Beate und zog die gewebten seidenen Handschuhe an. »Das war übrigens ein recht bewegter Tag heute. Ich gratuliere dir zu dem gutsnachbarlichen Verkehr, es kann ja sehr gemütlich werden. Halte dir nur immer etwas im Hause, ein paar kleine Kuchen oder dergleichen, die gnädige Frau von Altenstein wird öfter kommen, sie gefällt sich in der Rolle, wie weiland Königin Luise auf Paretz. Ach Gott, Klaudine, bei dieser Armen ist es, glaube ich, die Angst, die Todesangst, die sie alles mögliche beginnen läßt. Aber ich muß fort, die dicke Berg wird schon Hunger haben, und in die Speisekammer können sie nicht, ich habe zugeschlossen. Leb wohl, Klaudine, komm bald einmal und bringe das Kind mit.« Sie drückte ihr die Hand und eilte hinaus.

Klaudine trug Fräulein Lindenmeyer die Erdbeeren hin und fand diese noch immer im Unterrock und der rot bebänderten Haube. Sie hielt die Kleine auf den Knieen und erzählte ihr eine Geschichte von einem wunderschönen Mädchen, das einen Prinzen heiratet.

»Einen Herzog«, verbesserte die Kleine, und Klaudine erblickend fragte sie: »Darf ich noch hier bleiben, Tante?«

Aber die Tante hörte nicht, sie horchte auf das Rollen eines Wagens, das im Walde verklang.

»O Jesus, Fräulein Klaudine!« rief Fräulein Lindenmeyer, froh, endlich über das große Ereignis sprechen zu können, »was ist unser allergnädigster Herr für ein schöner Mann! Jeder Zoll ein Herzog! Und wie er da durch den Garten schritt neben unserem Herrn, da fiel mir ein, was Schiller sagt: ›soll der Sänger mit dem König gehen, sie beide wohnen auf der Menschheit Höhen.‹ Gnädiges Fräulein, ach, hätte es doch die Großmama erlebt, daß Sie da wie eine Familie auf der Plattform gesessen und Erdbeeren gegessen haben. Ach, Fräulein Klaudinchen!«

»Tante Klaudine, mir gefällt Onkel Lothar besser«, plauderte das Kind, »Onkel Lothar hat gutere Augen.«

Die junge Dame wandte sich plötzlich ab und schritt ohne ein Wort der Tür zu. Dann stieg sie die schmale Treppe hinauf und klopfte an Joachims Tür. Sie fand ihn, im Zimmer auf und ab gehend mit einem fast hilflosen Gesichtsausdrück.

»Ich bin völlig aus dem Sattel geworfen mit meinem Gedankengang«, klagte er. »Oh, meine schöne Einsamkeit! Klaudine, verstehe mich nicht falsch! Du weißt, wie sehr ich unsere fürstliche Familie liebe und verehre, wie stolz ich bin, daß meine schöne Schwester sie herzieht in unseren Waldwinkel. Aber, Klaudine, du bist böse, weil ich das sage?« fragte er, den Schatten in ihrem Gesicht erst jetzt gewahrend.

Sie schüttelte den Kopf. »Nein, Joachim, weshalb wohl? Aber du tust mir leid, und wir wollen es ehrlich den Herrschaften sagen, daß du bei deiner Arbeit durch nichts – hörst du? – durch nichts gestört werden darfst.«

Er blieb stehen und strich ihr über die Wange. »Nein, Kleine«, erwiderte er, »als ehemalige Hofdame mußt du am allerbesten wissen, daß das nicht möglich ist. Es war eine hinreißende Liebenswürdigkeit von der Herrschaft, uns hier zu besuchen. Eine Abfertigung, wie Beate sie in ihrer derben Manier gab, darf sie von uns nicht hören. Diese Beate«, fuhr er fort, »benahm mir den Atem, als sie die Antwort herauspolterte. Ich verstehe Lothar nicht, der das so ruhig und gelassen mit anhören kann, mir ginge es durch und durch!«

»Aber deine Arbeit, Joachim? Sei versichert, die Herzogin würde untröstlich sein, erführe sie später, daß sie dich hinderte.«

»Sie ist ein liebes Gemüt, Klaudine, begeistert für alles Schöne, und sie ist krank, sehr krank. Hörtest du den Husten? Er schnitt mir ins Herz. So hustete sie auch, Klaudine! Oh, diese gräßliche Krankheit! Nein, nein, Klaudine, schon dieses verlöschenden Lebens wegen mag das Eulenhaus ihr offen stehen zu jeder Zeit.«

Die Schwester antwortete nicht mehr. Sie war zu dem Bogenfenster getreten, durch welches rotglühendes Abendlicht strahlte, und schaute mit bangen Augen über die Wipfel der Bäume hinweg. Nein, sie konnte, sie durfte ihm keine neue Sorge aufbürden, durfte ihn nicht beunruhigen. Vielleicht war sie auch erstorben, die blinde, alles vergessende Leidenschaft? Keiner jener heißen Blicke war ihr heute gefolgt, sein Auge hatte sie kaum gestreift. Sie nickte mechanisch mit dem Kopfe, als wollte sie einer inneren Stimme widersprechen. »Doch, vielleicht seine Ritterlichkeit, seine Großmut haben gesiegt, und der Anblick des verlöschenden Lebens –«

Der Bruder war zu ihr getreten und hatte ihre Hand ergriffen. »Macht dich die Einsamkeit traurig, Klaudine?« fragte er weich. »Heute, wo ein glänzendes Streiflicht deines vergangenen Lebens in unser Haus fiel, da erschien es mir so unsagbar armselig, da kam mir der Gedanke, es sei eine Sünde, dich hier zu fesseln.«

»Joachim«, rief sie lachend, aber ihre Augen schimmerten feucht, »wenn du wüßtest, wie gern ich hier bin, wie heimisch, wie traut mir diese Armseligkeit ist, du würdest nie wieder solche Dinge reden! Nein, ich bin nicht traurig, ich bin eigentlich so herzensfroh wie lange nicht. Und nun will ich hinunter und unser Abendessen richten. Es besteht zwar nur aus Blattsalat und weichen Eiern, aber du glaubst nicht, Joachim, wie zart Heinemanns Salat ist.«

Sie hielt ihm die Wange zum Kusse hin und ging, ihm noch einmal zunickend, aus der Tür.

Ein paar Stunden später lag das Eulenhaus schweigend und ruhig, als hätte es der Wald mit seinem Rauschen in den Schlaf gesungen. Nur aus Klaudines Zimmer schimmerte noch Licht. Seine Bewohnerin saß vor dem altmodischen Schreibtischchen, das auf lächerlich dünnen Beinchen sein Gleichgewicht behauptete und einstmals zu der Einrichtung von Großmamas Mädchenstube gehört hatte. Sie hatte mehrere Fächer aufgeschlossen und kramte in Briefen und trockenen Blumen und allerlei Kästen umher. Ja, diese stolze, schöne Hofdame mit dem tadellos kühlen Wesen, sie war doch nur ein Mädchen, wie die anderen auch, ein echtes Mädchen mit zaghaftem Herzen und heimlichem Bangen und Hoffen. Wie hätte sie sonst wohl ein kleines Streifchen Papier, darauf einige Noten geschrieben, mit so tränenschimmernden Augen an die Lippen drücken können, wie sie es eben tat? Es waren nur wenige Reihen flüchtig geschriebener Noten, und darunter standen die Worte: »Willst du dein Herz mir schenken, so fang es heimlich an.« Sie hatte es einst auf Wunsch ihrer alten Hoheit singen sollen, und die Noten hatten gefehlt, und da war einer aus dem gewählten kleinen Kreise aufgestanden, um am Nebentischchen aus dem Gedächtnis die innige Melodie niederzuschreiben, und sie hatte dann das Lied gesungen. Sie fühlte, sie hatte schön gesungen an jenem Abend. Und als sie geendet hatte, sah sie ein Paar Männeraugen, die mit unverhohlener Bewunderung an ihr hingen. Nur dies eine Mal, nie wieder! Es hatte auch kaum eine Sekunde gedauert, dieses Auge-in-Auge, dann senkten sich seine Blicke zur Prinzeß Katharina, neben deren Sessel er stand. Ein ritterlicher Kavalier, stets den Launen seiner Dame mit lächelnder Nachlässigkeit gehorsam! Und die schwarzen, dreisten Augen dieser kleinen Prinzessin hatten ihn so strahlend angeschaut, als wollten sie die Worte wiederholen, aber als Frage: »Willst du dein Herz mir schenken?«

Das war wohl längst aus seinem Gedächtnis geschwunden, sonst würde er nicht, als sie neulich von seiner Liebe zur Musik sprach, so geradezu feindselig geworden sein, und sie hatte doch diesen Abend nimmer vergessen können. Da war es ja auch, wo ein Paar andere Augen zum erstenmal mit jenen heißen, glühenden Blicken die ihren suchten, sie erschreckend bis zum Tode.

»Willst du dein Herz mir schenken?«

Sie sprang empor und ging vom Schreibtisch zum Fenster und wieder zurück in der alten qualvollen Unruhe. Ihre Augen irrten wie hilfesuchend durch das Zimmer, und dann blieb sie doch wieder vor dem Schreibtisch stehen und sah auf das kleine Pastellbild des lieben Frauengesichtes, das dort im reichgeschnitzten Rahmen hing, dessen obere Verzierung den Wappenhirsch zeigte. Der Stern zwischen dem Geweih, der aus Metall hergestellt, blitzte seltsam im flackernden Lichtschein. Ein bitterer, weher Ausdruck flog um ihren Mund.

»Meine Mutter«, sagte sie leise, »wenn du noch lebtest, und ich könnte dir alles erzählen!«

9.

Am anderen Mittag zog ein starkes Gewitter hinter den Bergen empor und entlud sich über dem Paulinental. Der alte Heinemann sah seufzend, wie seine Nelken vom Sturme zerzaust wurden und wie das Wasser auf den Beeten floß, die zarten Wurzeln der frisch gepflanzten Gemüse lockerte und wohl gar dieselben wegschwemmte.

»O Jesus!« seufzte er in der Küche, wo er die Abwäsche besorgte wie ein richtiges Küchenmädchen, »sehen Sie nur, gnädiges Fräulein, das regnet sich fest.« Und er zeigte durch das Fenster nach den tannenbewaldeten Bergen hinüber, wo an einigen Stellen eine weiße Dunstsäule aus den Wipfeln emporstieg. »Der Hirsch raucht sein Pfeifchen, vor drei Tagen hört es nicht auf zu regnen, darauf können Sie sich verlassen. Wenn's dann nur vorbei ist! Aber mitunter regnet es sich so in aller Gemütlichkeit ein. und dann ist's hier trübe.«

Und richtig, so kam es, ein echter Gebirgsregen begann. Auf der abschüssigen Landstraße rieselte das Wasser langsam hinunter, der kleine Waldbach drüben zwischen den Tannen glich einer schmutzigen Lehmbrühe und alle Blumen hingen die Köpfchen.

Die Kleine stand mit ihrer Puppe am Fenster von Fräulein Lindenmeyers Zimmer, drückte sich das Näschen platt an den Scheiben und fragte, wann es wieder aufhöre naß zu sein da draußen. Im Garten sei es schöner. Und die alte Dame saß eifrig strickend daneben und wandte gewohnheitsgemäß den Kopf, um durch die Scheiben nach Vorübergehenden zu spähen, aber vergeblich.

Klaudine machte in der Wohnstube Studien auf der Nähmaschine und bekam vor Freude rote Wangen, als sie die erste tadellose Naht fertig hatte. Ja, die Arbeit, auch die verachtete mechanische weibliche Handarbeit, ist doch ein Segen, sie führt über manche Stunde des Kummers hinweg. Joachim aber saß ganz vertieft über seinen Büchern. Es sei ein rechtes Wetter um zu schaffen, sagte er bei Tische, und sobald er gespeist hatte, ging er wieder an sein Manuskript und hörte und sah nichts mehr.

Am folgenden Tage regnete es noch immer, und am dritten noch mehr. Im Altensteiner Herrenhause sah es ebenso mißmutig aus wie in der Natur, die Herzogin fühlte sich matt und angegriffen und hustete. Das trübe Wetter brachte ihr trübe Zukunftsgedanken. Sie hatte versucht, dieser Stimmung Herr zu werden, indem sie an ihre Schwester Briefe schrieb, aber da waren plötzlich Tränen auf das Papier gefallen, und sie wollte doch nicht, daß die schwergeprüfte junge Witwe in dem Gedanken noch bekümmerter würde. Sie war dann hinunter gestiegen, wo in dem großen Mittelsaal ihre beiden ältesten Söhne Fechtstunde erhielten, und einen Augenblick hatte das kecke Draufgehen der schönen blondhaarigen Knaben sie mit Entzücken erfüllt, dann kam wieder die alte Schwäche über sie und Frau von Katzenstein mußte sie nach ihrem Ruhebette zurückführen. Sie ließ sich nach einem Weilchen den jüngsten Prinzen bringen, ein prachtvolles, gesundheitstrotzendes Kerlchen, das ihr durch sein Erscheinen auf dieser Welt den letzten Rest ihrer Kraft genommen hatte, und sie sah ihm mit seliger Lust in die lachenden blauen Augen. Wie glich er dem Vater, diesem über alles geliebten Manne! Und plötzlich erhob sie sich und schritt, das Kind auf dem Arme, durch das Zimmer der Tür zu.

Frau von Katzenstein und die Kammerfrau stürzten herbei und wollten ihr den kleinen Prinzen abnehmen, sie wehrte lächelnd: »Ich möchte den Herzog überraschen, bleiben Sie, bitte.« Und auf den Zehen schlich sie sich über das spiegelnde Parkett des Salons, der ihre Zimmer von den seinen trennte, und stand hochatmend vor der Tür seines Gemaches.

Es war doch schön, ihn hier in Altenstein so nahe zu haben, zu ihm eilen zu können, wie jede andere glückliche Frau, die dem Vater das Kind zuträgt. Sie nahm das Händchen des Kleinen und ließ es pochen an das Getäfel der Tür. »Papa!« rief sie, »lieber Papa, mach auf, wir sind hier, die Liesel und der Adi!«