»Ja, das ist alles, was ich von Rechts wegen mitnehmen darf«, sagte Herr von Gerald, ihren Blick verfolgend. »Just nicht viel mehr, als der letzte Stammhalter der Gerolds bei seinem Eintritt ins Leben unwissentlich beansprucht hat – die allernötigste Bekleidung eines Leibes. Doch nein – was für ein schwarzer Undank!« Er schlug sich vor die Stirn, und seine Augen leuchteten glücklich auf. »Höre, Klaudine, wie ist das doch seltsam! Besinne dich! Kennst du vielleicht einen Freund unseres Hauses, so einen, der unbedenklich zweitausend Taler mit der Rechten aus der Tasche nimmt und hingibt, ohne daß die Linke es merkt? Ich kenne keinen, wie ich auch sinne und mein Gedächtnis zermartere, keinen auf der Gotteswelt! Und da werden mir nun gestern einige Kisten hier nebenan in das Zimmer gestellt, so wie mit Fug und Recht, denn ich sollte sie ja in der Auktion durch einen Bevollmächtigten zurückerstanden haben – ich, der arme Hiob! Ich glaube, ich habe den Trägern ins Gesicht gelacht. Aber sie sind gegangen und haben sie mir absolut nicht wieder abgenommen, meine Bücher, meine kleine, kostbare Bibliothek, um die mir die Augen doch feucht geworden sind, als profane Hände sie, Band um Band, in Waschkörbe warfen, um sie zur Versteigerung hinüberzuschaffen, meine lieben Bücher und treuen Einsamkeitsgenossen! Wer sie mir aus dem Schiffbruch gerettet hat, er mußte es wissen, daß er mir geistigen Lebensodem und einen festen Stab zur Wanderung in die Wüste mit ihnen zurückgegeben hat, und dafür sei er dreifach gesegnet, der edle Unbekannte mit dem goldenen Herzen! Ja, nicht wahr, auch du sinnst vergebens, Klaudine? Gib es auf, das Rätsel lösen wir beide nicht!«

Er schob sein Manuskript in die bereitliegende Mappe, und Klaudine packte die Habseligkeiten der kleinen Elisabeth in eine Korbwanne, wobei die dicken Händchen des Kindes nach Kräften behilflich waren.

Zehn Minuten später stand auch dieser letzte Zufluchtsort des Heimatlosen verlassen und er durchschritt, das Händchen seines Kindes in der seinen und die Schwester am Arme führend, den nächsten Korridor.

Ein schöneres Geschwisterpaar ließ sich kaum denken als diese zwei Menschen, die umflorten Blickes zum letztenmal das Vaterhaus durcheilten, das heimische Nest, an dem die Gerolds Jahrhunderte hindurch gebaut und verschönert hatten, und in welches nun fremde Vögel einflogen, Vögel mit goldenen Federn, denn das Gut war um sehr hohen Preis von unbekannter Seite erstanden worden.

2.

Im Treppenhause stießen sie auf eine Dame, die aus dem Seitenflügel kam, in welchem die Versteigerung stattfand. Sie nahm eben, besorgt und sichtlich unwillig vor sich hinmurmelnd, den Saum ihres braunen Kleides auf, denn auf den Stufen lag dicker Staub, den in all den Tagen des lebhaften Menschenverkehrs kein Besen weggefegt haben mochte. Die Röte eines jähen Erschreckens färbte ihr Gesicht, als sie aufblickend die beiden vor sich sah.

»Ah, Verzeihung!« sagte sie mit einer tiefen, unbiegsamen Stimme, indem sie zurücktrat. »Ich versperre Ihnen den Weg!«

Herr von Gerold sah einen Augenblick aus, als schwebe es ihm auf den Lippen, zu sagen: »Muß ich auch noch diesen Kelch leeren?« Aber er bezwang sich und entgegnete mit einer höflichen Verbeugung: »Der Weg aus diesem Hause steht uns allzuweit offen, ein Augenblick der Verzögerung kann uns nur lieb sein.«

»Es ist ja ein ganz schauderhafter Schmutz auf dieser Treppe – nein, wirklich empörend!« polterte die Dame, als habe sie seine Antwort gar nicht gehört, und schüttelte abermals an ihren Röcken. »Ich gehe deshalb nie zu einer Versteigerung, grundsätzlich nicht – was muß man da für alten Staub schlucken! Aber Lothar ließ mir ja keine Ruhe, er schrieb mir zweimal dringend, und da mußte ich wohl oder übel herüberfahren, um das Silbergeschirr zu erstehen. Er wird sich wundern – bis zu einer erstaunlichen Summe bin ich gesteigert worden.«

»Um meiner Großmama willen bin ich deinem Bruder dankbar für den Ankauf, Beate – ihr ganzes Herz hing an den alten Erbstücken«, sagte Klaudine.

»Nun ja, wie konnte er anders? Wir haben ja die andere Hälfte dieser Erbstücke und dürfen doch nicht leiden, daß unser Wappen auf den ersten besten Protzentisch kommt«, entgegnete die Dame achselzuckend. »Aber wäre es nicht zuerst an dir gewesen, Klaudine, das Silberzeug eben um deiner Großmama willen zu retten? Wenn ich nicht irre, hat sie dir ja besonders einige tausend Taler vermacht.«

»Ja, einen Notpfennig, wie es im Testament steht. Meine praktische Großmama wäre die erste, die mir zürnte, wenn ich das Vermächtnis geopfert und Silber, aber kein Brot im Schranke hätte!«

»Kein Brot? Du, Klaudine, du, die stolze, verwöhnte Hofdame?«

»War ich je stolz?« Sie schüttelte hold lächelnd den Kopf. »Und verwöhnt? Nun ja, das will ich glauben! Am Hofe lernt man nicht arbeiten.«

»Das hast du schon vorher gekonnt, Klaudine«, fuhr die Dame heraus. »Das heißt –« suchte sie sich hastig zu verbessern, aber es kam kein Nachsatz.

»Sprich nur weiter, du hast ja recht«, sagte Klaudine gelassen. »Die Art Arbeit, die du meinst, lernt man auch im Institut nicht. Aber ich will es nunmehr versuchen, ich will Hausfrau werden in meinem alten Eulenhaus.«

»Du willst doch nicht sagen –«

»Daß ich bei Joachim bleiben werde! Allerdings. Braucht er nicht jetzt doppelt Liebe und schwesterliche Hingebung?« Sie schmiegte sich fester an den Bruder und sah zärtlich zu ihm auf.

In das bläßliche Gesicht der Dame schoß eine dunkle Blutwelle. Sie bückte sich rasch zu der kleinen Elisabeth hinab und wollte ihr die Wange streicheln, aber das Kind sah sie finster und mißtrauisch von der Seite an. »Geh fort, du –« wehrte es die Liebkosung ab.

Herr von Gerold fuhr unwillig empor.

»Ach, lassen Sie doch das kleine Ding! Ich bin es gewöhnt, daß die Kinder mich nicht mögen«, sagte die Dame mit einem harten Auflachen und streckte die Hand schützend über das blonde Köpfchen hin. »Aber was ich sagen wollte –« wandte sie sich wieder zu Klaudine. »Du wirst anfangs schweres Lehrgeld geben müssen, man braucht nur deine Hände anzusehen. Das wird elegante Toiletten genug kosten, ehe du es lernst, in der hausleinenen Schürze an den Herd zu treten und ein richtiges Essen herzustellen, das heißt –« suchte sie sich abermals zu verbessern, während ihr Blick scheu die niedergeschlagenen Augen der schönen Hofdame streifte. »Pardon, Kind! Ich mein' es ja nicht böse, ich wollte dir nur für die erste Zeit eines meiner Mädchen anbieten. Meine Leute sind gut geschult.«

»Das ist bekannt. Ihr Ruhm als Hausfrau ist längst über das Weichbild der Geroldshöfe hinausgedrungen«, fiel Herr von Gerold nicht ohne Sarkasmus ein. »Aber wir müssen danken. Sie werden sich selbst sagen, daß wir keine Dienerschaft mehr halten können. Wie auch meine Schwester die schwierige Aufgabe anfassen wird, ich bin zufrieden und unaussprechlich dankbar. Sie ist und bleibt mein guter Engel, auch wenn ihr anfangs das >richtige Essen< mißglücken sollte.«

Er lüftete mit einer vornehmen Verbeugung den Hut und stieg mit den Seinen die Treppe hinab. Die Dame folgte stillschweigend, denn auch ihr Wagen stand ja drunten vor dem Tor des Gutshauses.

Mittlerweile hatte Friedrich, der alte Kutscher, den Koffer hinuntergetragen, und jetzt kam er, die Korbwanne mit dem Spielzeug auf den Armen, an den Hinabsteigenden vorüber. Das kleine Mädchen horchte besorgt auf das Porzellangeklirr im Korbe und reckte sich auf, um einen Einblick in ihre Besitztümer zu gewinnen, und da war in der Tat ein vorwitziger Puppenliebling eben im Begriff, über den Korbrand zu spazieren. Fräulein Beate griff über den Kopf der Kleinen hinweg schleunigst nach der Ausreißerin.

»Tu meinem Lenchen nichts mit deinen großen Händen!« schrie das Kind in demselben Augenblicke auf und zerrte die Dame am Rocke.

»Ach, das arme Würmchen, hast du es auch schon in der höfischen Zucht?« lachte Fräulein Beate kurz auf, als Klaudine die Hand erschrocken auf den Mund des Kindes legte. »Warum soll es denn die Wahrheit nicht sagen? Meine Hände sind ja groß und Komplimente werden sie nicht kleiner machen. Und ihr Ungeschick in allen zarten Dingen mag man ihnen auch auf den ersten Blick ansehen. Das kleine Ding protestiert dagegen, wie alle unsere Pensionsschwestern. Du mußt's ja noch wissen, Klaudine!«

Mit einer linkischen Verbeugung schritt sie die letzten Treppenstufen hinab nach dem Portal und winkte ihren Wagen herbei.

Die Gestalt, wie sie so unter dem Torbogen stand, war schön und kraftvoll gebaut, aber sie hatte eckige Bewegungen, und das luftgebräunte Gesicht unter den glatt und streng aus der Stirn gestrichenen Haaren milderte den unliebenswürdigen Eindruck der Erscheinung durchaus nicht.

Herr von Gerold fuhr scheu zurück, als er aus dem Tor trat. Er wäre wohl am liebsten in den dunkelsten Winkel des Hausflurs geflüchtet, Menschentrubel war ihm verhaßt, und hier auf dem freien Platze vor dem Hause war ein Durcheinander wie auf dem Jahrmarkt. Da wurden die Plüschmöbel seines Salons auf einen Leiterwagen verladen, dort schleppten Frauen ganze Lasten Federbetten herbei, Küchengerät polterte und klirrte beim Verpacken, und dabei gingen noch einmal die gezahlten Preise von Mund zu Mund, unter Lachen und Fluchen, je nachdem man gekauft hatte.

Zum Glück hielt der Mietwagen, in welchem Klaudine gekommen war, in der Nähe des Haustores. Man stieg rasch ein. Friedrich stellte die Korbwanne mit dem Spielzeug auf den Vordersitz, dann drückte er mit einem betrübten Abschiedsblick den Schlag zu, und fort brauste der Wagen, vorüber an all dem trauten Hab und Gut des Hauses, auf welches jetzt der freie, blaue Frühlingshimmel niederschien, vorbei an den leergewordenen Remisen und Ställen, an aufblühenden Teppichbeeten, an den Springbrunnen und den weiten Rasenflächen des Obstgartens, auf welchen noch der weiße Reif abgeschüttelter Blütenpracht lag. Dann streckte sich die helle Landstraße vor ihnen hin, rechts und links noch besäumt von den Gutsfeldern und Wiesen, bis der Wald seinen Schatten über sie warf. Vorher aber zweigte nach links ein breiter Fahrweg ab, und dort fuhr die in der Sonne blitzende elegante Kutsche hin, in welcher Fräulein Beate von Gerold heimwärts fuhr.

»Mußte auch die noch deinen Leidensweg kreuzen!« sagte Herr von Gerold zu seiner Schwester mit einem unmutigen Blick nach dem dahinbrausenden Wagen.

»Sie hat mir nicht weh getan, Joachim. Ich kenne sie besser und habe nicht das Vorurteil gegen sie, wie die meisten anderen Menschen«, entgegnete Klaudine. »Beate ist verletzend derb und scheinbar schonungslos anderen gegenüber nur aus – Verlegenheit –«

»Mohrenwäsche, Kind! Die hilft dir nichts! Sie ist nicht gut, diese Beate, sie hat weder Herz, noch den Geist, den ich in der Frau anbete, den Seelenliebreiz, der unbewußt von meiner armen Dolores ausströmte und mit welchem du mich Schuldigen auch heute wieder umstrickst. Nicht ein Atom davon lebt in diesem – barbarischen Frauenzimmer.«

Der helle Sonnenschirm des »barbarischen Frauenzimmers« tauchte eben noch einmal auf zwischen den Vogelbeerbäumen des Weges, dann verschwand er hinter den Buchen, den Vortruppen des schmalen Gehölzstreifens, mit welchem das Gebiet des Geroldshofes abschloß.

Jenseits dieses Laubwaldes, weit drüben am Berge, lag auch ein Herrenhaus, ein schmuckloser Bau neueren Stils, mit hellgetünchten Mauern und weißen Rolläden. Da sprangen keine Fontänen, und von Blumenbeeten war auch nicht viel zu sehen. Dafür aber hatte das Besitztum einen Baumschmuck, der seinesgleichen suchte. Wahre Riesen alter Linden spannen um Mauern und Höfe ein heimlich grünes Dämmern, nur die Vorderfront des Wohnhauses blieb unbeschattet, und um das schöne Taubenhaus inmitten des breit hingelagerten Rasengrundes vor dem Hause spielten ungehindert Maienlüfte und die Goldlichter der Sonne.

Diese Besitzung war auch ein Geroldshof, das Rittergut der Herren von Gerold-Neuhaus.

Vor alten Zeiten waren die liegenden Gründe des weiten Paulinentales und die von da bergauf kletternden mächtigen Waldungen in einer Hand vereint gewesen. Die Gerold von Altenstein hatten unumschränkt geherrscht über Leben und Tod jeglicher Kreatur, die in meilenweiter Runde sich rührte und regte. Später, vor mehr als zweihundert Jahren, hatte ein aus langer blutiger Fehde glücklich heimgekehrter Herr Benno von Gerold um eines nachgeborenen Spätlings seines Stammes willen das Gut Altenstein zwischen diesem und seinem Erstgeborenen geteilt. So war die Linie Gerold- Neuhaus entstanden. Lange Zeit hindurch war sie die weniger begüterte und in geringerem Ansehen stehende verblieben, dann aber hatten verschiedene Male reiche Erbinnen in das Haus geheiratet, und einzelne Träger des Namens hatten sich im Kriege hervorgetan. Ihre Nachkommen rückten, Stufe um Stufe, allmählich in die höchsten Hofämter ein, und schließlich gipfelte dieses Emporkommen in der Vermählung des Jüngsten und Schönsten mit einer Prinzessin des regierenden Hauses.