Und sie legte die Hände vor das vergrämte Gesicht und weinte.

»Sie bringen sie zurück? Ach Gott! Meine gute Klaudine, weine nicht, liebe, einzige Klaudine, du mußtest ja doch wissen, daß es nur eine Frist sein konnte, dieses scheinbare Besserwerden!«

»Da die Depesche von Frau von Katzenstein, Beate, die Herzogin erwartet, mich in der Residenz zu finden. Morgen abend kommen sie an. Die Depesche ist schon aus Marseille. Ich wollte dich bitten, Beate, sieh zuweilen nach der Kleinen«, fuhr Klaudine fort, »Joachim ist so in der Arbeit und Fräulein Lindenmeyer zuweilen schon recht vergeßlich. Ich hatte gedacht, an Ida zu schreiben, aber die Lindenmeyer erzählte mir, sie habe schon eine Stelle angenommen.«

»Was redest du denn so lange darum?« sagte Beate und half der Cousine den Mantel anziehen, »das ist doch selbstverständlich. Mach dich gut warm, und –«

»Aber laß das Kind hier im Eulenhause«, unterbrach Klaudine sie, »Joachim ist es gewöhnt, daß Elisabeth in der Dämmerung heraufkommt und auf seinen Knien sitzt und sich Märchen erzählen läßt.«

»Versteht sich«, erwiderte Beate. »Aber, was ich sagen wollte, Klaudine«, – sie stockte – »vergiß den Verlobungsring nicht.«

Klaudine wandte sich erschreckt um. »O ja, du hast recht«, sagte sie traurig und suchte den Ring aus einem kleinen Kästchen hervor.

Fräulein Lindenmeyer stand weinend neben Beate im Hausflur, während Klaudine von Joachim Abschied nahm.

»Ach Gott, so jung noch und schon sterben müssen!« schluchzte das alte Fräulein, »von Mann und Kindern fort, und so weit da draußen in der Welt! Gott gebe es, daß sie noch lebend die Heimat erreiche!«

»Gott gebe es!« wiederholte wie unbewußt Klaudine und fuhr neben Beate in die Schneenacht hinaus. Beate ließ es sich nicht nehmen, ihre Cousine bis an den Zug zu geleiten, und als die erleuchtete Wagenreihe in der Nacht verschwunden war, fuhr sie mit ernsten Gedanken heim. Die Schlittenglocken klingelten seltsam feierlich im Walde, es war so lautlos still ringsumher. Sie dachte an den Schnellzug, der durch das Land jagte und die kranke Herzogin mit sich führte. Und sie dachte an Klaudines Weinen. Welch Wiedersehen zwischen den beiden!

Auch Klaudine dachte an ihre fürstliche Freundin, als sie so ganz allein dahinfuhr. Es reist sich schrecklich mit solchem Ziel. Düster stand die Zukunft vor des Mädchens Seele, düsterer als die Nacht da draußen.

Sie hatte zunächst nur eine kleine Strecke zu fahren, dann aber in Wehrburg zwei Stunden Aufenthalt. Da schimmerten schon die Lichter von Wehrburg, der Zug fuhr langsamer und hielt endlich. Sie stieg aus und ging durch die zugige erleuchtete Halle nach dem Wartesaai Sie hob den Schleier nicht, als sie eintrat, und nahm still in einer Ecke Platz.

Nicht weit von ihr saßen flüsternd ein Herr und eine Dame, die letztere gleich ihr unkenntlich durch einen dichten Schleier, nur die Bewegung des Kopfes schien Klaudine bekannt. Von dem Herrn hatte sie bis jetzt nur das stark angegraute, kurz gehaltene Haar gesehen. Er trug einen kostbaren Pelz, sein Hut lag neben ihm. Er beugte sich über ein Kursbuch, und wenn er eine Seite umschlug, so zuckte das Leuchten eines großen Brillanten zu ihr herüber. Es ist ein trauriger Aufenthalt während einer Winternacht in einem schlecht geheizten und schlecht beleuchteten Wartesaal. Unwillkürlich beobachtet man seine Leidensgefährten und überlegt: Was mögen die vorhaben, wohin reisen sie, welche Bande verknüpfen sie untereinander? Ist es ein Ehepaar? Sind es Vater und Tochter?

Klaudine in ihren trüben Gedanken starrte ebenfalls auf das einzige Paar Menschen, das, außer dem schlaftrunkenen Kellner, den Raum mit ihr teilte. Die Dame sprach leise und eifrig, ihr Kopf war dicht zu dem Herrn geneigt. Dieser rückte fast ungeduldig auf dem Stuhle hin und her.

»Unsinn!« hörte Klaudine ihn jetzt in französischer Sprache sagen, »ich habe es tausendmal erklärt, ich gehe bis Frankfurt und komme dann zurück.«

»Ich glaube Ihnen nicht«, flüsterte die Dame heftig, »es bleibt bei dem, was ich gesagt habe – betrügen Sie mich, so wissen Sie, wie ich mich rächen werde.«

»Nun, das würde Ihnen auch nicht zum Heil gereichen, meine Beste!«

»Das tut dann auch nichts mehr«, erklärte sie lauter, als es ihre Absicht sein mochte, und ihre kleine Hand schlug, zur Faust geballt, auf den Tisch. Besänftigend legte der Herr seine Rechte darüber und sah sich erschreckt um.

Klaudines Schleier war so dicht, er verbarg völlig ihre Züge und ihre erstaunten Augen. Das war ja, mein Gott, das war Herr von Palmer, und, natürlich, so zischte nur Frau von Berg, wenn sie gereizt wurde. Das war ihr üppiges Haar, ihre volle Gestalt. Was in aller Welt –?

»Ich bitte dich«, sagte er jetzt schmeichelnd, »was sollte ich ohne dich da draußen? Sei doch vernünftig und erfülle meine Bitte!«

Eben brauste ein Zug in den Bahnhof, nun ertönte die Glocke und der Beamte rief in das Zimmer: »Einsteigen in der Richtung nach Frankfurt am Main!«

Eilig erhob sich Herr von Palmer. »Bleibe hier«, sagte er heftig.

»Ich werde mir doch nicht nehmen lassen, Sie bis an den Zug zu geleiten«, erwiderte sie höhnisch. »Wer weiß, wie lange ich Ihre Gegenwart entbehren muß«!

Er antwortete nicht und stürmte hinaus, die Dame rauschte hinterdrein.

Klaudine erhob sich unwillkürlich und trat ans Fenster. Sie sah Palmer eilig in ein Abteil erster Klasse verschwinden. Die Dame stand davor, fest in ihren Pelz gewickelt. Dann setzte sich der Zug in Bewegung und die Zurückbleibende kam wieder ins Wartezimmer. Sie sah einen Augenblick die verschleierte Klaudine scharf an, dann schlug sie den Schleier zurück und bestellte sich Tee und Zeitungen.

Richtig, dieser Seidenflor hatte das geschminkte Gesicht ihrer Feindin verhüllt.

Herr von Palmer mochte wohl den Herrschaften entgegenreisen, was aber veranlaßte die schöne Frau zu Besorgnissen?

Und endlich kam ihr Zug. Klaudine wartete ab, welches Abteil Frau von Berg nehmen würde, es waren nur zwei erster Klasse im Zuge. In das eine stieg Frau von Berg, so schritt sie auf das andere zu, das der Schaffner ihr sofort öffnete. Einen Augenblick überlegte sie noch. Dort saß ein Herr – sollte sie zweiter Klasse fahren?«

»Ist das Nichtraucherabteil zweiter Klasse frei?« fragte sie.

»Nein, es sind fünf Herren drinnen und eine Dame, und im Frauenabteil eine Familie mit Kindern.«

Sie stieg ein und nahm am Fenster Platz. Der Herr dort in der Ecke schlief, es war nichts von ihm zu sehen, als Mütze und Pelz und eine dunkelviolette Reisedecke. Nun, lange dauerte ja die Fahrt nicht mehr, zwei Stunden höchstens. Sie legte den blonden Kopf mit dem dunklen Pelzmützchen an die Kissen, sie war so müde, aber die rastlos weiterarbeitenden traurigen Gedanken ließen sie nicht schlafen. Die Herzogin würde sterben, dann hatte sie ein treues Herz verloren und ihre Freiheit gewonnen. Sobald am Begräbnistage die letzte Fackel gelöscht war, würde sie Lothar den Ring in die Hand legen und aufatmen. Ihre Brust hob sich, aber schon der Gedanke an dieses Aufatmen tat ihr weh. Ach, das Leben, das dann kommen würde! So farblos, so einförmig, das Leben eines armen adligen Fräuleins, das allmählich zur einsilbigen alten Jungfer wird. Und wenn Joachim sich nun wieder verheiratete? Wenn zu all der Freudlosigkeit auch noch das Bewußtsein des Überflüssigseins käme? Wenn dereinst Beate einem Mann folgte, fort aus dem stillen Paulinental? Ach nein, Joachim blieb ihr, mußte ihr bleiben. Wie sollte er in seiner Zurückgezogenheit, in seinem arbeitsvollen Dasein Zeit finden, um zu freien? Joachim blieb ihr und sein Kind. Sündhafte Mutlosigkeit war es, so zu denken. Sie hatte noch so viel, viel mehr als andere!

Sie setzte sich hoch, kerzengerade, und sah auf die flimmernden Eisblumen der gefrorenen Fensterscheiben. Dann zuckte sie tödlich erschreckt zusammen. In dem Rollen und Kreischen des Zuges, der eben kurz vor einer Haltestelle gebremst wurde, hatte sie nicht gehört, daß der Herr dort aufgestanden und herübergekommen war. Erst als sie fühlte, daß etwas ihren Mantel streifte, hatte sie aufgesehen – vor ihr saß Lothar.

»Also wirklich?« klang es herzlich. »Trotz des Schleiers erkannt! Aber, was spreche ich denn? Es gibt ja nur einmal dieses goldige Haar. Und Sie wollen auch nach der Residenz?« Es lag ein Ausdruck freudigster Überraschung in seinen Zügen. Unwillkürlich hatte seine Rechte gezuckt, als wollte sie eine dargebotene Hand erfassen.

Klaudine saß da, wie versteinert. Sie hatte sich merkwürdig rasch gefaßt.

»Ja«, erwiderte sie kurz, die Hand übersehend. Sie hielt die beiden ihrigen ineinandergeschlungen im Muff, als wollten sie sich gegenseitig festhalten. »Der Kammerherr von Schlotbach telegraphierte mir, daß die Herrschaften morgen eintreffen, und da habe ich mich gleich aufgemacht.«

»Aber, sagen Sie, wie geht's im Paulinental?« fragte er dann.

»Gut!« antwortete sie.

»Und meine Kleine?«

»Sie ist gesund, glaube ich.«

»Glauben Sie?« fragte er mit bitterer Betonung.

Eine Weile schwiegen beide. Der Zug hielt. Draußen knirschte der Schnee unter schweren Männertritten, irgendeine Tür wurde zugeschlagen, dann läutete die Glocke und schrillte die Pfeife und weiter rollte die Wagenreihe.

»Klaudine«, begann er zögernd, »ich habe vorgestern an Sie geschrieben. Der Brief wird heute früh im Eulenhause anlangen –«

Sie neigte flüchtig den Kopf, ohne ihn anzusehen.

»Ich war in einer furchtbaren Stimmung«, fuhr er fort, »stellen Sie sich vor, wie ich in dem alten, spärlich eingerichteten Schlosse hause, zwei Stunden von der nächsten Stadt, völlig eingeschneit. Ich bin vielleicht, naß wie eine Made, eben von einem Pirschgange zurückgekehrt, sitze neben einem rauchigen Kamine, der kaum wärmt, der Schneesturm tobt vor den Fenstern, und so allein bin ich, so furchtbar allein in dem öden Gebäude! Dazu habe ich dann zuweilen förmliche Visionen. Ich sehe die Neuhäuser Wohnstube, sehe meine Kleine drinnen spielen, höre ihr Jauchzen und meine ordentlich den Geruch von Bratäpfeln zu spüren, die um diese Jahreszeit nie in der Röhre des Kachelofens fehlen.« Er stockte einen Augenblick. »Und da denke ich, mein Gott, wozu sitzest du eigentlich hier in so trübseligen Gedanken? In einem solchen Augenblick stand ich vorgestern auf, holte meine Schreibmappe und schrieb, um Sie auf der Stelle zu fragen, ob –«

Sie fiel ihm fast heftig ins Wort.

»Weshalb fragen? Ich kann Sie nicht zwingen, Ihr Versprechen zu halten, habe auch wahrhaftig niemals verlangt, daß Sie nach Schloß ›Stein‹ gehen. Sie wußten ja sonst Berlin und Wien zu finden, oder Paris oder irgendeine große Stadt noch weiter entfernt.«

Er hatte sie ausreden lassen.

»Ich wollte Sie in dem Briefe fragen«, sprach er ruhig weiter, »soll denn die Komödie noch kein Ende nehmen, Klaudine? Es ist doch frevelhaft –«

Sie fuhr empor. Sprach er im Ernst?

»Das sagen Sie mir jetzt?« rief sie empört, »jetzt, wo die Entscheidung so nahe ist? Die Arme lebt vielleicht keine vierundzwanzig Stunden mehr! Haben Sie es so eilig, Ihre Freiheit wiederzuerlangen?«

»Sie sind sehr verbittert, Klaudine!« erwiderte er unwillig und doch klang es wie Mitleid aus seiner Stimme. »Aber Sie haben recht, angesichts der traurigen Tage, denen wir entgegengehen, sollte man nicht von diesen Dingen sprechen. Indessen –«

»Nein, nein! Sprechen Sie nicht davon!« pflichtete sie ihm aufatmend bei.

»Indessen kann ich nicht anders«, fuhr er unerbittlich fort. »Das neueste ist nämlich, daß Ihre Hoheit sich direkt an mich wandte.« Er nahm seine Brieftasche heraus und reichte ihr ein Schreiben. »Es ist besser, Sie lesen selbst.«

Klaudine machte eine abwehrende Bewegung.

»Es ist ein eigenhändiges Schreiben der Herzogin«, betonte er, ohne das Briefblatt zurückzuziehen, »die arme Frau verbittert sich ihre letzten Tage mit Sorgen. Wenn Sie gestatten, Cousine, lese ich es Ihnen vor.«

Und das blasse Mädchengesicht kaum mit dem Blicke streifend, begann er:

»Mein lieber Baron! Diese Zeilen schreibt Ihnen, nach langem innerem Kampf, eine Sterbende und bittet Sie, ihr nach Möglichkeit in einer überaus zarten Angelegenheit zu helfen.

Sagen Sie mir die Wahrheit auf eine Frage, deren Indiskretion Sie mir, die ich bald nicht mehr unter den Lebenden sein werde, verzeihen wollen. Lieben Sie Ihre Cousine? Wenn es nur ein Akt der Klugheit und Großmut war, ihre Hand zu erbitten, dann, Baron, geben Sie dem Mädchen die Freiheit zurück und seien Sie überzeugt, daß Sie dadurch die Zukunft zweier Menschen, die mir über alles teuer sind, glücklich gestalten werden.

Elisabeth.«

Die blauen Augen Klaudines starrten wie verzweifelt auf das kleine Briefblatt. Barmherziger Gott, was sollte das sein? War die Herzogin noch immer in dem alten schrecklichen Wahn, daß ihr Gatte sie liebe oder sie ihn? Oder hatte Prinzeß Helene sich ihr anvertraut, und die Herzogin wollte vermitteln zwischen Lothar und ihr?