Diese Bemerkung machte mich verlegen, denn anders als Saul, der schon ein offenes Auge für die Mädchen hatte, war ich zu schüchtern, um auch nur zu einem weiblichen Wesen aufzusehen. Wenn wir am Morgen oder am späten Nachmittag durch die Straßen liefen, kamen wir regelmäßig an Gruppen von jungen Frauen vorbei, die auf dem Markt ihre Einkäufe verrichteten. Sie lächelten uns zu und schlugen dann sittsam die Augen nieder. Trotzdem ertappte ich jedesmal die eine oder andere von ihnen dabei, wie sie Saul bewundernd anschaute.

Es kam die Zeit, da ich nicht länger Wasser vom Brunnen holen mußte. Ich war erleichtert und traurig zugleich, denn obgleich ich nicht mehr diese erniedrigende Frauenarbeit erdulden mußte, so blieb mir nichtsdestoweniger meine kleine Einnahmequelle von nun an versagt.

Saul schien sich nichts aus Geld zu machen und auch keines zu benötigen. So sparte er seine paar Schekel nie. Ich dagegen erkannte in Geld Sicherheit und war davon überzeugt, daß der Tag käme, da sich meine Genügsamkeit bezahlt machen würde. Dieser Charakterzug stand natürlich in direktem Zusammenhang mit dem, was später geschehen sollte, und wäre ich nicht von einer solchen Denkweise durchdrungen gewesen, so wäre meine Geschichte möglicherweise ganz anders verlaufen. Und ich würde heute nicht hier in Magdala sitzen und dies für Dich niederschreiben, mein Sohn. Doch so war ich nun einmal, und so mußte mich der Lauf meines Schicksals zu der Stunde führen, über die ich Dir berichten muß.

Doch laß mich zuvor noch einmal die süßen Tage meiner Jugend in Jerusalem durchleben.

Über meine Sparsamkeit sagte Eleasar einmal zu mir:»David Ben Jona, würde ich dich in die Straßen hinausschicken, um den Mist von Pferden und Eseln mit einer Schaufel einzusammeln, so würdest du einen Weg finden, es zu einem einträglichen Geschäft zu machen. «Er sagte dies halb im Spaß, halb ernst.»Du bist einer meiner besten Schüler des Gesetzes«, fuhr er fort,»mit deinem scharfen Verstand und deiner Klugheit. Und doch frage ich mich zuweilen, ob du für Israel kein größerer Gewinn wärst, wenn du Geldverleiher würdest oder einem anderen Gewerbe nachgingest. «Diese Betrachtung hatte mich so sehr entsetzt, daß ich ebenso niedergeschlagen war, als hätte er mich gezüchtigt.»Verzeihe mir, David«, sprach er weiter,»aber du solltest das nicht als Beleidigung, sondern als Kompliment auffassen. Wenn ich dir einen Schmerz zufüge, so geschieht dies unabsichtlich. Doch sei stets eingedenk, mein Sohn, daß es auch noch andere Arten gibt, Gott zu dienen, als sein Gesetz zu hüten. Nicht alle Menschen sind zu Schriftgelehrten geboren, ebensowenig wie alle Menschen zu Fischern geboren sind. Und doch dient jeder Mensch Gott auf seine Weise, so wie er es am besten versteht. Du wirst ein Gelehrter der Heiligen Schrift werden und Gottes Gesetz gegen die verheerenden Auswirkungen des Zeitenwandels schützen. «Er legte an dieser Stelle eine Pause ein und sah mich lange an.»Und trotzdem.«, sagte er. Aber er führte seinen Gedanken niemals zu Ende.

So hatte ich mir in einem Versteck ein wenig Silbergeld angespart. Stets trug ich meine Sandalen, bis sie gänzlich durchgelaufen waren, und besserte meinen Umhang aus, wie es nur eine Frau getan hätte. Als Saul sich sein drittes Paar Sandalen erstand, nahm ich seine alten abgelegten und trug sie noch weitere sechs Monate. Er lachte mich deswegen aus, aber ich glaube, daß er mich insgeheim um meine Fähigkeit, Geld zu sparen, beneidete. Ich war siebzehn Jahre alt, als ich zum erstenmal Rebekka begegnete.

Die meisten anderen jungen Männer waren in diesem Alter schon verheiratet oder verlobt, doch für uns Rabbinerschüler, die wir uns keine Minute vom Studium des Gesetzes freimachen durften, konnte dies nicht gelten. Folglich machten wir uns übers Heiraten nur wenig Gedanken. Die Zeit würde kommen, da unser Lehrer uns für reif genug erachten würde, auf eigenen Füßen zu stehen und selbst Lehrer zu sein. Und wenn diese Zeit käme, würden wir eine begehrenswerte Frau finden und sie heiraten. Doch genausowenig, wie wir wußten, wann unser Lehrer uns freigeben würde, konnten wir voraussehen, wann wir in der Lage wären zu heiraten. Deshalb dachten wir wenig darüber nach.

Zumindest verhielt ich mich so, bis ich Rebekka traf. Sie war die Tochter von Eleasars Bruder, der als Zeltmacher in Jerusalem arbeitete. In den ersten drei Jahren, die ich im Hause des Rabbis wohnte, war ich nie mit diesem Mädchen zusammengetroffen. Doch eines Tages wurde Eleasars Frau Ruth krank und war für viele Wochen ans Bett gefesselt. Der Bruder des Rabbis schickte zwei seiner Töchter, um Eleasar zu helfen, denn er selbst hatte keine. Der Tag, an dem ich Rebekka traf, war der Tag vor dem Sabbat. Sie und ihre Schwester kamen ins Haus, um die Mahlzeiten zuzubereiten, die wir am nächsten Tag verzehren sollten. Ich werde diesen Nachmittag nie vergessen.

Wir alle kamen früh mit Eleasar vom Tempel: Saul und ich und die vier anderen Knaben, die bei uns wohnten. Rebekka und Rahel waren emsig beim Kochen und beeilten sich, um vor Sonnenuntergang fertig zu werden. Ich ging sofort hinauf, um mich zu waschen und mich für die Gebete vorzubereiten. Da bemerkte ich, daß Saul mir nicht folgte. Nach kurzem Warten stieg ich wieder hinunter und fand ihn zu meiner Überraschung in der Küche. Rebekka hatte ungewöhnlich rotes Haar und blaßgrüne Augen. Ich werde niemals die Art und Weise vergessen, wie sie errötete, als Saul uns miteinander bekanntmachte. Rahel, die vier Jahre älter und wenig hübsch war, nickte mir zu und fuhr mit der Arbeit fort. Saul und ich machten Rebekka so gut wir konnten den Hof, wobei wir natürlich durch unser linkisches Auftreten und unsere Unerfahrenheit behindert wurden. Sie war sechzehn, ein Jahr jünger als wir.

Eleasar schien nichts dagegen zu haben, daß wir dem Madchen mit ausgesuchter Höflichkeit begegneten, und war, wie ich glaube, belustigt. Sie blieb zum Essen bei uns, mußte danach aber ins Haus ihres Vaters zurückkehren, während Rahel dablieb, um Ruth zu pflegen.

Eleasar wählte mich, um Rebekka zu begleiten. Ich habe mich nie in meinem Leben — weder zuvor noch danach — zugleich so unbehaglich und so glücklich gefühlt. Rebekka war ein reizendes Mädchen, schüchtern und doch gefällig, mit einem lustigen Lachen, das ich gerne hörte. Wir sprachen wenig, als wir durch die dunklen Straßen liefen; dennoch war unser Schweigen weniger verlegen als erwartungsvoll.

An ihrem Haus angelangt, das voller Kinder und hell erleuchtet war, stellte sie mich ihrem Vater vor, der tief beeindruckt war, einen Schüler des Gesetzes vor sich zu haben. Er lud mich ein, zu bleiben, aber ich bestand darauf, heimzugehen — so sehr es mich auch betrübte, Rebekka zu verlassen —, denn ich wollte die Abendstudien mit Eleasar nicht versäumen.

Rahel blieb während der ganzen Zeit, in der Ruth krank war, bei uns, und ich sah Rebekka noch viele Male danach.

Kapitel Acht

Ben ging geradewegs ins Badezimmer und besprengte sein Gesicht mit eiskaltem Wasser. Während er es mit einem groben Handtuch trockenrieb, lief er ins Arbeitszimmer zurück und schaute auf die Uhr. Es war sechs Uhr dreißig. Die Sonne war vor einer halben Stunde aufgegangen.

Das Arbeitszimmer glich einem Schlachtfeld. Während seiner langen Übersetzungsnacht hatte Ben jedes Nachschlagewerk, das er besaß, herausgezogen, hatte über jedem Wort und jedem Buchstaben Davids geschwitzt, hatte kontrolliert und gegengeprüft und schließlich in einem Durcheinander von Büchern, Papieren und Tabakresten sein Werk beendet.

Er rieb seine schmerzenden Arme und hinkte in die Küche, um sich einen Pulverkaffee zu bereiten. Auf dem Weg durchs Wohnzimmer bemerkte er, daß seine Schreibmaschine wieder in ihrem Koffer auf dem Tisch stand und daß ein Stoß Papier fein säuberlich darauf lag. Sein Übersetzungsheft und eine tadellos getippte Abschrift lieferten den einzigen Beweis dafür, daß Judy dagewesen war. Er schaute aus dem Fenster auf den bedeckten Himmel. Die Gehsteige waren noch immer naß, die Bäume glänzten vom Regen. Wann war sie gegangen? Wann hatte sie leise ihre Arbeit beendet und war auf Zehenspitzen, ohne ein Wort zu sagen, aus der Wohnung geschlichen?

Ben ging in die Küche. Die beiden Kaffeetassen und die Teller vom Vorabend waren gespült und weggestellt worden. Der nicht verzehrte Kuchen lag, sauber in Zellophan eingewickelt, auf einer Ablage im Kühlschrank.

Er konnte sich an ihr Weggehen nicht erinnern. Eine halbe Stunde später, als er mit seinem Kaffee und dem

Übersetzungswust von Rolle fünf auf dem Schoß auf der Couch saß, wurde Ben von einem Klopfen an der Tür aufgeschreckt. Lächelnd stand er auf und dachte bei sich: >Aha, Judy, Sie sind also zurückgekommen, um mir zu sagen, was für ein miserabler Gastgeber und rücksichtsloser Arbeitgeber ich bin. Wieviel schulde ich Ihnen für das Tippen? Ich zahle Ihnen das Doppeltem Zu seiner Überraschung war es nicht Judy.»Angie!«rief er erstaunt.

«Hallo, Liebling!«Frisch und lebhaft kam sie herein, drückte ihm einen Kuß auf die Wange und hielt ihre Nase in die Luft.»Rieche ich Kaffee?«

«Es ist Pulverkaffee«, erklärte er verwirrt.

«Das ist mir auch recht. «Angie drehte sich lächelnd zu ihm um.»He, du hast dich ja noch gar nicht rasiert. Bin ich zu früh?«

«Wofür?«

Sie lachte.»Ein Komiker zu dieser frühen Morgenstunde! Weißt du, ich habe versucht, dich anzurufen, bevor ich weggefahren bin. Ich wollte sichergehen, daß du auch schon auf bist. Aber deine Leitung war belegt. Hast du schon wieder den Hörer abgenommen? Ganz schön ungezogen von dir!«

Sie wandte sich um und ging in Richtung Küche davon. Als er sie so betrachtete, ihren schlanken Körper in den engen, gelben Hosen und der geblümten Bluse, da fiel es ihm plötzlich siedendheiß ein.»O Gott!«murmelte er. Und ein flaues Gefühl überkam ihn. Ben stellte sich neben die Küchentür und beobachtete Angie, die dabei war, Kaffee zu machen. Er fragte sich, wie er seinen nächsten Satz in Worte fassen sollte. Alles, was er herausbrachte war:»Angie. «Das reichte. Sie war eben im Begriff, den Pulverkaffee in ihre Tasse zu löffeln, doch plötzlich hielt sie inne, erstarrte für eine Sekunde, dann stellte sie das Kaffeeglas hin und drehte sich zu Ben um:»Was ist eigentlich los?«

«Angie, ich bin nicht eben gerade aufgestanden. Ich war die ganze Nacht auf. Ich bin überhaupt nicht ins Bett gegangen.«

«Warum nicht?«

Er erklärte, daß der Nachbar für das Einschreiben quittiert und es erst später heraufgebracht hatte. Angies Gesicht blieb ausdruckslos, ihre Stimme eintönig.»Warum hast du mich dann nicht angerufen?«Ben rang nach Worten.»Ich war so aufgeregt. Ich habe es wohl vergessen.«

Angie schaute einen Augenblick lang zu Boden und rang sichtlich mit sich selbst. Als sie wieder zu ihm aufsah, hatte sie einen rätselhaften Ausdruck in den Augen.»Du hast es vergessen. Du hast alles, was mich betrifft, vergessen.«

«Ja«, antwortete er kaum lauter als ein Flüstern.»Also gut. «Sie begann zu zittern.»Angie, ich.«

«Ben, du wirst es vielleicht nicht glauben, aber ich gebe mir alle Mühe, Verständnis für dich aufzubringen. Du siehst, es ist nicht einfach für mich. «Mit einiger Mühe drängte sie sich an ihm vorbei und lief ins Wohnzimmer.»Es war niemals so, Ben«, fuhr sie mit fester Stimme fort.»Früher hast du immer Zeit für mich gefunden, ganz egal wie wichtig ein Auftrag war. Aber die Dinge liegen nun anders. Du bist anders. Warum bist du mit einemmal so.. verändert?«Er streckte hilfesuchend die Hände aus.

Ja, dachte Angie nun sachlich, Ben hatte sich verändert. Wo war nur der ausgeglichene, berechenbare Ben, den sie bis dahin gekannt hatte? Statt dessen sah sie einen seltsam irrationalen Menschen vor sich, der ständig zwischen zwei Persönlichkeiten schwankte. Und es schien, als wäre er sich dessen nicht einmal bewußt, als hätte er keine Gewalt mehr über sich.

Ganz so, als würde er von irgend jemandem beeinflußt. Sie sah ihn aus schmalen Augen durchdringend an. Was war neben seinem sprunghaften Wesen noch anders an ihm? Welche äußerlichen Veränderungen hatte er durchgemacht? Oh, gewiß, sie waren ihr schon vorher aufgefallen, doch sie hatte geflissentlich darüber hinweggesehen, sie einfach nicht beachtet. Diesmal aber musterte sie Ben mit anderen Augen und stellte die leichten Veränderungen fest, die sich allmählich an ihm vollzogen hatten.

Die plötzliche Vorliebe für Sandalen. Das Hinken in seinem Gang. Seine geschraubten Sätze. Die Tatsache, daß er sich anhörte wie ein Fremder, der sich alle Mühe gab, richtig zu sprechen. Nichts von alledem hatte vor dem Auftauchen der Schriftrollen zu Ben Messer gehört.

Sie schlenderte hinüber zur Couch und sah die darauf ausgebreiteten Seiten seiner Übersetzung.»Ist es eine gute Rolle?«fragte sie ruhig.