«Ja, und eine lange. Möchtest du sie lesen?«
Sie fuhr herum. Auf ihrem Gesicht zeigte sich Ärger.»Was ist so besonders an diesem David, daß er dir mehr bedeutet als ich?«
«Das tut er nicht, Angie.«
«O doch, Ben!«Ihre Stimme wurde lauter.»Seinetwegen vergißt du mich! Du verbringst deine Zeit lieber mit ihm als mit mir. «Sie wurde schrill.»Irgendein alter, toter Jude hat dich plötzlich so.«
«Lieber Gott, Angie!«schrie Ben.
«Und sag bloß das nicht! Warum nennst du unnütz den Namen von jemandem, an den du nicht einmal glaubst?«
«Du glaubst ja auch nicht an ihn, Angie.«
«Was weißt du schon davon?«Sie machte einen Schritt auf ihn zu.»Woher willst du das wissen? Hast du mich je danach gefragt? Haben wir je über Gott oder Jesus oder Glaubensdinge geredet?«
«Na wunderbar, das ist jetzt der richtige Moment, um theologische Probleme aufs Tapet zu bringen!«
«Warum auch nicht? Kein anderer Zeitpunkt war dir je gut genug. Irgendwie ist es dir immer gelungen, dem Thema aus dem Weg zu gehen, als hättest du in Sachen Religion eine Monopolstellung. Ich weiß, daß du ein Atheist bist, Ben, aber das heißt noch lange nicht, daß es alle anderen auch sind.«
«In Gottes Namen, Angie! Was zum Teufel hat das alles mit dem heutigen Vormittag zu tun?«
Sie schaute wieder auf die Couch hinab, und plötzlich legte sich ihr Ärger. Ein seltsamer Ausdruck huschte über ihr Gesicht, als sie auf die überall verstreuten Papiere blickte.»Ich weiß nicht, Ben«, meinte sie in sanftem Ton,»aber da besteht ein Zusammenhang. Ich weiß wirklich nicht, was hier vor sich geht, aber es geht um mehr als nur um einen archäologischen Fund. Ich kann es nicht genau bestimmen. Ich kann es nicht einmal in Worte fassen, aber ich bekomme ein ganz merkwürdiges Gefühl dabei. Als ob. «Sie blickte endlich zu ihm auf.»Als ob du langsam von David Ben Jona besessen wärst.«
Ben starrte sie einen Augenblick lang an, dann rang er sich ein nervöses Lachen ab.
«Das ist doch lächerlich, das weißt du genau.«
«Ich weiß nicht.«
«Hör zu, Angie«, er streckte wieder seine Hände aus,»ich bin müde. Ich bin so erbärmlich müde. Können wir es für heute nicht einfach vergessen?«Er massierte sich zerstreut die linke Schulter.»Und ich bin ganz steif. Ich habe die ganze Zeit Wasser geschleppt für die. ich meine, ich mußte doppelt so schnell laufen und doppelt soviel tragen. «Er schüttelte den Kopf.»Nein, ich meine.«
«Ben! Was stimmt denn nicht mit dir?«
«Verdammt noch mal, Angie, ich bin müde, das ist alles! Ich hatte überhaupt keinen Schlaf! Ich will jetzt nur meine Ruhe haben!«
«Aber wie konntest du mich so völlig vergessen?«O Gott, dachte er, während er sich mit den Händen das Gesicht rieb, ich kann mich nicht einmal an letzte Nacht erinnern! Ich erinnere mich nicht daran, wie Judy gegangen ist. Ich erinnere mich nicht daran, daß ich die Rolle übersetzt habe. Da ist ein weißer Fleck. Er sah zu ihr auf.»Es tut mir leid«, gab er sich geschlagen. Angie wich einen Schritt zurück.»Na schön, wie du willst. «Ben streckte seinen Arm nach ihr aus, ging auf sie zu. Aber Angie wehrte ihn mit einer Hand ab und sagte:»Nein, Ben. Nicht dieses Mal. Ich bin gekränkt. Tief gekränkt. Ich muß diese Sache zu Ende denken. Sag mir eines: Gedenkst du, diese Rolle für einen Tag ruhenzulassen? Oder wenigstens für ein paar Stunden?«Er runzelte die Stirn.»Ich kann nicht, Angie. Ich kann. nicht von ihr lassen.«
«Das reicht! Vielleicht komme ich zu dir zurückgekrochen, wenn das alles vorbei und in einem Buch veröffentlicht ist. Bis dahin hoffe ich, daß du und David sehr glücklich miteinander werdet. «Ben merkte, wie das Zimmer vor seinen Augen zu verschwimmen begann. Durch einen Wirbelwind von Gedanken hörte er undeutlich, wie Angie aus dem Zimmer stolzierte und die Tür hinter sich zuschlug. Er war todmüde und völlig erschöpft, denn die Anspannung der letzten Nacht hatte ihn vollkommen aufgezehrt. Noch lange, nachdem Angie gegangen war, stand er mitten im Wohnzimmer, unschlüssig, was er als nächstes tun sollte, und mit dem Gefühl, zwischen mehreren Wirklichkeiten zu schweben.
Nachdem er sich beruhigt hatte und versucht hatte, Ordnung in seine Gedanken zu bringen, fühlte Ben, wie ihn eine große Niedergeschlagenheit überkam. Es begann in seiner Magengrube — ein kränkliches, hohles, einsames Gefühl, das ihm durch den ganzen Körper kroch und ihn in einem Anfall von Trauer und Bedrücktheit überwältigte. Plötzlich wollte er nur noch schlafen. Er wollte sich in einer dunklen Höhle verkriechen und eine ewig währende Nacht durchschlafen.
Nur war es jetzt Tag. Fast acht Uhr und draußen helles Licht. Er schloß alle Fensterläden und Vorhänge in der Wohnung, um das grelle Tageslicht und die unentrinnbare Gegenwart auszusperren. Dann fiel er, ohne sich überhaupt erst auszuziehen, auf sein Bett und schlief sofort ein.
Der letzte Traum war der wunderbarste. Der erste war die gewöhnliche Mischung aus Personen und der übliche Strudel aus Ereignissen gewesen — von Angie und Judy Golden und von Dr. Weatherby. Er war von einer verwickelten Sequenz zur nächsten übergegangen und bewegte sich dabei durch eine Welt von nebelhaften Gesichtern und gedämpften Stimmen. Doch am Ende, kurz bevor er aus der Bewußtlosigkeit wieder auftauchte, durchlebte Ben einen ganz klaren und beängstigenden Traum.
Er lief zu einer unbestimmten Nachtstunde eine unbekannte Straße hinunter. Es gab keine Lichter, keine Autos oder irgendwelche Orientierungspunkte, die ihm verraten konnten, wo er war. Es war nicht so sehr die Furcht vor dem Nichts, das ihn umgab, als die eisige Angst, die seine Seele beschlich — die unglaubliche Weite des Alleinseins, die Einsamkeit eines Menschen, der keine Familie und keine Freunde hatte und mutterseelenallein kalte, dunkle Straßen hinunter lief. Plötzlich war jemand an seiner Seite. Ein hübsches, junges Mädchen mit langem, rotem Haar und grünen Augen. Er war aber durch ihr unerwartetes Auftauchen nicht überrascht. Sie gingen eine Weile schweigend nebeneinander her, bis Ben sich selbst fragen hörte:»Wo sind wir?«
«Wir sind in Jerusalem«, antwortete sie.»Das ist seltsam.«
«Warum?«»Es ist nicht so, wie ich es mir vorgestellt habe. «Daraufhin lachte das Mädchen ganz merkwürdig. Sie hatte ein hohes, schallendes Lachen wie das einer Geisteskranken. Sie sagte:»David, du mußt dir Jerusalem nicht vorstellen!«
«Aber ich bin doch gar nicht David.«
«Wie albern! Natürlich bist du David. Wer solltest du denn sonst sein?«
Bevor er noch irgend etwas erwidern konnte, überkam ihn ein komisches Gefühl, als würde er beobachtet, auf Schritt und Tritt bespitzelt.
Seine Angst wurde größer. Das Mädchen auf seiner Seite war eine Bedrohung. Sie hatte keinen Namen, keine Identität, und doch fürchtete er sie.
«Wie heißt du?«fragte er mit zusammengeschnürter Kehle.»Rosa«, antwortete sie mit schallendem Gelächter.»Nein!«schrie er.»Du bist nicht Rosa!«
Ihr Gelächter dröhnte in seinen Ohren. Es kam von überallher, von allen Seiten gleichzeitig.»Was ist so lustig?«schrie er sie an.
«Wir sind nicht allein«, stieß das rothaarige Mädchen, glucksend vor Lachen, hervor.»Wir sind nicht allein!«Das Gefühl, beobachtet zu werden, steigerte sich in einem Maße, das an Wahnsinn grenzte. Alles um ihn her war Finsternis und Kälte und Trostlosigkeit. Und doch war er sicher, Augen auf sich zu spüren.»Wo?«rief er.»Wo sind sie?«
Das Mädchen, das zu laut lachte, um sprechen zu können, deutete hinunter auf die Erde.
Ben schaute nach unten. Er stand barfuß auf losem Grund. Als er darauf starrte, schien der Boden sich zu bewegen. Ein unheimliches Gefühl ergriff Besitz von ihm. Die Erde bewegte und verschob sich, als ob etwas daraus hervorkommen wollte.»O Gott!«stöhnte er, und das kalte Grausen packte ihn. Als ob etwas daraus hervorkommen wollte.»O guter Gott, nicht!«flüsterte er.
Das Mädchen war fort. Ben stand allein auf der bebenden Erde. Ihm war, als stünde er am Rand der Schöpfung, schwankend über einem Abgrund des Vergessens.
Er wollte nicht hinabsehen. Er wußte, was er da sehen würde und daß es ihn zu Tode erschrecken würde.
Mit weitaufgerissenen, fast aus den Höhlen tretenden Augen starrte er hinunter auf die Erde. Plötzlich brach sie auf.
«O Gott!«schrie er und saß kerzengerade im Bett. Kalter Schweiß bedeckte Bens Körper, und die Bettwäsche war völlig durchnäßt. Er hatte durch seine Kleider hindurch das darunterliegende Laken naßgeschwitzt.
Bens Zähne schlugen aufeinander. Sein Körper zitterte unkontrollierbar.»O Gott, o Gott«, wiederholte er immer wieder.
Das Schlafzimmer war dunkel und kalt. Die Luft war eisig. Hinter den Vorhängen hörte man einen schweren Novemberregen gegen die Scheiben trommeln. Im Nu hatte er alle Lichter angeschaltet und drehte das Thermostat herauf. Mit ruckartigen, ungleichmäßigen Bewegungen streifte er seine Kleider ab und stürzte unter die heiße Dusche, wobei er sich die Haut unter dem knallharten Strahl beinahe verbrühte. Er verzog sein Gesicht, als das Wasser seinen Körper bearbeitete, und versuchte, die Erinnerung an den Alptraum aus dem Gedächtnis zu vertreiben.
Dann zog er frische Kleider an, rieb sich mit dem Handtuch die Haare trocken und ging direkt in die Küche, um sich einen starken Kaffee zu machen. Im Vorbeigehen drehte er jedes Licht an. An der Spüle hielt Ben schließlich inne. Es gab kein Entrinnen vor der Erinnerung, vor dem Bild, das ihn beinahe zu Tode erschreckt hatte. Alles Hin- und Hergelaufe, alle
Beschäftigung, alle Lichter und aller Kaffee würden nicht verhindern können, daß diese Szene wieder in ihm hochkäme.
Weil sie nun offen ans Tageslicht getreten war. Jahrelang war Ben in der Lage gewesen, sie in sein Unterbewußtsein zurückzudrängen, sie unter dem Alltagstrott zu verbergen. Er hatte sie über sechzehn Jahre lang vergessen, doch der Alptraum hatte die Erinnerung in ihm heraufbeschworen, und es gab keine Möglichkeit mehr, davor wegzulaufen.
Ben verbarg sein Gesicht in den Händen und schluchzte verzweifelt. Langsam, als näherte sie sich aus einer großen Entfernung, ließ sich allmählich wieder die Stimme seiner Mutter vernehmen. Sie sagte:»Benjamin Messer, heute bist du dreizehn Jahre alt. Du bist nun ein Mann. Es ist deine Pflicht, der Sohn zu sein, den dein Vater sich wünschte, denn er starb, als er dich beschützte. Ich habe dir nie erzählt, wie dein Vater umkam, Benjamin. Von heute an solltest du es wissen.«
Eine Träne rann zwischen Bens Fingern hindurch, als er so an die Spüle gelehnt dastand und die Szene von vor zweiundzwanzig Jahren noch einmal durchlebte. Und er empfand dasselbe Leid und dieselbe Qual wie damals.
«Benjamin«, sprach Rosa Messer ernst,»du solltest wissen, daß dein Vater von den Nazis getötet wurde. Du solltest wissen, daß er starb, während er Zion für die Juden auf der ganzen Welt verteidigte. Er ging nicht wie ein Lamm in den Tod wie die Juden in Auschwitz, sondern kämpfend wie ein Streiter Gottes. Ich stand hinter einem Zaun und beobachtete, wie die Deutschen deinen Vater aus der Baracke holten, ihn nackt auszogen und ihn zwangen, mit einer Schaufel eine Grube zu graben. Dann, Benjamin, stießen die Nazis deinen Vater in das Loch und begruben ihn bei lebendigem Leib. «Ben wußte, daß es lange her war, seit er gegessen hatte, und doch war ihm jetzt der Gedanke an Essen im höchsten Grad zuwider. Da er zumindest imstande war, Kaffee zu trinken, verdickte er ihn mit Sahne und Zucker und stürzte zwei Tassen hinunter, bevor er sich besser zu fühlen begann.
Der Alptraum hatte eine unglaubliche Wirkung auf ihn gehabt. Jetzt fiel ihm wieder ein, wie er vor zweiundzwanzig Jahren, als seine Mutter ihm zum erstenmal die Wahrheit über den Tod seines Vaters erzählt hatte, von denselben Alpträumen heimgesucht worden war. Sie waren nie genau gleich, lediglich in diesem einen Punkt, dem Gefühl, daß sich etwas unter seinen Füßen bewegte. Er war viele Male tränenüberströmt und schweißgebadet aufgewacht und hatte sogar gelegentlich im Schlaf geschrien. Doch nicht nur der schreckliche Tod seines Vaters hatte Ben die Kindheit zum Greuel gemacht. Verantwortlich dafür waren auch die anderen Erzählungen seiner Mutter von ihren Erlebnissen im Konzentrationslager, mit denen sie ihr Kind belastet hatte. Die langen Abende, an denen er ihren Geschichten lauschte, sich die Greueltaten ausmalte und seine Mutter stundenlang ununterbrochen weinen sah; all dies hatte die Kindheit für Ben Messer zur Trübsal werden lassen, so sehr, daß er sich wünschte, nie als Jude geboren worden zu sein.
Das letzte Mal, als er sich über seinen Vater oder Majdanek Gedanken gemacht hatte, war auch das letzte Mal gewesen, da er mit Salomon Liebowitz zusammengesessen und geredet hatte. Damals war er neunzehn Jahre alt gewesen, und danach hatte er nie wieder geweint.
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