«Nein«, antwortete er und runzelte die Stirn, da er sich plötzlich wieder an die Gesetzessammlung erinnerte, die er dringend übersetzen mußte. Als er Dr. Weatherbys Fotos aus Israel erhalten hatte, hatte er den ägyptischen Kodex, an dem er normalerweise gerade arbeitete, beiseite gelegt.»Etwas anderes.«

«Willst du’s mir nicht verraten?«

Er zögerte. In einem seiner Briefe hatte John Weatherby Ben gebeten, mit niemandem über sein Projekt zu reden. Es befand sich noch im streng geheimen Frühstadium, und es sollte vorerst nichts davon an die Öffentlichkeit gelangen. Weatherby wollte nicht, daß gewisse Kollegen schon jetzt davon erfuhren.

«Ich erzähl’s dir beim Abendessen. Gib mir noch zehn Minuten Zeit.«

Als er den Hörer auflegte, zuckte Ben Messer die Achseln. Angie war gewiß eine Ausnahme, ihr könnte er das Geheimnis ruhig anvertrauen.

Als er die Fotografien in den Umschlag zurückschieben wollte, hielt er von neuem inne, um das Manuskript in seiner klaren Sprache noch einmal zu bestaunen. Da lag es vor ihm in schlichtem Schwarz-Weiß. Die Stimme eines Mannes, der seit fast zwei Jahrtausenden tot war. Ein Mann, dessen Messer das Ende des Schreibrohrs angespitzt hatte, dessen Hände das vor ihm liegende Papyrus geglättet hatten, dessen Speichel den Farbstein benetzt hatte, um daraus Tinte zu machen. Hier waren seine Worte, die Gedanken, die er vor seinem Tod unbedingt noch festhalten wollte.

Eine ganze Weile stand Ben wie angewurzelt vor seinem Schreibtisch und starrte wie hypnotisiert auf die glänzenden Ablichtungen des alten Schriftstücks.

John Weatherby hatte recht. Falls noch weitere David Ben Jona-Schriftrollen gefunden würden, wäre dies eine Sensation.

«Warum?«fragte Angie, während sie ihm Wein nachschenkte. Ben antwortete nicht sofort. Geistesabwesend starrte er auf das lodernde Kaminfeuer. In dem hellen, heißen Licht sah er wieder die Handschrift David Ben Jonas vor sich, und er erinnerte sich, wie sehr es ihn am frühen Abend erstaunt hatte, zu entdecken, daß die Schriftrolle von einem Privatmann und in alltäglicher Sprache verfaßt worden war. Ben war ganz darauf eingestellt gewesen, einen religiösen Text zu übersetzen, vielleicht das Buch Daniel oder das Buch Ruth, und statt dessen war ihm die Überraschung seines Lebens bereitet worden.»Ben?«sagte Angie ruhig. Sie hatte ihn schon einmal so gesehen, im» Schrein des Buches «in Israel, wo sie im Jahr zuvor als Touristen vor den eindrucksvollen Originalen der berühmten Schriftrollen vom Toten Meer gestanden hatten. Wenn Ben sich mit seiner einzigen großen Liebe beschäftigte — rissiges Papier und verblichene Tinte — zog er sich völlig in sich zurück und verlor den Bezug zur Wirklichkeit.»Ben?«

«Hm?«Jäh wurde er aus seinen Gedanken gerissen.»Oh, verzeih mir, ich glaube, ich bin in Gedanken woanders.«

«Du hast mir gerade von Kopien einer Schriftrolle erzählt, die du heute abend aus Israel erhalten hast. Du hast gesagt, Dr. Weatherby hat sie dir geschickt, und alles spricht dafür, daß es sich dabei um eine sensationelle Entdeckung handelt. Warum? Stammen sie etwa vom Toten Meer?«

Ben lächelte und nippte an seinem Weinglas. Angies Kenntnis alter Manuskripte war nur laienhaft. Bestenfalls kannte sie die Qumran-Handschriften vom Hörensagen. Aber die hochgewachsene, gertenschlanke und auffallend hübsche Angie war ja schließlich Mannequin und hatte daher nur eine äußerst begrenzte Vorstellung davon, womit er seinen Lebensunterhalt verdiente.

«Nein, sie stammen nicht vom Toten Meer. «Er und Angie saßen bei einem Glas edlen Weines auf dem Fußboden vor dem Feuer. Reste des Abendessens standen noch auf dem Tisch. Bevor er antwortete, drehte sich Ben ein wenig zur Seite um ihr hübsches Gesicht besser betrachten zu können.

«Sie wurden unter den Überresten einer alten Wohnstätte gefunden, an einem Ort namens Khirbet Migdal. Sagt dir das etwas?«Sie schüttelte den Kopf. Im Schein des Feuers schien ihr glänzendes Haar wie aus Bronze zu sein.

«Nun, vor etwa sechs Monaten teilte mir John Weatherby mit, daß er von der israelischen Regierung endlich die Genehmigung erhalten habe, in Galiläa eine Ausgrabung durchzuführen. Wie ich dir sicherlich erzählt habe, gilt Weatherbys Hauptinteresse den ersten drei Jahrhunderten unserer Zeitrechnung. Daher beschäftigt er sich unter anderem mit dem alten Rom und seinem Niedergang, der Zerstörung Jerusalems und dem Aufstieg des Christentums. Jedenfalls zog

John die richtigen Schlußfolgerungen aus den Hinweisen, die er vorfand, und konzentrierte seine Forschungen schließlich auf ein bestimmtes Ausgrabungsgebiet, auf das ich hier nicht näher eingehen will, und trug den Israelis sein Anliegen vor. Dann brach er vor fünf Monaten mit einem Archäologen-Team aus Kalifornien auf, schlug in der Nähe des Ortes Khirbet Migdal sein Lager auf und begann mit seiner Ausgrabung.«

Ben trank einen Schluck Wein und setzte sich bequem zurecht.»Ich möchte nicht im einzelnen auf seine Entdeckungen eingehen. Es sei nur so viel gesagt: Das Graben lohnte sich. Doch das, wonach er ursprünglich suchte — nämlich eine Synagoge aus dem zweiten Jahrhundert —, kam nie zum Vorschein. Er hatte sich getäuscht. Aber rein zufällig stieß er auf etwas anderes, auf etwas von solch bahnbrechender Bedeutung, daß er mich vor zwei Monaten aus Jerusalem anrief. Er habe ein Versteck mit Schriftrollen gefunden, erzählte er mir, ein Versteck, das so hermetisch abgeschlossen sei und so tief unter der Erde liege, daß die Rollen einwandfrei erhalten seien. Normalerweise haben wir nicht so viel Glück.«

«Aber was ist dann mit der Schriftrolle, die wir gesehen haben, als wir in Israel waren.«

«Das Tote Meer ist eine unglaublich trockene Gegend. Daher wurden die Rollen vor der Zerstörung durch Feuchtigkeit bewahrt. Genauso verhält es sich auch mit Papyri aus ägyptischen Gräbern. Aber in Galiläa, wo eine höhere Luftfeuchtigkeit herrscht, ist die Chance, daß so vergängliche Materialien wie Holz und Papier überdauern, praktisch Null. Natürlich vom Standpunkt der Archäologen gesehen.«

«Und doch hat Dr. Weatherby welche gefunden?«

«Ja«, erwiderte Ben,»es sieht ganz so aus.«

Nun begann auch Angie in die Flammen zu starren. Ihre Vorstellungskraft fing Feuer.»Wie alt mögen diese Rollen wohl sein?«

«Wir wissen es noch nicht mit hundertprozentiger Sicherheit. Das letzte Urteil darüber hängt von mir und zwei anderen Übersetzern aus Detroit und London ab. Durch chemische Analysen konnte Weatherby das Alter der Tongefäße in etwa abschätzen, mit einer möglichen Abweichung von ein oder zwei Jahrhunderten. Der Papyrus und die Tinte wurden ebenfalls analysiert, aber auch hier waren die Ergebnisse nicht restlos überzeugend. Die beiden anderen Übersetzer und ich sollen nun die genauere Eingrenzung vornehmen.«

«Die anderen beiden erhalten ebenfalls Auszüge und arbeiten in der gleichen Weise wie ich. Übersetzer arbeiten gewöhnlich in Teams, aber Weatherby möchte, daß wir getrennt und ohne gegenseitige Hilfe zu Werke gehen. Er glaubt nämlich, daß wir auf diese Weise genauere Übersetzungen liefern werden. Und ich schätze, er wählte uns drei, weil wir ein Geheimnis für uns behalten können.«

«Warum? Was ist denn dabei das Geheimnis?«

«Na ja, das hängt mit unserem Beruf zusammen. Manchmal ist es einfach besser, eine phantastische Entdeckung noch eine Weile für sich zu behalten, bis alles vorbereitet und fertiggestellt ist, um erst dann damit an die Öffentlichkeit zu treten. Die Authentizität eines solchen Fundes könnte in Zweifel gezogen werden, und dann muß man gewappnet sein, um seine Forschungsergebnisse zu verteidigen. In unserem Tätigkeitsfeld gibt es immer kleine Eifersüchteleien. «Ben wollte nicht noch weitergehen. Angie würde es nicht verstehen. Und auch sonst kein Außenstehender, denn es war nicht leicht zu erklären. Man konnte einen makellosen wissenschaftlichen Ruf haben und mit ehrlichen Methoden arbeiten, immer fand sich einer, der alles anfechten würde. Sogar wegen der Qumran-Schriftrollen war seinerzeit weltweit ein Meinungsstreit unter Wissenschaftlern ausgebrochen.

Selbst bei naturwissenschaftlichen Entdeckungen war so etwas möglich.

«Du hast mir noch immer nicht verraten, was nun gerade an diesen Rollen so besonders ist.«

«Nun, einerseits sind sie die ersten ihrer Art, die je gefunden wurden. Alle antiken Schriftrollen, die heute auf der ganzen Welt in Museen und Universitäten aufbewahrt werden, haben durchweg einen religiösen oder irgendwie >offiziellen< Inhalt, beispielsweise als Verwaltungs- oder Gesetzesaufzeichnung. Und sie wurden alle von Priestern, Mönchen oder sonstigen Schriftgelehrten verfaßt. Der Durchschnittsmensch, der in diesen Zeiten lebte, schrieb niemals Dinge nieder, wie du und ich es tun. Deshalb ist noch nie zuvor etwas gefunden worden, was sich mit Weatherbys Rollen vergleichen ließe. Verstehst du, ein normaler Bürger, der persönliche Worte niederschreibt.«

«Was für Worte?«

«Es sieht aus wie eine Art Brief oder Tagebuch. Er sagt, er habe eine Beichte abzulegen.«

«Also werden die Rollen dadurch berühmt, weil sie die einzigen ihrer Art sind.«

«Deshalb und dann natürlich«, Ben kniff die Augen zusammen und zeigte ein verschmitztes Lächeln,»wegen des Fluchs.«

«Ein Fluch?«

«Irgendwie ist es ja romantisch, ein Versteck mit alten Schriftrollen zu finden, die mit einem Fluch behaftet sind. Weatherby erzählte mir am Telefon davon. Wie es scheint, war der Jude namens David Ben Jona, der die Rollen schrieb, vermutlich als alter Mann, fest entschlossen, seine kostbaren Handschriften sicher zu bewahren, und griff daher auf einen uralten Fluch zurück. Den Fluch Mose.«

«Den Fluch Mose!«

«Er stammt aus dem Fünften Buch Mose, Kapitel achtundzwanzig. Dort findet sich eine ganze Reihe schrecklicher Flüche. Wie etwa von einer schlimmen Feuersbrunst heimgesucht und auf ewig von Grind und Krätze verfolgt zu werden. Ich denke, David Ben Jona hatte diese Rollen wirklich schützen wollen. Er mußte wohl geglaubt haben, dies sei genug, um jeden Unbefugten in Angst und Schrecken zu versetzen und von den Rollen fernzuhalten.«

«Nun, Weatherby hat es anscheinend nicht abgeschreckt. «Ben lachte.»Ich bezweifle, ob der Fluch nach zweitausend Jahren noch viel von seiner Kraft hat. Aber wenn Weatherby jetzt plötzlich von Grind und Krätze befallen wird.«

«Hör auf!«Angie rieb sich die Arme.»Brrr. Ich kriege Gänsehaut davon.«

Beide starrten wieder ins Feuer, und Angie, die sich an das verblichene Pergament erinnerte, das sie im» Schrein des Buches «gesehen hatten, fragte:»Warum waren die Rollen von Qumran eine so phantastische Entdeckung?«

«Weil sie den Beweis für die Richtigkeit der Bibel lieferten. Und das ist keine Kleinigkeit.«

«Ist das dann nicht bedeutender als das, was Dr. Weatherbys Rollen zu sagen haben?«

Ben schüttelte den Kopf.»Nicht vom Standpunkt der Geschichtsschreibung. Wir haben genug Bibeltexte, die uns das verraten, was. wir über die Entwicklung der Bibel durch die Jahrhunderte hindurch wissen müssen. Was wir nicht besitzen, ist eine hinreichende Kenntnis darüber, wie sich zu jenen Zeiten das tägliche Leben abspielte. Religiöse Schriftrollen wie die vom Toten Meer enthalten beispielsweise Prophezeiungen und Glaubensbekenntnisse, doch sie sagen uns nichts über die Zeit, in der sie geschrieben wurden, oder über die Menschen, die sie verfaßten. Weatherbys Rollen dagegen. Großer Gott!«entfuhr es ihm plötzlich.»Ein persönliches Tagebuch aus dem zweiten oder dritten Jahrhundert! Denk nur mal an die Wissenslücken, die dadurch geschlossen werden könnten!«

«Was ist, wenn sie älter sind? Vielleicht aus dem ersten Jahrhundert?«

Ben zuckte die Schultern.»Das ist möglich, aber um das sagen zu können, ist es noch zu früh. Weatherby tippt auf das späte zweite Jahrhundert. Die Radiokarbonmethode kann es nicht weiter für uns eingrenzen. Letztendlich hängt es von meiner Analyse des Schreibstils ab. Erst sie wird uns Aufschluß darüber geben, wann David Ben Jona gelebt hat. Dabei ist meine Tätigkeit keine exakte Wissenschaft. Aus dem zu schließen, was ich bislang gelesen habe, könnte der alte David Ben Jona zu jeder x-beliebigen Zeit innerhalb einer Epoche von dreihundert Jahren gelebt haben.«

Ein verträumter Blick zeigte sich auf Angies Gesicht. Es war ihr gerade etwas eingefallen.»Aber das erste Jahrhundert wäre das phantastischste, nicht wahr?«

«Natürlich. Neben den Qumran-Handschriften, den Briefen von Bar Kochba und den Schriftrollen von Masada existiert nach heutiger Kenntnis kein weiteres aramäisches Schriftstück aus der Zeit Christi.«

«Meinst du, er wird darin erwähnt?«

«Wer?«

«Jesus.«