Ben griff nach den verstreuten Seiten seiner Übersetzung und versuchte, sie in die richtige Reihenfolge zu bringen. Es hatte ihm wehgetan, von Salomon Abschied zu nehmen, denn Salomon war das einzige Glück seiner Jugend gewesen. Ein Freund, den er liebte, dem er sich anvertraute und auf den er angewiesen war. Aber gleichzeitig wußte Ben, daß er dem Umfeld seiner Kindheit entfliehen mußte, um in einer veränderten Umgebung einen neuen Anfang zu machen. Die alten Straßen von Brooklyn waren voller Erinnerungen. Er mußte ihnen entkommen.
Seine Übersetzung der fünften Rolle war lang — bis dahin war es die längste Rolle — und daher ziemlich unordentlich. Zeilen waren durchgestrichen. Einige Wörter hatte er durchgestrichen und verbessert. Randbemerkungen waren in den Text hineingeschrieben. Und stellenweise stieß er auf seine völlig unleserliche Handschrift. Ben schaute zum Telefon, dann auf die Uhr. Es war sechs Uhr dreißig. Er fragte sich, ob Judy Golden wohl zu Hause war.
Sie war wieder durchnäßt, und trotzdem lächelte sie verschmitzt.»Es tut mir gut«, meinte sie, als sie ihren Pullover zum Trocknen aufhängte.»Ich könnte näher am Haus parken, aber ich laufe gerne durch den Regen.«
Judy trug wieder Jeans und ein T-Shirt. Ihr Haar war feucht und klebte ihr am Kopf und verlieh ihr das Aussehen eines nassen Kätzchens.»Danke, daß Sie alles stehen und liegen gelassen haben und gekommen sind«, sagte Ben.
«Ich mußte gar nichts stehen und liegen lassen. Ich bin gespannt, die Rolle zu lesen. Und Sie sagen, es sei bisher die längste?«Sie gingen ins Wohnzimmer, wo alle Lichter brannten und es wohlig warm war. Gegen die regnerische Nacht war es eine sehr behagliche Atmosphäre.
«Diesmal habe ich richtigen Kaffee für uns zubereitet«, verkündete er auf dem Weg in die Küche. Judy sank auf die Couch und schleuderte ihre Stiefel von sich. Dann zog sie die Knie an und schlang die Arme um die Beine. Ben Messers Wohnung war gemütlich, überhaupt nicht zu vergleichen mit ihrer eigenen, die unordentlich und unaufgeräumt war und von einem riesigen Hund bewohnt wurde, der noch dazu schnarchte. Judy hatte laute Nachbarn zu beiden Seiten, und in der Wohnung über ihr lebte, nach dem Getrampel zu schließen, ein zehnfüßiges Ungeheuer. Sie hatte selten den Frieden und die Ruhe, die Ben zu Hause genießen konnte.
Er kam mit dem Kaffee herein und setzte ihn auf dem niedrigen Tisch ab. Als er neben ihr Platz genommen hatte, deutete er auf den Stoß Papier neben dem Tablett und erklärte:»Rolle Nummer fünf. In all ihrer unleserlichen Pracht.«
Sie grinste.»Wissen Sie, als ich letzte Nacht wegging, stand ich im Eingang Ihres Arbeitszimmers und beobachtete Sie am Schreibtisch. Mann, haben Sie sich vielleicht konzentriert! Ich räusperte mich ein paarmal, und Sie hörten mich nicht einmal. Und Ihre Hand schrieb mit einer Geschwindigkeit von hundert Stundenkilometern! Es muß eine spannende Rolle sein.«
«Lesen Sie selbst.«
Mit der Kaffeetasse in einer Hand und den Blättern auf ihrem Schoß begann Judy, Rolle Nummer fünf zu lesen.
Lange Zeit vernahm man nichts als den heftigen Regen, der gegen die Fenster klatschte. Gelegentlich konnte man hören, wie sich das Heizgerät an- und ausschaltete, da der Thermostat für eine gleichbleibende Raumtemperatur sorgte. Und Judys schwaches, leises Atmen, während sie die Rolle las.
Ben saß dicht neben ihr und streichelte zerstreut Poppäa Sabina, die auf seinen Schoß gesprungen war. Er konnte seine Augen nicht von Judys Gesicht abwenden, und gleichzeitig wunderte er sich über sie und fragte sich, warum er sie zu sich gerufen hatte. Als ihre großen, braunen Augen langsam über die Zeilen wanderten, erkannte Ben fasziniert, daß sie in eben diesem Augenblick einen Tag im alten Jerusalem durchlebte. Und er fragte sich: Ist das der Grund, warum ich sie hier haben will? Um Davids Erfahrungen mit ihr zu teilen? In der Wärme und Stille der Wohnung, während der Herbstregen ununterbrochen gegen die Fenster prasselte, kam Ben der Erkenntnis, warum er Judy Golden an seiner Seite brauchte, einen Schritt näher. Denn während er von den entfernten Geräuschen des Novemberregens dahingetrieben wurde, glaubte Ben Messer, aus seinem Unterbewußtsein ein sanftes Flüstern zu vernehmen, das ihm sagte: Sie ist hier, weil David es so will.
Als Judy geendet hatte, rührte sie sich nicht von der Stelle, sondern starrte weiter auf die letzte Zeile, die sie gelesen hatte. In der linken Hand hielt sie auf halbem Weg zu ihren Lippen eine Tasse mit kaltem Kaffee. Neben ihr saß Ben, der kaum atmete und in einem Dämmerzustand vor sich hin grübelte.
Endlich brach sie den Bann.»Es ist wunderschön«, flüsterte sie. Ben versuchte, seinen Blick auf Judy zu konzentrieren. Worüber hatte er gerade nachgedacht? Über irgend etwas im Zusammenhang mit David. Ben schüttelte den Kopf und hatte Judy jetzt schärfer im Blickfeld. Er war in Gedanken abgeschweift. Er konnte sich nicht daran erinnern, woran er gedacht hatte. An irgend etwas, was mit David zu tun hatte. Doch nun war es wie weggeblasen.
Ben räusperte sich.»Ja, es ist schön. Wissen Sie, ich bekomme irgendwie ein seltsames Gefühl, wenn ich Davids Worte lese. Wie.beinahe, als ob er direkt zu mir spräche. Wissen Sie, was ich meine? Es ist, als könnte er jeden Augenblick sagen: >Nun, Ben.<«
«Tja, offensichtlich fühlen Sie eine gewisse Verwandtschaft mit ihm. Sie haben doch tatsächlich einige Dinge mit ihm gemein. Dasselbe Alter, beide Juden, beide Gelehrte des Gesetzes. «Ben hörte nicht weiter hin. Sein Blick wanderte die Wände entlang und blieb an einem Aquarell vom Nil und den Pyramiden hängen. Eine andere, aus großer Ferne kommende Stimme trat an die Stelle von Judys Stimme und sagte:»Benjy, dein Vater hat immer gesagt, daß der Herr den Weg der Gerechten behütet, der Weg der Sünder aber in den Abgrund führt. «Jona Messer. Jona Ben Ezekiel.
Dann dachte er an Saul, so kräftig und muskulös neben dem sanften, romantischen David. Und er dachte an Salomon Liebowitz, der den polnischen Rohlingen die Nasen blutig geschlagen hatte. Kann das alles Zufall sein? fragte er sich verwirrt. Ich verstehe es nicht. Es scheint zuviel.
Judys Stimme drang wieder langsam an sein Ohr.»Ich bin sicher, Sie erkennen viel von sich selbst in David, und deshalb bedeuten Ihnen seine Worte so viel.«
Er schaute sie schräg von der Seite an, während er abermals versuchte, ihr Gesicht klar zu sehen.
Judy brachte da einen ganz neuen Gedanken ins Spiel, einen merkwürdigen, schwer faßbaren Gedanken. Ich erkenne viel von mir selbst in David. Was hatte das zu bedeuten? Was bedeutete das alles? Die Übereinstimmungen. David, der zu mir spricht. Judy beugte sich nach vorne, um ihre Kaffeetasse auf dem Glastisch abzustellen, und durch die Bewegung und das Klappern wurde Ben aus seinen Träumen gerissen. Er schüttelte seinen Kopf zum zweitenmal. Seltsame Gedanken. Ich kann mir nicht vorstellen, wie ich darauf komme. Es muß hier drinnen wohl zu warm sein. Vielleicht bin ich auch hungrig.
«Möchten Sie etwas zu essen?«hörte er sich fragen und schreckte von der Lautstärke seiner eigenen Stimme hoch.
«Nein, danke. Bruno und ich haben, kurz bevor Sie anriefen, zu Abend gegessen. Der Kaffee ist völlig ausreichend, danke. «Sie saßen wieder schweigend da und lauschten auf das sanfte Prasseln des Regens gegen das Fenster, während sie sich im Geiste die kahlen, herbstlichen Bäume und die blankgewaschenen Gehsteige ausmalten. Bis Judy ganz unvorbereitet fragte:»Warum sind Sie Paläograph geworden?«
«Was?«
«Warum sind Sie Schriftenkundler geworden?«»Warum? Nun.?«Er runzelte die Stirn und suchte nach einer Antwort.»Niemand hat mir je zuvor diese Frage gestellt. Ich weiß nicht recht. Wahrscheinlich einfach, weil ich mich dafür interessiere.«
«Schon immer?«
«Solange ich mich erinnern kann. Schon als Junge haben mich antike Manuskripte fasziniert. «Ben führte seine Tasse zum Mund und trank schlürfend einen Schluck. Es war tatsächlich so. Niemand hatte ihn je zuvor danach gefragt, und folglich hatte er sich auch nie Gedanken darüber gemacht. Als er nun darüber grübelte, fiel ihm absolut kein Grund ein, warum er sich der Paläographie, der Handschriftenkunde, verschrieben hatte.»Ich glaube, es hat sich wohl einfach so ergeben.«
«Es ist interessant. Aber man muß dafür sehr geduldig sein, was ich nicht bin. Hatten Sie als Kind eine intensive religiöse Erziehung?«
«Ja.«
«Ich nicht. Meine Eltern waren Reformjuden. Und selbst als solche hielten sie sich an keinerlei Gebote. Ich kann mich nicht entsinnen, je den Unterschied zwischen Jom Kippur und Rosch Ha-Schana gekannt zu haben. «Sie nippte ein wenig an ihrem Kaffee und überlegte sich, wie sie ihre nächste Frage formulieren sollte.»Waren Sie sehr klein, als Sie Deutschland verließen?«
«Ich war zehn.«
Sie sah ihn mit ihren großen Augen an, die so ausdrucksvoll und unwiderstehlich waren, und Ben wußte genau, was sie dachte. Es war ein Thema, das er noch nie zuvor angeschnitten hatte, nicht einmal mit Angie, und er erkannte, daß er gefährlich nahe daran war, sich darauf einzulassen.
«Haben Sie Geschwister?«
«Nein.«
«Da haben Sie aber Glück. Ich war eines von fünf Kindern. Drei Brüder und eine Schwester, und ich war in der Mitte. Gott, was für ein Irrenhaus! Mein Vater war Schneider. Er hatte sein eigenes Geschäft und konnte es sich leisten, uns in relativem Wohlstand aufzuziehen. Rachel, meine kleine Schwester, lebt immer noch bei meinen Eltern. Die anderen sind alle verheiratet. Wissen Sie«, sie lachte leise auf,»ich habe mir so oft gewünscht, ein Einzelkind zu sein. Sie hatten Glück.«
«Hm, ich weiß nicht recht«, erwiderte er geistesabwesend. Wie oft hatte er sich als Kind Geschwister gewünscht?» Eigentlich hatte ich ja doch einen älteren Bruder. Aber er starb, als ich noch klein war.«
«Das ist zu traurig. Erinnern Sie sich an Deutschland?«Ben sah Judy ruhig an und fühlte sich seltsam behaglich dabei, sich so mit ihr zu unterhalten. Er wußte, daß sie ihn aus der Reserve locken wollte. Nachdem sie über ihre eigene Vergangenheit gesprochen hatte, würde es ihm leichter fallen, über seine eigene zu sprechen.»Sie wollen wissen, wie es war, während des Krieges ein Jude in Deutschland gewesen zu sein«, stellte er schließlich fest.»Ja.«
Ben schaute gedankenvoll auf seine Hände. Heute scheint der richtige Tag zu sein, um an wunden Punkten zu rühren, dachte er. Zuerst Angie, dann der Alptraum und nun auch noch das.»Wissen Sie, ich habe nie mit jemandem über diesen Abschnitt meines Lebens gesprochen. Nicht einmal meine Verlobte weiß viel über mich vor meinem zwanzigsten Lebensjahr, und sie ist durchaus bereit, es dabei zu belassen. Warum interessieren Sie sich so dafür?«
«Es liegt wohl in meiner Natur. Ich weiß gern über die Leute Bescheid. Darüber, was sie bewegt. Was einen Juden dazu veranlaßt, kein Jude mehr zu sein.«
«Woher wollen Sie wissen, daß ich je einer war?«»Sie sagten, Sie hatten eine religiöse Kindheit?«
«Ja. das sagte ich, nicht wahr? Also gut, ich werde es Ihnen erklären. Ich habe dem jüdischen Glauben tatsächlich den Rücken gekehrt. Aber ich wurde nicht nur ins Judentum hineingeboren, und damit hatte es sich, wie es auch bei Ihnen der Fall war. Ich war einmal ein praktizierender Jude, und dann habe ich es aufgegeben. Eigentlich tat ich sogar mehr als das. Ich wandte mich erhobenen Hauptes davon ab und schlug die Tür hinter mir zu. Zufrieden?«Sie zuckte die Achseln.»Das war keine sehr theologische Antwort.«
«Das habe ich auch nie behauptet. Na ja. «Es war, als spräche er mit sich selbst.»Vielleicht war ich einfach nicht dazu bestimmt, ein Jude zu sein. In der Kindheit wurde ich weiß Gott genug darauf getrimmt. Hebräisch war mir ebenso geläufig wie Jiddisch. Ich besuchte die Jeschiwa und ging jeden Samstag in die Synagoge. Als ich dann neunzehn war, stellte ich fest, daß es einfach nichts für mich war. Und so habe ich es ganz und gar sein lassen.«
«Sind Sie jetzt ein Atheist?«
Erneut fühlte er sich durch ihre Frage unliebsam überrascht.»Junge, Junge, Sie scheuen sich wohl überhaupt nicht davor, persönliche Fragen zu stellen, oder? Sind Sie Atheistin?«
«Ganz und gar nicht. Ich hänge dem Judentum auf meine eigene Weise, an.«
«Ein Judentum nach Ihrem eigenen Gutdünken.«
«Wenn Sie so wollen.«
«Ja, ich bin Atheist. Überrascht Sie das?«
«In gewisser Weise schon. Nur weil es mir sonderbar vorkommt, daß Sie Ihr Leben dem Studium religiöser Schriften widmen, ohne selbst religiös zu sein.«
«Großer Gott, Judy, man muß doch wohl kein Grashüpfer sein, um Insektenkunde zu studieren!«
Sie lachte.»Das ist wahr. Aber trotzdem könnte ich wetten, daß Sie die Thora besser kennen als irgendein Rabbi. «Ben zog die Augenbrauen hoch. Irgendwann in seiner nebelhaften Vergangenheit hatte jemand schon einmal dasselbe zu ihm gesagt. Er konnte sich nur nicht erinnern, wer es gewesen war, aber es hatte in seinem Geist dieselbe Reaktion hervorgerufen. Genau wie damals ertappte sich Ben dabei, wie er dachte: Es ist doch ziemlich seltsam, daß ich über Thora und Judentum vermutlich mehr weiß als beispielsweise der hiesige Rabbi, und doch gibt es dabei diesen großen Unterschied.
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