«Oh, na ja, ich glaube nicht. «Ben wandte seinen Blick von ihr ab. Für ihn war die Wendung» aus der Zeit Christi «lediglich ein Instrument zum Festlegen des historischen Maßstabs. Es war einfacher, als zu sagen» vom Jahr vier vor unserer Zeitrechnung bis etwa zum Jahr siebzig nach unserer Zeitrechnung «oder» nach-augustinisch und präflavianisch«. Es war nur ein Kürzel zur Bezeichnung dieser bestimmten Epoche in der Geschichte. Ben besaß seine eigene Theorie über den Mann, den die Leute Christus nannten. Und diese wich von der Norm ab.

«Du wirst also anhand der Schriften herausfinden können, wann es geschrieben wurde?«

«Das will ich hoffen. Die Schreibstile veränderten sich im Laufe der Jahrhunderte. Die Handschrift selbst, das benutzte Alphabet und die Sprache sind meine drei Maßstäbe. Ich werde Weatherbys Rollen mit anderen vergleichen, die wir heute schon besitzen, wie etwa die von Masada, und sehen, inwieweit der Schreibstil übereinstimmt. Nun haben wir nach der chemischen Analyse des Papyrus ein hypothetisches Entstehungsdatum von vierzig C. E. mit einer Spannweite von zweihundert Jahren. Das bedeutet, der Papyrus wurde zwischen hundertsechzig B. C. E. und zweihundertvierzig C. E. hergestellt.«

«Was heißt C. E.?«

«Es steht für Common Era und bedeutet dasselbe wie A. D. >Anno Domini< oder >Christi Geburtc, beinhaltet aber keine religiöse Anspielung. Archäologen und Theologen benutzen es. Aber es ist ja auch einerlei, wie man sich bei der Zeitangabe nun ausdrückt. Die Radiokarbonmethode funktioniert prima bei prähistorischen Schädeln, wo ein so großer zeitlicher Spielraum nicht weiter stört. Aber wenn man eine relativ kleine Zeitspanne vor ungefähr zweitausend Jahren eingrenzen will, dann ist ein Spielraum von zweihundert Jahren praktisch überhaupt keine Hilfe. Er bildet lediglich die Grundlage, von der man ausgeht. Dann versuchen wir, anhand der Bodentiefe, in der die Ausgrabung gemacht wurde, ein Datum zu bestimmen. Ältere Schichten liegen darunter, und Lagen aus jüngeren Jahren breiten sich darüber aus. Wie geologische Bodenschichten. Doch nachdem dies alles geschehen ist, müssen wir uns für das endgültige Datum doch wieder der Schrift selbst zuwenden. Und bisher schreibt dieser

David Ben Jona in einer Art, die große Ähnlichkeit mit den Handschriften vom Toten Meer aufweist und die man irgendwann zwischen hundert vor Christus und zweihundert nach Christus datieren kann.«

«Vielleicht erwähnt dieser David in seinem Schriftstück etwas, was dir einen genauen Anhaltspunkt geben könnte, einen Namen, ein Ereignis oder sonst etwas.«

Ben, der eben sein Glas zu den Lippen führen wollte, hielt auf halbem Weg inne und starrte Angie an. Darauf war er selbst noch gar nicht gekommen. Und warum sollte es auch nicht möglich sein? Schließlich hatte das erste Bruchstück ja bereits bewiesen, daß diese Migdal-Schriftrollen sich von allen bisherigen unterschieden. Es war möglich. Alles war möglich.

«Ich weiß nicht, Angie«, antwortete er langsam.»Daß er uns ein Datum nennt. auf soviel darf man wohl nicht hoffen. «Sie zuckte die Achseln.»So wie du redest, könnte man meinen, daß du nicht einmal auf die Rollen selbst hättest hoffen dürfen. Und dennoch sind sie da.«

Ben blickte sie abermals erstaunt an. Angies Fähigkeit, selbst die wunderlichsten Ereignisse ganz beiläufig hinzunehmen, überraschte ihn immer wieder. Und doch, so überlegte er jetzt, während er ihren gleichgültigen Gesichtsausdruck studierte, war es vielleicht nicht so sehr die Gelassenheit, mit der sie gewisse Ereignisse hinnahm, sondern vielmehr die Gelassenheit, mit der sie sie abtat. Sie besaß die Fähigkeit, alles mit der gleichen nüchternen Sachlichkeit aufzunehmen, sei es nun die Tageszeit oder die Nachricht von einer Katastrophe. Angie war keine Frau von heftigen Leidenschaften. Niemals hatte sie etwas an den Tag gelegt, was auch nur annähernd einem Gefühlsausbruch gleichkam. Und sie schien in der Tat stolz darauf zu sein, eine höchst gleichmütige Person zu sein. Selbst in Krisensituationen verlor sie nie die Fassung. Eine beliebte Anekdote, die in ihrem

Freundeskreis immer wieder erzählt wurde, handelte von Angies Reaktion auf die Nachricht von der Ermordung John F. Kennedys. Noch keine Stunde, nachdem es geschehen war und die ganze Welt von Entsetzen erfüllt war, hatte ihr einziger Kommentar gelautet:»Tja, das Leben ist gemein.«

«Ja, Schriftrollen wie diese sind mehr, als man sich zu erhoffen wagt. Eigentlich sind sie der Traum eines jeden Archäologen. Allerdings. «Bens Stimme wurde schwächer. Da gab es noch so viele Wenn und Aber. Dr. Weatherby hatte in seinen Briefen nur auf» Schriftrollen «hingewiesen. Doch er hatte nie ihre genaue Anzahl erwähnt. Wie viele von ihnen gab es dort? Wie viele hatte der alte David Ben Jona wohl noch schreiben können, bevor er von» diesem Leben in ein anderes «hinübergegangen war? Und was war es, das er noch so dringend hatte loswerden und zu Papier bringen müssen? Während er mit Angie vor dem Feuer saß und Wein trank, begann Ben über Fragen nachzudenken, die ihm bis dahin nie in den Sinn gekommen waren.

Ja, in der Tat, was mochte den alten Juden wohl dazu gebracht haben, sein Leben zu Papier zu bringen? Was war so Bedeutendes geschehen, daß er das machte, was so wenige seiner Zeitgenossen taten: die eigenen Gedanken

niederzuschreiben? Und was hatte ihn dann veranlaßt, jene Rollen ebenso sorgfältig zu verpacken, wie es die Mönche vom Toten Meer getan hatten — seine Aufzeichnungen als Lektüre für seinen Sohn?

Und dann dieser absonderliche Fluch! Die Rollen mußten etwas Wichtiges enthalten, wenn der alte David so weit gegangen war, um sie zu schützen.

Ben unterbrach seine Spekulationen und konzentrierte seine Gedanken wieder auf den Fund selbst. Er wußte aus Erfahrung, daß es nicht lange dauern würde, bis die Nachricht davon durchsickerte, und war dies einmal geschehen, dann würde die

Welt den Atem anhalten. Der Medienrummel wäre schwindelerregend. Sein Name, Dr. Benjamin Messer, würde untrennbar mit der Entdeckung verbunden, und er fände sich plötzlich in dem Rampenlicht wieder, von dem er so oft geträumt hatte. Er würde Bücher veröffentlichen, im Fernsehen interviewt werden und Vortragsreisen durchs ganze Land unternehmen. Er fände Ansehen, Ruhm und Anerkennung und. Im knisternden Feuer schlugen die Flammen hoch und tauchten das Zimmer für einen Moment in hellen Schein. Irgendwo, ganz nahe, hörte er ein sanftes Atmen. Ben spürte, wie sein Gesicht sich zunehmend erhitzte, sei es nun von dem Feuer im Kamin oder von seiner inneren Erregung. Er wurde langsam müde und dachte an die Briefe, die John Weatherby ihm geschrieben hatte.

Den ersten hatte er vor zehn Wochen erhalten. Darin hatte ihn Weatherby nur kurz von einer» bemerkenswerten Entdeckung «unterrichtet.

Ben erinnerte sich, wie er damals geglaubt hatte, daß Weatherby offenbar eine Synagoge aus dem zweiten Jahrhundert gefunden hatte. Doch dann war dieser Anruf aus Jerusalem gekommen, bei dem John Weatherbys Stimme klang, als hätte er sich einen Eimer über den Kopf gestülpt. Er sprach von einem Versteck mit Schriftrollen, auf das er gestoßen sei, und kündigte an, daß er Ben mit ihrer Übersetzung und zeitlichen Zuordnung betrauen wolle. Das war vor zwei Monaten gewesen.

Die nächste Mitteilung war vier Wochen später in Form eines langen Briefes gekommen. Ein» Ausgrabungsbericht «in zeitlich genauer Abfolge von ihrem Beginn bis zum Fund der Schriftrollen; eine ausführliche Schilderung der Ausgrabungsstätte, insbesondere von Niveau VI; eine Liste von Gegenständen, die man neben den Tonkrügen gefunden hatte — Haushaltsgegenstände, Münzen, Tonscherben — und dann noch eine Beschreibung der Tonkrüge und der Schriftrollen selbst.

Als nächstes war ihm ein dreiseitiger Bericht über den Befund des Instituts für Nuklearforschung an der Universität Chicago zugegangen, die Ergebnisse der Radiokarbontests und eine Festsetzung des Alters der Münzen auf siebzig nach Christus. Doch letztendlich waren die Wissenschaftler lediglich imstande gewesen, auf das breite Spektrum von dreihundert Jahren hinzuweisen, und hatten es auch nicht näher eingrenzen können.

Aus diesem Grund waren die Ablichtungen der Rollen an Ben Messer geschickt worden. Um genauer zu bestimmen, in welchem Jahr sie geschrieben worden waren und was sie aussagten.»Ben?«

«Hm?«Er öffnete langsam die Augen.

«Schläfst du ein?«Angies Stimme klang sanft und einschmeichelnd.

«Ich denke nur nach.«

«Worüber?«

«Oh. «Ben seufzte. Er spürte ein plötzliches Hochgefühl.»Mir ist da gerade etwas eingefallen. Etwas, woran ich bisher noch gar nicht gedacht hatte.«

«Was ist es?«

«Daß Davids Vater denselben Namen trug wie mein Vater.«

«Woher willst du das wissen?«

«Das ist in seinem Namen, David Ben Jona, enthalten. >Ben< bedeutet in Aramäisch >Sohn des<. Also hieß sein Vater Jona. Und zufälligerweise war Jona auch der Name meines Vaters.«

Allmählich spürte Benjamin Messer die Wirkung des Weines. Aus irgendeinem Grund schienen die Rollen plötzlich noch wichtiger als vorher. Dabei hatte er doch erst damit begonnen, sie zu lesen.»Meinst du, daß es noch mehr davon gibt?«

«Das hoffe ich. Ich bete zu Gott, daß es so ist. «Angie sah ihn von der Seite an.»Das wäre mir völlig neu, daß du wüßtest, wie man betet, Ben.«

«Schon gut, das reicht. «Sie hatte ihn oft damit aufgezogen, daß er der frömmste Atheist sei, den sie kenne. Er, Benjamin Messer, der Sohn eines Rabbiners.

Sie schmiegten sich im Halbdunkel des Kaminfeuers aneinander. Angie war emotional vielleicht etwas zurückhaltend, doch ihre sexuellen Wünsche konnte sie durchaus ausdrücken.

«Vergiß die Vergangenheit«, hauchte sie Ben ins Ohr,»komm zurück in die Gegenwart. Komm zurück zu mir.«

Sie machten sich nicht die Mühe, ins Schlafzimmer zu gehen. Der zottelige kleine Teppich vor dem Kamin war bequem genug. Und für eine Weile ließ Angie Ben das Rätsel eines zweitausend Jahre alten Alphabets vergessen.

Später, als sie sich vor dem glimmenden Kaminfeuer anzogen, spürte Ben, wie er rasch wieder nüchtern wurde. Der alexandrinische Kodex, der wohl fälschlich dem Evangelisten Markus zugeschrieben wurde, wartete darauf, übersetzt zu werden. Und dann war da natürlich noch der letzte Teil von Weatherbys Schriftrolle, der gelesen werden mußte. Und morgen gab er Unterricht.»Bleib heute nacht hier«, drängte Angie sanft.»Tut mir leid, Liebes, aber weder Regen noch Graupel, noch ein listiges Frauenzimmer sollen den Handschriftenkundler von seinen anstehenden Übersetzungen abhalten. Das ist Herodot.«

«Das ist albern.«

«Ach wirklich? War er Grieche oder Römer, dieser Marcus Tullius Albern?«

Angie schnappte sich seinen Pullover und warf ihn in Bens Richtung.»Benjamin Messer, mach, daß du rauskommst!«Er lachte und streckte ihr die Zunge heraus. Angies kastanienbraunes Haar fiel ihr ins Gesicht und verlieh ihr das Aussehen eines kleinen Mädchens, während ihre Augen ihn verführerisch anblitzten. Es machte Spaß, mit ihr zusammenzusein. Zwar wußte sie nichts über alte Geschichte, aber es war immer unterhaltsam mit ihr. Und dafür liebte er sie.

«Ciao, Baby, wie sie im Fernsehen sagen. «Er ging fort und sprang, zwei Stufen auf einmal nehmend, die Treppe hinunter. Seine unbeschwerte Stimmung verflüchtigte sich jedoch bald in der frostigen Luft, als er den Wilshire Boulevard hinunterfuhr. Ein Radiosender spielte ein Lied von Cat Stevens oder Neil Young. Er konnte nicht genau sagen, von wem.

Ben gehörte dem Schlag unzeitgemäßer Menschen an, die sagen konnten, ihre Lieblingssängerin sei Olivia Elton John, und damit ungestraft davonkamen.

Doch er achtete nicht wirklich auf die Musik, weil das dringende Problem der Schriftrollen ihn wieder zu plagen begann. Wann waren sie denn nun wirklich geschrieben worden? Zweites oder drittes Jahrhundert wäre nicht annähernd so aufregend wie erstes Jahrhundert. Und ebensowenig hätte das späte erste Jahrhundert eine so sensationelle Wirkung wie das frühe erste Jahrhundert. Gedankenverloren parkte Ben sein Auto in der Tiefgarage seines Apartmenthauses und lief die Treppe zu seiner Wohnung hinauf. Was, wenn.? Was, wenn sie tatsächlich im frühen ersten Jahrhundert geschrieben worden wären? Sie könnten sogar irgendeine Erwähnung, einen Anhaltspunkt oder die Spur einer Zeugenaussage enthalten, durch die die Existenz eines Mannes, den man gemeinhin Jesus Christus nannte, entweder bewiesen oder widerlegt würde! David Ben Jona, dachte Ben, als er mit seinem Wohnungsschlüssel hantierte, zu welcher Zeit hast du gelebt und was hast du mir so Wichtiges zu sagen?

Als er in seiner Wohnung war, machte sich Ben als erstes eine Tasse starken, schwarzen Kaffee, öffnete eine Büchse Katzenfutter für Poppäa und setzte sich dann wieder an seinen Schreibtisch. Der Schein seiner Leselampe erzeugte einen kleinen Lichtkreis, der sich gegen das Dunkel ringsumher abhob. Die übrige Wohnung wirkte wie eine grenzenlose, schwarze Höhle. Nur hin und wieder wurde der Lichtkreis von der neugierigen Poppäa durchbrochen, die über den Schreibtisch lief. Wenn sie dort nichts Interessantes darauf fand, setzte sie ihre nächtlichen Streifzüge durch die anderen Zimmer fort.