Die Jahreszeit war noch immer günstig, und so brachen wir in Richtung Rom auf. Auf der ganzen Fahrt wurden wir von leichten Südwinden begleitet, und während der Kapitän seinen kapitolinischen Gottheiten für ihre Hilfe dankte und Salmonides seinen griechischen Göttern huldigte, wußte ich allein, daß nur das Werk des Gottes Abrahams die Reise so angenehm machte. Meinen ersten flüchtigen Eindruck von Italien bekam ich in Rhegium, das wir anliefen, um Passagiere an Land zu setzen und andere aufzunehmen. Und von dort aus segelten wir an der Küste entlang nach Ostia, dem Hafen Roms.

Dort angekommen, mieteten wir uns Esel und ritten einen Tag, bis wir am Vorabend eines Festtages, der unter dem Namen Saturnalien bekannt ist, die Stadt erreichten. Wie es sich so ergab, sollte dann auch der Geburtstag des Kaisers gefeiert werden. Ich möchte, mein Sohn, in diesen kurzen Schriftrollen nicht auf die haarsträubenden Szenen eingehen, die sich meinem Auge darboten, als ich mit Salmonides die Stadt betrat. Mir bleibt nur noch wenig Zeit, und jede Stunde, die mein Schreibrohr über diesen Papyrus gleitet, bringt mich meinem Tode näher. Ich will mich deshalb nicht länger mit dem zügellosen Wesen Roms oder dem schockierenden Benehmen des Pöbels in dieser Stadt befassen. Laß mich vielmehr an meiner eigenen Geschichte festhalten, und es genügt wohl, wenn ich dir sage, daß Rom ein wahrhaftiges Babylon ist. Salmonides und ich nahmen getrennte Zimmer in einem angesehenen Gasthof, und während ich ihn ausschickte, um sich als mein Bevollmächtigter Einblick in meine Beteiligungen in Rom zu verschaffen, hatte ich selbst nur ein Vorhaben im Sinn: Simon zu besuchen.

Wie du weißt, mein Sohn, hatte Simon Jerusalem mehrere Jahre zuvor verlassen. Doch was du nicht weißt und was du auch nicht verstehen wirst, bis du ein erwachsener Mann bist, ist, warum Simon Jerusalem verließ. Du erinnerst dich sicher daran, was ich dir über die Meinungsverschiedenheiten zwischen ihm und Jakobus und über ihren Kampf um die oberste Führung der Armen berichtete. Je größer die Zahl unserer Mitglieder wurde und je weiter die Zeit voranschritt, ohne daß der Messias zurückkehrte, desto heftiger stellte Jakobus Simons Führerschaft in Frage. Die Ursache dafür lag darin, daß Jakobus der Bruder des Meisters war. Und so geschah es, daß Simon, des Meisters bester Freund, schließlich unterlag und mit seinem Weib aus Jerusalem fortzog, um in anderen Städten von der Rückkunft des Messias zu predigen. Warum er sich dabei ausgerechnet nach Rom wandte, vermag ich nicht zu sagen. Es wäre allenfalls denkbar, daß ihn eine wachsende Messianische Gemeinde dort zu diesem Schritt bewog und daß er dieser beistehen wollte.

Als ich mich der Gemeinschaft der Armen anschloß, herrschte, wie ich dir schon berichtete, eine große Bestürzung unter den Zwölfen über einen Mann namens Saul von Tarsus. Dieser behauptete, der Messias sei ihm auf der Straße nach Damaskus erschienen und habe ihm befohlen, Heiden zum Neuen Bund zu bekehren. Nachdem er bereits eine große Gemeinschaft der Armen in Antiochia ins Leben gerufen hatte, begab sich dieser Saul von Tarsus wegen eines Verbrechens, das man ihm zur Last legte, nach Rom, um seinen Fall Cäsar vorzutragen. Saul war einer der Verantwortlichen für die Bekehrung vieler in Rom lebender Juden zu unserem Glauben.

Und deshalb war es für mich, als ich an diesem fünfzehnten Tag des römischen Monats Dezember in Rom ankam, nicht schwer, die Häuser von Menschen ausfindig zu machen, die wie ich selbst auf die Rückkehr des Messias warteten.

Sie empfingen mich, gaben mir den Friedenskuß und nannten mich Bruder. Es war das erste Mal, daß ich das Wort Christ hörte, und ich war darüber im höchsten Maß verwirrt. Auch bezeichneten meine jüdischen Glaubensgenossen in Rom den Messias mit dem Namen Jesus, welches der lateinische Ausdruck für seinen Namen ist. Das stimmte mich ebenfalls nachdenklich. Als man mich schließlich zu Simon führte, gab es ein unvergeßliches Wiedersehen, bei dem wir uns in die Arme schlossen und unseren Freudentränen freien Lauf ließen. Ich drückte den alten Mann an mich, als ob ich ihn nie mehr loslassen wollte, und er ließ einen solchen Wortschwall in Aramäisch auf mich niedergehen, daß ich spürte, wie gut es seiner Zunge tat, wieder die Muttersprache zu sprechen. Dann setzten wir uns zu einer Mahlzeit aus herbem Käse, Brot und Oliven zusammen und schwelgten in Erinnerungen an vergangene Zeiten.

Er fragte mich:»Hat Jakobus seine Sache gut gemacht?«Und ich antwortete:»Ja, weil er einflußreich ist. Tausende haben sich unserer Gemeinschaft angeschlossen, und alle warten sie auf die Rückkunft des Meisters. Während die Hetzreden gegen Rom ständig zunehmen, sind wir uns alle einig, daß wir in der Endzeit leben und daß dies die Zeit ist, von der der Meister sprach. Er wird morgen vor den Toren stehen.«

Dann sah ich mich unter den Anwesenden in der Versammlung um und bemerkte die Halsbänder, die sie trugen. Und da wußte ich, daß sie Heiden waren. So sagte ich:»Wenn der Meister zurückkehrt, so wird in Zion das Königreich Gottes errichtet, und das auserwählte Volk wird die Welt regieren. «Da legte Simon mir eine Hand auf die Schulter und sprach:»Ich weiß, was in deinem Herzen vorgeht, mein Sohn, und würde gerne deine Bestürzung zerstreuen. Als unser Meister vor dreißig Jahren diese Erde verließ und wiedergeboren wurde, da war ich ein junger Mann und konnte seine Rückkehr kaum erwarten. So erzählte ich jedermann, daß es schon morgen sein würde. Doch jetzt bin ich sehr alt und ein wenig vorausschauender. Ich erkenne jetzt, daß er nicht die

Absicht hatte, zurückzukehren, bevor nicht mehr Gläubige für seinen Empfang vorbereitet wären.«

Ich entgegnete:»Ganz Jerusalem erwartet ihn, Simon. «Und er antwortete:»Sie sind alle nur Juden. Wir können auch die Heiden nicht im Stich lassen.«

Das traf mich wie ein Schlag auf den Kopf, und ich war sprachlos. Simon hatte sich in den Jahren unserer Trennung dermaßen verändert, daß er nicht mehr derselbe Mensch war. Nach einer langen Pause vermochte ich endlich, meine Gedanken in Worte zu fassen:»Wollt Ihr damit sagen, daß Ihr den Römern vom Messias predigt?«

«Ich predige ihnen vom Messias, und sie glauben daran«, gab er zur Antwort.

«Aber sie sind doch nicht beschnitten!«wandte ich ein.»Die Beschneidung gehört dem Alten Bund an«, erklärte Simon.»Wir sind aber Brüder im Neuen Bund.«

«Und halten sie das Gesetz der Thora heilig?«

«Nein.«

«Gehen sie am Versöhnungstag in die Synagoge oder fasten sie?«

«Nein.«

«Verzichten sie auf den Genuß von Schweinefleisch?«

«Nein.«

Ich war entsetzt. Vielleicht wurde meine Erschütterung noch dadurch vergrößert, daß ich all dies von Simon hören mußte, der einst der frömmste Jude überhaupt gewesen war. Ich fragte ihn:»Was sind das für Symbole, die sie um ihre Hälse tragen?«

Er antwortete:»Es ist das Zeichen des Fisches, das Symbol unserer Bruderschaft. Es kam ursprünglich aus Antiochia, wo man Griechisch spricht.«

«Und Ihr erlaubt ihnen, Götzenbilder zu tragen?«

«Es bleibt keine Zeit, den Heiden unsere Gesetze aufzuzwingen, denn der Messias kann jeden Augenblick wiederkehren. Vielleicht nähert er sich gerade jetzt, während wir uns unterhalten, den Toren der Stadt. Diese guten Menschen hier glauben an ihn; sie sind errettet worden. Hätte ich darauf bestanden, daß sie zuerst Juden würden, so wären sie vielleicht nicht rechtzeitig vorbereitet und blieben auf der Strecke, wenn das Königreich Gottes naht.«

Aber ich ließ mich nicht beschwichtigen und entgegnete ihm:»Simon, in Judäa bereiten sich unzählige Juden darauf vor, gegen die Römer zu kämpfen. Männer, die eure Brüder sind, rüsten sich für den Kampf, der unausweichlich ist. Und was macht Ihr? Ihr seid hier und bekehrt Römer. Was ist geschehen? Es ist, als ob Ihr und ich auf entgegengesetzten Seiten stünden.«

«Aber das tun wir doch nicht«, hielt er dagegen,»denn wir stehen beide auf der Seite Gottes.«

Ich konnte seine Meinung nicht teilen. In Jerusalem, wo Simon einst gepredigt hatte, warteten Juden darauf, daß ihr König zurückkehren würde. In Rom warteten Heiden auf jemanden, den sie gar nicht erkennen würden.»Warum nennen sie euch Petrus?«fragte ich.»Weil der Meister einst sagte, ich sei ein so solider und zuverlässiger Freund, daß ich für ihn wie ein Fels sei.«

«Und sie verbrennen Weihrauch, was ein heidnischer Brauch ist.«

«Es ist, weil diese Menschen einst Heiden waren, aber jetzt verehren sie Gott. Dies ist ihre Weise, ihm zu huldigen.«

«Sie verehren nicht Gott«, sagte ich bitter.»Sie haben einfach die Namen ihrer eigenen Götter gegen andere vertauscht. Ein jeder von ihnen wird weitermachen wie zuvor, denn sie haben sich kaum verändert. Und in ihren Herzen werden sie stets Heiden sein. Ihr nennt ja sogar den Tag des Herrn Tag der

Sonne, weil die Anhänger des Sonnengottes Mithras ihn so bezeichnen.«

«Es sind viele von ihnen unter uns«, erklärte er,»und wir haben auch Anhänger von Isis, von Baal und von Jupiter zu unserem Glauben bekehrt.«

Doch ich widersprach:»Eine Bekehrung hat nicht stattgefunden, Simon, denn alles, was sie getan haben, besteht darin, daß sie alte Wörter gegen neue eintauschten. Letzten Endes ist dies alles heidnisch.«

Wir gingen traurig auseinander, und diesmal sollte es ein Abschied für immer sein. Erst später erfuhr ich, daß Saul von Tarsus nach dem Vorbild von Petrus seinen Namen in Paulus geändert hatte, um den Römern zu gefallen. Weiterhin fand ich heraus, daß nur wenige Juden in Rom vom Messias gehört hatten und daß er größtenteils von unbeschnittenen Heiden erwartet wurde. Ich weinte heftig und bejammerte den Tag, an dem ich Judäa verlassen hatte. Als ich in dem Gasthofzimmer saß, sehnte ich mich nach meinen Olivenbäumen zurück und wünschte mir, den Staub Israels unter meinen Füßen zu spüren. Ich sah das schöne Gesicht Saras vor mir, hörte die Stimme meines geliebten Saul und fühlte die Arme des kleinen Jonathan an meinem Hals. Wie sehr wünschte ich nun, ich hätte auf sie gehört, denn außer Kummer und Schmerz hatte mir meine Reise nichts eingebracht.

Ich drang darauf, daß wir bereits am nächsten Tag von Ostia wieder abreisen sollten. Salmonides versuchte, mich zu überreden, noch ein wenig in Rom zu verweilen, und versicherte mir beharrlich, daß ich über die Stadt ein zu schnelles und zu hartes Urteil gefällt habe. Indes war ich gegen seine Worte taub. In Rom war das Streben nach Sinneslust und Genuß weit verbreitet, und es herrschte Gleichgültigkeit gegenüber Gott. Ich fühlte mich unrein. So sagte ich ihm:»Meine Heimat ist Israel, denn ich bin ein Jude. Dort ist Zion und das Land, das Gott uns verheißen hat. Wie kann ein Jude die Gesetze der Thora befolgen, wenn er von diesen sündigen Menschen umgeben ist?«

Salmonides zuckte nur die Schultern und schüttelte den Kopf. In den fast elf Jahren unserer Freundschaft hatte er mich bis jetzt noch nicht verstanden.

Es ergab sich, daß ich am Abend vor Einbruch der Dunkelheit mit Salmonides einen kleinen Spaziergang machte, denn ich war rastlos. Auf der Straße begegneten wir großen Menschenmengen, Männern und Frauen unterschiedlichster Herkunft, die sich in mir unverständlichen Sprachen unterhielten. Prostituierte riefen mich aus Toreinfahrten an. Händler schoben Karren, vollbeladen mit Haxen und anderen Teilen vom Schwein. Überall standen Statuen, und von Säulen und Mauern blickten Götzenbilder herab. Es war eine übervölkerte, wimmelnde Stadt, viel schlimmer als Jerusalem selbst während der Passah-Woche.

An einer Stelle spürten wir plötzlich, wie wir von einer Woge erfaßt wurden, als die Menschenmenge sich zusammendrängte und nach vorne bewegte. Salmonides und ich versuchten uns freizukämpfen, jedoch vergebens, so stark war der Sog. Ein lautes Geschrei erhob sich aus dem Volk wie aus einer Kehle. Und in diesem Moment teilte sich der Mob wie die Wogen des Roten Meeres, als sie von Moses zerteilt wurden, und mein Begleiter und ich fanden uns in der ersten Reihe wieder. Vor uns war eine Schneise entstanden, und auf der gegenüberliegenden Seite des Weges stand die andere Hälfte des Pöbelhaufens.

Und dies ist, was wir sahen: Scharen römischer Soldaten in leuchtendroten Umhängen und glänzender Rüstung zogen an uns vorbei und schwenkten die Fahnen von Kaiser Nero. Hinter ihnen kam ein Fanfarenzug. Männer in Reih und Glied bliesen auf Trompeten gen Himmel und machten einen solchen

Lärm, daß ich mir die Ohren zuhalten mußte. Auf den Fanfarenzug folgte ein Regiment der Prätorianergarde, der persönlichen Leibwache des Kaisers, die hocherhobenen Hauptes und in anmaßender Eitelkeit an der Menge vorbeistolzierte. Und gleich hinter ihnen fuhr der Kaiser selbst in einem goldenen Triumphwagen, welcher von vier prachtvollen Pferden gezogen wurde. Der sechsundzwanzigjährige Imperator war untersetzt, hatte fast keinen Hals und trug auf seinem Kopf einen dichten, kurzgeschnittenen Schopf roter Locken zur Schau. Er lächelte, als er vorbeifuhr, und winkte uns mit seiner dicken Hand zu. Es faszinierte mich, diesen jungen Mann, der die Welt regierte, leibhaftig und aus nächster Nähe vor mir zu sehen. Diesen jungen Mann, der fast so alt war wie ich selbst. Nachdem Nero vorübergefahren war, bot sich uns ein Anblick, den ich lange nicht vergessen werde. Als nächstes folgte die Frau des Kaisers, Poppäa Sabina, die ihren eigenen mit zwei Pferden bespannten Wagen lenkte.