Auch an diesem Abend sprang sie, während Ben die Fotografien vor sich ausbreitete, geräuschlos nach oben, stolzierte zwischen Büchern, Aschenbechern und leeren Gläsern umher und schnupperte flüchtig an einem der Fotoabzüge. Dann sprang sie hinunter auf den Fußboden.

Ben war inzwischen wieder völlig nüchtern und vertiefte sich in den dritten Papyrus-Abschnitt. Plötzlich erinnerte er sich an eine Szene, die sich vor sechs Monaten ereignet hatte: Er und Dr. Weatherby waren in dessen Strandhaus am Pazifik gesessen und diskutierten das geplante Projekt Dr. Weatherbys.

Der grauhaarige, robuste Weatherby, der stets so lebendig sprach, hatte Ben schon oft seine Theorie dargelegt, nach der irgendwo in der Nähe von Khirbet Migdal in Israel eine unter der Erde verborgene Synagoge aus dem zweiten Jahrhundert liege. In seinem Wohnzimmer hatte Weatherby ihm an diesem Abend vor sechs Monaten gesagt:»Wie du weißt, führt das offizielle Verzeichnis des israelischen Ministeriums für Altertümer über siebzehnhundertfünfzig historische Stätten innerhalb der Grenzen von vor 1967 auf. 1970 fanden auf Israels achttausend Quadratmeilen mindestens fünfundzwanzig großangelegte Grabungen statt. Und ich beabsichtige, mir ein Stück von diesem Kuchen abzuschneiden. Die Grabungsgenehmigung muß nun bald kommen. Und dann geht’s ab nach Migdal mit meinem Spaten und meinem Eimer, wie ein Kind, das zum Strand läuft. «Ben starrte lange auf das dritte Foto, auf den formlosen Schreibstil, der dem religiöser Texte so ganz und gar nicht ähnlich war, und er dachte bei sich: So hast du, David Ben Jona, dein kostbares Testament in der Erde von Khirbet Migdal vergraben, und John Weatherby kam daher und grub es aus.

Aber natürlich kanntest du den Ort damals nicht als Migdal. Zu deiner Zeit hieß die Stadt Magdala. Berühmt für ihren Fisch, ihren Zirkus und für eine Frau namens Maria. Maria Magdalena.

Kapitel Zwei

Das dritte Teilstück ließ sich nicht so leicht lesen wie die ersten beiden, denn hier und da waren die Ränder des Papyrus eingerissen, und ganze Sätze wurden mitten im Wort abgebrochen. An mehreren Stellen war die Tinte in die kleinen Zwischenräume der Papyrusfasern gelaufen und hatte die Schrift verwischt. Ein weiterer Grund war, daß dieser Ausschnitt bisher größtenteils aus einem langatmigen Gebet und einem Segensspruch bestand. David Ben Jona war dabei vom Aramäischen zum Hebräischen übergegangen und damit auch zu der gängigen Praxis, Vokale auszulassen. Ben arbeitete die ganze Nacht hindurch, brütete über winzigen Bedeutungsnuancen und versuchte, die unverständlichen Stellen mit Sinn zu füllen. Ben war ein wenig enttäuscht. Er war es zwar gewohnt, Gebete und religiöse Abhandlungen zu übersetzen — das war ja schließlich sein Beruf —, doch in diesem Fall hatte er gehofft, daß die Magdala-Schriftrollen sich inhaltlich von allen bisher gefundenen unterschieden. Und jetzt, da der Tagesanbruch nahte, fing Ben allmählich an zu glauben, daß der alte Jude seinem Sohn letzten Endes nichts anderes hinterlassen habe als das übliche hebräische Vermächtnis — heilige Worte.

Auch war Ben über sich selbst enttäuscht, weiter die Zeit der Entstehung von Davids Handschrift nicht genau festlegen konnte. Einige Anhaltspunkte waren offensichtlich: die fehlenden Ligaturen zwischen den Buchstaben (eine Entwicklung, die seit Mitte des ersten Jahrhunderts zu beobachten war), die bekannte rechtwinklige aramäische Handschrift, den hebräischen Buchstaben Alef, der so charakteristisch war, weil er wie ein umgekehrtes N aussah. All diese Hinweise waren vorhanden, reichten aber nicht aus, um sich endgültig auf einen bestimmten Zeitabschnitt festzulegen. Es gab noch mehr zu übersetzen; ein paar Zeilen waren noch übrig, aber Ben war zu müde, um sie in Angriff zu nehmen. Die Studenten seiner Zehn-Uhr-Vorlesung erwarteten sicher, daß er mit ihnen ihre Arbeiten durchsehen würde, und der Unterricht um zwei Uhr würde eine engagierte Diskussion zum Gegenstand haben. Für beides mußte er vorbereitet sein.

Mit einer Mischung aus Widerstreben und Erleichterung steckte er daher die Fotos in den Umschlag zurück und beschloß, sie bis zum Wochenende warten zu lassen. Bis dahin müßte er mit dem alexandrinischen Kodex fertig sein.

Benjamin Messer war Professor für Orientalistik an der Universität von Kalifornien in Los Angeles und gab drei Unterrichtsfächer: Alt- und Neuhebräisch, die Deutung von hebräischen Manuskripten und altorientalische Sprachen. Wenn er nicht gerade mit der Übersetzung von alten Papyri oder einer antiken Inschrift beschäftigt war, wies er jeden, der sich interessiert zeigte, in die Grundlagen seines Fachgebietes ein.

Nachdem er den Unterricht in der Frühe noch ganz gut bewältigt hatte, begann er während des Nachmittagsseminars allmählich die Auswirkungen seiner schlaflosen Nacht zu spüren. Es war sein Kurs in Neu- und Althebräisch, den sechzehn fortgeschrittene Studenten belegt hatten, die im Halbkreis um ihn herum saßen und an diesem Dienstagnachmittag nicht umhin konnten, eine gewisse Zerstreuung bei ihrem Professor festzustellen.

«Dr. Messer, sind Sie nicht der Ansicht, daß die Entwicklung der mündlichen Überlieferung sich stärker auf die

Sprachentwicklung auswirkte als die schriftliche?«Der Kursteilnehmer, von dem dieser Beitrag kam, blickte Ben hinter seinen dicken Brillengläsern fragend an. Er studierte Sprachwissenschaft als Hauptfach und war ein begeisterter Anhänger von Esperanto.

Ben schaute ihn an, als sähe er ihn zum ersten Mal. Die heutige Diskussion befaßte sich mit der Dynamik der Entwicklung der hebräischen Sprache. Dabei wurde erörtert, welche äußeren Faktoren über die Jahrhunderte hinweg zum Sprachwandel beigetragen hatten. Ben hatte der Frage keine rechte Aufmerksamkeit geschenkt. Er hatte sich mehrmals dabei ertappt, wie er in Gedanken abschweifte und an die Schriftrolle von Magdala dachte.

«Warum sollte das so sein, Glenn? Meinen Sie, die mündliche Überlieferung sei für die Juden bedeutender gewesen als die schriftliche?«

«Ich denke schon. Besonders während der Diaspora. Die mündliche Überlieferung erhielt sie am Leben, als ihre Schriftrollen unerreichbar waren.«

«Dem kann ich nicht zustimmen«, meldete sich eine andere Studentin zu Wort. Sie hieß Judy Golden, eine Studentin der vergleichenden Religionswissenschaft.»Wir leben noch immer in einer Diaspora, und es ist das geschriebene Wort, das uns über die Entfernung hinweg zusammenhält.«

«Eigentlich haben Sie beide recht. Keine dieser Überlieferungen, weder die mündliche noch die schriftliche, kann von der anderen getrennt behandelt werden. «Er warf einen Blick auf die Uhr. Der Unterricht schien sich heute nur so dahinzuschleppen.»Gut, nun befassen wir uns heute nachmittag ja eigentlich mit den Veränderungen, die im Laufe der Jahrhunderte im geschriebenen und gesprochenen Hebräisch auftraten, und mit den äußeren Faktoren, die diese Veränderungen bewirkten. Möchte sich jemand dazu äußern?

Wie steht es mit den Auswirkungen der Diaspora auf das geschriebene Hebräische? Judy?«

Sie bedachte ihn mit einem kurzen Lächeln.»Vor der Entstehung des Talmud mußten sich die Juden auf ihre hebräischen Schriftrollen und auf ihr Gedächtnis verlassen. Doch im Zeitalter des Hellenismus, als die Juden das Hebräische, ihre >Heilige Sprache< mehr und mehr verlernten, konnten sehr viele unter ihnen die Thora nicht mehr lesen. Zu dieser Zeit entstand die Septuaginta, die Fünf Bücher Mose, in griechischer Sprache, so daß dann alle über das Römische Reich verstreut lebenden Juden ihre Heiligen Bücher lesen konnten. Aber ich glaube nicht, daß die Septuaginta das

Hebräische damals bloß verändert haben sollte; vielmehr beseitigte sie es ganz und gar. «Benjamin Messer runzelte für einen Augenblick die Stirn. Judy hatte ein ausgezeichnetes Argument vorgetragen, das er nicht zu hören erwartet hatte. Während sie sprach, versuchte er sich zu erinnern, was er über sie wußte. Judy Golden, von der Universität Berkeley an die hiesige Universität übergewechselt, sechsundzwanzig Jahre alt, studierte im Hauptfach vergleichende Religionswissenschaft. Sie war eine ruhige junge Frau mit ausdrucksvollen braunen Augen und langem schwarzen Haar. Das Symbol des Zionismus, der Davidsstern, hing ihr an einer Kette um den Hals.»Sie haben vollkommen recht«, meinte Ben, nachdem sie geendet hatte.»Die Septuaginta schaffte in der Tat zwei entgegengesetzte Bedingungen. Einerseits vermittelte sie den Juden, die kein Hebräisch beherrschten, den Inhalt der Heiligen Bücher, doch andererseits entweihte sie das Wort Gottes durch seine Wiedergabe in einer heidnischem Sprache. Hier haben wir erneut ein gutes Beispiel dafür, wie untrennbar die hebräische Sprache mit der hebräischen Religion verbunden ist. Um das eine zu studieren, muß man sich auch mit dem anderen befassen.«

Ein weiterer verstohlener Blick auf die Uhr. Konnte er sich daran erinnern, daß eine Unterrichtsstunde sich jemals so in die Länge gezogen hatte?» Gehen wir nun weiter und kommen wir zum nächsten Punkt«, sagte er, während er ein neues Wort an die Tafel schrieb: Massora. Dann folgte ein Datum: Viertes Jahrhundert C. E.»Wahrscheinlich war der erste Massoret Dosa Ben Eleasar. «Und während der ganzen Vorlesung mußte er sich dazu zwingen, sich auf das zur Debatte stehende Thema zu konzentrieren. Durch seinen Schlafmangel sickerten immer wieder Gedanken an die magdalenischen Schriftrollen durch.

Er war erleichtert, als er die Vorlesung eine Stunde später wieder für ein paar Tage hinter sich hatte. Als Diskussionsthema für den kommenden Freitag standen die» Entwicklung des Mischna-Hebräischen und Beispiele für Unterschiede zwischen diesem und dem modernen Hebräisch «auf dem Unterrichtsplan. Er kündigte auch an, daß er in den nächsten paar Wochen seine gewöhnlichen Sprechstunden nicht abhalten würde, so daß besondere Terminvereinbarungen getroffen werden müßten.

Die kühle Abendluft, die ihm außerhalb des Gebäudes entgegenströmte, erfrischte ihn nur wenig. Es ging auf fünf Uhr nachmittags zu, und die Sonne war fast untergegangen. Um diese Zeit, zwischen den Tages- und Abendveranstaltungen, war der Campus, das ausgedehnte Unigelände, ruhig und fast menschenleer. Die wenigen Gedanken, die ihm durch den Kopf gingen, als er die Außentreppe des Gebäudes hinunterlief — einen Bericht über seine Handschriften an Randall schicken, Angie vor sechs Uhr anrufen, auf dem Heimweg an der Reinigung vorbeifahren —, wurden von einer Stimme an seiner Seite unterbrochen:»Dr. Messer? Entschuldigen Sie. «Er hielt auf der letzten Treppenstufe inne und schaute hin. Judy Golden war fast dreißig Zentimeter kleiner als er, und durch ihre flachen Sandalen wurde dieser Unterschied noch betont. Sie war ein zierliches, hübsches Mädchen. Ihr volles schwarzes Haar wehte im Abendwind.»Entschuldigen Sie, sind Sie in Eile?«

«Nein, überhaupt nicht. «In Wirklichkeit hatte er es natürlich eilig, aber er war auch neugierig, was sie von ihm wollte. Seit Beginn des Semesters hatte sich das stille Mädchen nur selten zu Wort gemeldet.

«Ich wollte Ihnen nur sagen, daß mir Ihr Gebrauch von >Common Era< anstelle von >Anno Domini< gefällt.«

«Wie bitte?«

«Viertes Jahrhundert C. E. Das haben Sie doch an die Tafel geschrieben.«

«Oh, ja, ja.«

«Ich war überrascht, es zu sehen. Besonders, weil es von Ihnen kam. Nun, ich meine. Ich wollte Sie nur wissen lassen, was ich darüber denke. Dieser Linguistik-Hauptfächler Glenn Harris fragte mich auf dem Weg aus dem Seminarraum, was es bedeute. «Ben runzelte die Stirn.»Was meinen Sie damit, besonders, weil es von mir kam?«

Judy errötete und wich ein paar Schritte zurück.»Es war blöd von mir, das zu sagen. Es tut mir leid, es rutschte mir nur so heraus.«

«Oh, schon in Ordnung. «Er setzte ein Lächeln auf.»Aber was meinten Sie damit?«

Sie wurde noch röter.»Nun, ich meine, jemand erzählte mir, Sie seien Deutscher. Sie seien in Deutschland geboren, sagten sie mir.«

«Oh, das. Ja, das stimmt. aber. «Ben ging seinen Weg in der eingeschlagenen Richtung weiter, und Judy versuchte an seiner Seite mit ihm Schritt zu halten.

«Der Gebrauch von C. E. bedeutet nicht zugleich eine theologische Meinung. Es ist, wie wenn ich sage >Ms<. Wenn ich Sie Ms. Golden nennen würde, müßte das nicht unbedingt bedeuten, daß ich ein Anhänger der Frauenemanzipation bin.«

«Trotzdem sieht man C. E. nicht oft. «Sie mußte doppelt so viele Schritte machen, um mit seinem Tempo mitzuhalten.»Ja, das kann schon sein. «Ben hatte niemals wirklich darüber nachgedacht. Unter jüdischen Historikern und Geisteswissenschaftlern hatte man den Gebrauch von >A. D.< zur Bezeichnung der neuen Zeitrechnung fallenlassen, weil es ein Einverständnis mit der Bedeutung dieses Begriffs mit einschloß. Statt dessen benutzte man jetzt >C. E.<, Common Era, eine objektivere Bezeichnung, die aber eigentlich dasselbe aussagte.