Es war kurz nach Mitternacht, und sie starrte mehrere Minuten auf das erleuchtete Zifferblatt, bevor ihr eigentlich klar wurde, was sie sah.

«Mein Gott«, murmelte sie und beugte ihre steifen Glieder,»wir haben hier acht Stunden lang gesessen!«Dann blickte sie auf Ben. Er war noch immer über das letzte Foto gebeugt. Den Bleistift hielt er über dem Heft, und seine Augen waren auf die letzte Zeile der aramäischen Schrift geheftet. Ein leichter Schweiß war auf seiner Stirn ausgebrochen und rieselte ihm nun an den Schläfen hinunter auf den Hals. Sein Hemd war naßgeschwitzt, und seine Haut zeigte eine ungewöhnliche Blässe.

«Ben«, sagte Judy ruhig,»Ben, es ist vorbei. Das war das Ende der Rolle.«

Als er nicht antwortete, nahm sie ihm sachte den Bleistift aus den Fingern und ergriff seine Hand.»Ben? Kannst du mich hören?«Schließlich wandte er den Kopf und sah ihr ins Gesicht. Seine braunen Augen wirkten jetzt noch dunkler, da er gänzlich erweiterte Pupillen hatte. Sein Blick war völlig leer und teilnahmslos. Winzige Tränen spiegelten sich darin.

«Ben, du bist erschöpft. Wir haben acht Stunden hier am Schreibtisch verbracht, und sieh dich nur an. Du mußt dich hinlegen. «Ben löste sich langsam aus seiner Betäubung, schluckte heftig und fuhr sich mit einer trockenen Zunge über die Lippen.»Ich hatte vergessen«, begann er heiser,»ich hatte vergessen, wie es damals war. Ich hatte vergessen, wie schlimm diese Tage waren.«

«Ja, das waren sie. Komm mit, Ben.«

Obwohl er imstande war, aufzustehen, mußte er sich doch auf Judy stützen. Sie legte einen Arm um seine Hüfte und schleppte sich mühsam mit ihm ins Wohnzimmer, während sie die feuchtkalte Klebrigkeit seines Körpers spürte. Dort brachte sie ihn durch gutes Zureden dazu, sich auf der Couch auszustrecken und den Kopf auf ein Kissen zu legen. Dann setzte sie sich neben ihn, sah ihm ins Gesicht und wischte ihm behutsam den Schweiß von der Stirn.»Es bleibt nur noch eine Rolle übrig«, flüsterte sie,»nur noch eine einzige. Und dann ist alles vorbei.«

Ben schloß die Augen, und die Tränen flossen an seinem Gesicht herunter. Ein leiser, wimmernder Ton entwich seiner Kehle und schwoll allmählich zu einem rauhen Schluchzen an.»Wir warteten auf den Messias«, jammerte er.»Wir warteten und warteten. Er hatte gesagt, daß er wiederkäme. Er hatte versprochen.«

«Ben.«

«Ich bin nicht Ben!«schrie er plötzlich und stieß ihre Hand weg.»Ich bin David Ben Jona. Und ich bin ein Jude. Der Messias wird kommen, und Zion wird wiederhergestellt, wie es in den alten Büchern prophezeit wurde.«

Judy rührte sich nicht. Sie behielt ihn fortwährend im Auge, entschlossen, sich keine Angst einjagen zu lassen. Einen Moment später fuhr Ben sich mit beiden Händen übers Gesicht und murmelte:»Es tut mir leid. Verzeihe mir. Es war die Überanstrengung, die Anspannung.«

«Ich weiß«, erwiderte sie sanft.

Ben wischte sich die Tränen weg und wandte Judy dann seine volle Aufmerksamkeit zu. Er bemerkte die Sorge in ihren Augen, die liebevolle Art, mit der sie sich um ihn kümmerte.»Wir waren eine Weile dort, nicht wahr?«meinte er.»Wir waren wieder im alten Jerusalem. «Sie nickte.

«Und du warst die ganze Zeit über bei mir. «Er streckte eine zitternde Hand aus und strich über ihr langes Haar.»Ich habe dich jede Minute an meiner Seite gespürt, und es machte mich froh. Du fragst dich wahrscheinlich, was das Ganze bedeuten soll.«

«Ja.«

«Und ich ebenfalls, aber der Sinn und Zweck von dem allen ist auch mir nicht enthüllt worden. Es sollte eben sein, und so sollten wir uns damit abfinden. Bald wird meine letzte Rolle eintreffen, und diese ist wirklich die letzte, und dann wird uns Gottes Absicht offenbart. «Judy richtete sich auf und schaute weg. Sie ließ ihre Augen durch das dunkle Zimmer schweifen und versuchte angestrengt, etwas zu sehen, was nicht da war. Sie rief sich ins Gedächtnis zurück, wie es gewesen war, eine Weile in Jerusalem zu verbringen, an der Seite eines Mannes zu sein, den sie liebte, sich vollkommen einem Glauben zu verschreiben, der, wie sie wußte, den Kern aller anderen Glaubensrichtungen bildete.

In diesem Augenblick gelangte Judy zu einer überraschenden Erkenntnis. Als Ben über ihr Haar strich und mit besänftigender Stimme auf sie einredete, wurde ihr klar, daß sie, während sie in der Nacht zuvor verzweifelt nach einer Möglichkeit gesucht hatte, Ben zu sich selbst zurückzubringen, heute nacht gar nicht mehr sicher war, daß sie dies wollte.

Wie sie ihn so ansah, in Bens Gesicht schaute, dessen Augen jedoch einem anderen Mann gehörten, wußte sie, daß sie, wenngleich sie ihn letzte Nacht zu sehr geliebt hatte, um ihn zu David werden zu lassen, ihn heute nacht zu sehr liebte, um ihn zurückzuverwandeln.»Du bist glücklich, nicht wahr?«flüsterte sie, obwohl sie die Antwort schon kannte.»Ja, das bin ich.«

Wie kann ich dann nur wünschen, daß du wieder unter Bens Qualen zu leiden hast? fragte sie sich verzweifelt. Ist es nicht weniger grausam, dich in diesem Zustand zu belassen?» Judith, du hast ja Tränen in den Augen.«

«Nein, nein, das kommt nur von dem vielen Lesen. Acht Stunden. «Sie erhob sich jäh und wandte sich von der Couch ab. Diesen Mann zu lieben und bei ihm zu bleiben bedeutete nur eines: daß auch sie die Wirklichkeit aufgeben und den Wahnsinn mit ihm teilen mußte.

«Ich brauche einen Kaffee«, verkündete Judy mit fester Stimme und stürmte in Richtung Küche davon.

Dort in der Dunkelheit, ihr Gesicht gegen die Wand gepreßt, sah sie den Entscheidungen ins Auge, die sie treffen mußte. Wenn sie bei Ben bleiben und seinen Wahnsinn ertragen wollte, führte kein Weg daran vorbei, daß sie selbst ein Teil dieses Wahnsinns würde.

Und als sie in die Dunkelheit starrte, kamen die Phantasiebilder zurück: das kurze Aufblitzen von Palmen, staubigen Straßen und engen Gassen, der Lärm von Straßenhändlern auf dem Marktplatz, der Duft von Jerusalem im Sommer, der Geschmack von gewässertem Wein.

Es wäre so leicht.

Judy riß sich selbst aus den Träumereien und schaltete das Licht ein. Daß ihr eigener gesunder Menschenverstand und ihr Bezug zur Wirklichkeit rasch dahinschwanden, darüber bestand kein Zweifel mehr. Alles, was ihr blieb, war die Entscheidung, es wieder geschehen zu lassen oder jetzt wegzurennen und nie mehr zurückzukommen. Judy hatte keine Zeit mehr, das eine gegen das andere abzuwägen, denn plötzlich wurde sie durch Geräusche, die aus einem anderen Zimmer kamen, aufgeschreckt. Sie trat aus der Küche und sah sich um.

Im Schlafzimmer brannte Licht. Sie näherte sich vorsichtig und blieb im Türrahmen stehen. Ben war dabei, die Schubladen der Kommode zu durchwühlen.»Was suchst du?«fragte sie.»Den Reisepaß.«

«Den Paß?«

«Ben hatte einen Reisepaß, aber ich erinnere mich nicht, wo ich ihn hingelegt habe.«

Judy stellte sich neben ihn und musterte ihn stirnrunzelnd.»Wozu willst du deinen Reisepaß?«

Ohne aufzusehen, brummte er:»Um nach Israel zu kommen. «Sie riß die Augen auf.»Israel!«

«Er muß irgendwo hier drinnen sein. «Und er begann, Haufen von Kleidungsstücken herauszuheben und auf den Fußboden zu werfen.

«Ben. «Sie legte eine Hand auf seinen Arm.»Ben, warum willst du nach Israel gehen?«

Er gab keine Antwort. Seine Bewegungen wurden hastiger, hektischer.»Ich weiß, daß er da drinnen ist!«

«Ben, antworte mir!«schrie sie.

Endlich richtete er sich auf, und der vor Wut rasende Blick, den Judy in seinen Augen wahrnahm, jagte ihr panischen Schrecken ein.»Um nach Israel zu gehen!«brüllte er zurück.»Es wird dort einen Aufstand geben, und ich muß bei ihnen sein. Ich kann nicht hier in diesem fremden Land bleiben, während meine Brüder vom Feind erschlagen werden.«

«Erschlagen! O Ben, hör mich an!«

Er fing wieder an, die Schublade zu durchwühlen. Judy packte ihn am Arm und rief:»Aber du kannst nicht nach Israel gehen! Dort wartet nichts auf dich. Dieser Krieg fand doch schon vor zweitausend Jahren statt. Er ist vorbei, Ben. Er ist vorbei!«

Zweimal versuchte er, ihre Hand abzuschütteln, doch das dritte Mal ergriff er sie und stieß sie von sich.»Steh mir nicht im Weg, Frau!«

«Aber Ben.«

Judy versuchte abermals, ihn festzuhalten, diesmal mit beiden Händen. Doch als sie das tat, drehte sich Ben jäh zu ihr um, packte sie an den Schultern und schleuderte sie heftig von sich. Judy taumelte zurück, blieb mit dem Fuß am Bett hängen und stürzte zu Boden. Sie lag ausgestreckt zu seinen Füßen und blickte erstaunt zu ihm auf. Im nächsten Moment erstarrte Ben. Er blieb wie angewurzelt stehen und blickte ungläubig zu Boden. Dann sank er wortlos auf die Knie nieder und streckte in einer Gebärde der Hilflosigkeit die Hände aus.

«Was habe ich getan?«stammelte er.

Judy rührte sich nicht, sondern blieb mit zitterndem Körper und leicht geöffneten Lippen liegen.

Ben starrte sie noch immer an. Sein Gesicht drückte Bestürzung und Verwirrung aus.»Die Person, die ich über alles liebte, die Frau, die mir teurer war als mein eigenes Leben und die ich einmal sogar über die Thora stellte. «Seine Stimme klang belegt und dumpf.

Ben schaute auf seine Hände hinunter und versuchte zu verstehen, was geschehen war. Und während er so vor dem stummen Mädchen kniete, überkam ihn ein heftiges sexuelles Verlangen. Und er wußte, daß es tausendmal stärker war als das, was er damals, vor vielen Jahren, im Olivenhain verspürt hatte. Er wurde überwältigt von dieser schrecklichen, brennenden Begierde, diesem plötzlichen heftigen Verlangen, noch einmal in Sara einzudringen, noch einmal die Gesetze der Thora und den Bund der Freundschaft mit Saul zu brechen. Als er so vor ihr auf den Knien lag und sie wie einen Sperling zittern sah, hatte er auf einmal den Wunsch, diesen wunderbaren Nachmittag von einst noch einmal zu erleben und an nichts anderes zu denken als daran, diese Frau zu besitzen.

Aber ich darf es nicht, hielt sein Verstand dagegen, denn sie ist keine freie Frau, und ich bin kein freier Mann. Es ist ein unmittelbarer Verstoß gegen Gottes Gesetz und eine Herabwürdigung meiner Freundschaft zu Saul. Und dennoch.

Er starrte weiter auf seine Hände und zwang sich, nach unten zu sehen, denn er wußte, wenn er einmal zu Sara aufblickte, würde er sich in der Tiefe ihrer Augen verlieren.

«Ben«, flüsterte eine zarte Stimme. Sie war schwach und zerbrechlich wie der Körper, von dem sie kam, zart wie die Frau, die er so abscheulich von sich gestoßen hatte.

Er antwortete nicht. Schauer der Leidenschaft marterten seinen Körper, und der gepeinigte Mann kämpfte mit seiner ganz Willenskraft gegen die heftige Begierde an, die in ihm brannte. Dann ein anderes sanftes Flüstern:»David. «Es war eine einschmeichelnde Stimme. Eine süße, unwiderstehliche, schüchterne Einladung.

Schließlich gab er auf und sah sie an. Und der Anblick des kleinen, blassen Gesichtes und der langen, schwarzen Haare ließ sein Herz fast zerspringen. Nachdem er einmal schwer geschluckt hatte, brachte er mit schwacher Stimme heraus:»Wir dürfen es nicht, Sara, Liebste. Dieses eine Mal hätte nie sein dürfen.«

Eine unendliche Trauer lag in ihren Augen, ein Leid, das ihn bestürzte. Es war, als ob sie ihn wollte und dennoch in ihrem Innern einen persönlichen Kampf austrug, von dem er nichts wußte. Wie hätte er es auch wissen sollen? Daß sie in ihrer großen Liebe zu Ben und im Bewußtsein, daß sie Ben niemals würde haben können, gewillt war, sich David hinzugeben. Aus dem Verlangen heraus, Ben zu haben, würde sie sich einem Fremden schenken und vorgeben, eine andere Frau zu sein.

«Es ist schon lange her«, flüsterte sie und streckte die Hand nach ihm aus.

Er faßte ihre Hand und drückte die Fingerspitzen an seine Lippen. Ein gewaltiges Grollen wurde in seinen Ohren laut. Jegliches Empfindungsvermögen schien ihn zu verlassen. Sanft hob Ben Judy vom Boden auf und trug sie auf seinen starken Armen zum Bett, wo er sie behutsam niederlegte.

«Sara, weine bitte nicht«, murmelte er in völliger Verwirrung.»Ich lasse dich, wenn das dein Wunsch ist.«

Doch sie streckte ihre kleine Hand nach der seinen aus, und er spürte, wie fiebrig sie war. Wieder hielten ihn seine treue Ergebenheit zu Saul und die strengen Vorschriften der Thora vom nächsten Schritt zurück, so daß er eine Sekunde lang unentschlossen über ihr stand. Judy blickte flehentlich und ebenso verwirrt wie er zu ihm auf. Sie spürte, wie ihr eigenes sexuelles Verlangen alle anderen Empfindungen zurückdrängte und den letzten Zweifel besiegte. Schließlich ergab sie sich und murmelte:»Wenn nicht Ben, dann eben David. «Und zu dem Mann, der über ihr stand, sagte sie:»Nun, mein Liebster, so wollen wir die Gunst der Stunde nutzen. «Im Nu war er über ihr, und seine Leidenschaft entfesselte sich. Er küßte ihren Mund mit einer Heftigkeit, über die sie beide erschraken. Judy schmeckte, wie sich das Salz ihrer Tränen mit dem Geschmack seiner Zunge mischte. Sie spürte, wie sein Mund den ihren verschlang, und versuchte, die Schluchzer in ihrer Kehle zu unterdrücken.