Kapitel Siebzehn
In den nächsten zwei Tagen weilten sie weder in der Gegenwart noch in der Vergangenheit, sondern lebten in einem zwielichtigen Reich, das sie sich für ihre eigenen Bedürfnisse geschaffen hatten. Ben wartete geduldig auf die dreizehnte Rolle. In diesen langen Stunden saß er ruhig da und starrte auf die Fotos von den Papyrusstücken, die sich allmählich bei ihm angehäuft hatten, und bei jeder Aufnahme verweilte er, als ob er dabei eine süße Erinnerung durchlebte. Judy war weniger selbstsicher, obgleich sie sich nun einer Kraft ergeben hatte, die zu groß war, um dagegen anzukämpfen. Sie liebte Ben so sehr, daß es ihr mittlerweile gleichgültig war, was mit ihnen geschehen würde, und sie sich keine Sorgen mehr um die Zukunft machte. Denn sie war überzeugt davon, daß ebenso wie alles bisher Geschehene so hatte kommen müssen, auch alle anderen Tage mit einer Unvermeidlichkeit verlaufen würden, die nicht geändert werden konnte.
Sie liebten sich danach noch dreimal, und jede Begegnung war so explosiv wie die erste. Wenn sie bis spät in die Nacht eng umschlungen dalagen und in beglückender Weise die warme Nacktheit des anderen spürten, erzählte Ben leise in einem antiken hebräischen Dialekt von den Wundern Jerusalems und dem Optimismus seiner Zeit.»Ich hatte unrecht«, sagte er in der alten Sprache, die Judy größtenteils verstehen konnte,»ich hatte unrecht, nach Israel gehen zu wollen. Denn zu den Waffen zu greifen und den Feind zu bekämpfen ist ein Akt der Treulosigkeit gegen Gott. Hat er nicht versprochen, den Messias, den Gesalbten, zu schicken, um Israel aus der Unterdrückung zu befreien? In meiner
Schwäche wurde ich ungeduldig und wollte das Urteil Gottes in Frage stellen. Du hattest recht, meine Geliebte, als du versuchtest, mich zurückzuhalten. «Judy kuschelte sich an seinen Körper und ließ ihren Kopf auf seiner Brust ruhen. Es gab keine schönere Stunde als diese, wenn sie in Bens Armen lag und sich die Phantasiebilder ausmalte, die seine sanfte Stimme beschwor: Er sprach von Spaziergängen am Ufer des Sees Genezareth; von den roten Anemonen, die im Frühling blühten; von der Freude über eine reiche Olivenernte; von dem Frieden und der Ruhe auf einem Hügel in Judäa. Sie wollte, daß dieser Augenblick ewig währte. Aber er tat es nicht.
Am Samstag klopfte der Briefträger an ihre Wohnungstür und überbrachte einen eingeschriebenen Brief aus Israel. Nachdem sie Weatherbys Notiz gelesen hatten — etwas über Zeitungsverleger und Museen und öffentlichen Bekanntmachungen —, setzten Ben und Judy sich an den Schreibtisch, um die letzte Rolle zu übersetzen.
Ben schien gelassen und gemächlich, und man hätte tatsächlich meinen können, daß er den Moment hinauszögern wollte, wohingegen Judy sehr beunruhigt war. Sie starrte wie gebannt auf den inneren Umschlag, während sie eine Frage nicht mehr losließ. Was wird aus uns werden, wenn die letzte Rolle erst einmal gelesen ist?
Sie schaute Ben an und sah den friedlichen Ausdruck auf seinem Gesicht, den sie als Davids innere Ruhe erkannte. Wo auch immer Benjamin Messer hingeschickt worden war, wo immer Bens gequälter und von Schuldgefühlen geplagter Geist auch beerdigt sein mochte, der Mann an ihrer Seite war nun ein glücklicherer Mensch geworden. Und das war alles, was sie wollte.
Aber was wäre, fragte sie sich mit nagender Angst, was wäre, wenn ihn allein die Rollen mit der Identität verbänden, die er angenommen hatte? Und was wäre, wenn dieser zarte Faden — weil es die letzte Rolle war oder weil der Inhalt dazu angetan sein könnte — zerreißen würde?
In den darauffolgenden vier Jahren wuchs der Zwist in der Stadt ins Unermeßliche.
An dem Tage, da Prokurator Gessius Florus den Tempelschatz plünderte, erhoben sich Hunderte von Juden in hellem Zorn. Um den Aufstand zu ersticken, sandte der Prokurator römische Truppen in alle Teile der Stadt, brutale Männer, die alles taten, um die Revolte niederzuschlagen, und viele Juden wurden getötet und verwundet. Als die Nachricht von diesem Ereignis sich über das ganze Land verbreitete, erhoben sich immer mehr organisierte Gruppen von Zeloten gegen unsere Oberherren und erschlugen die Römer, wo immer sie sie antrafen.
Wo es einst gelegentliche Überfälle aus dem Hinterhalt und Sabotage gegeben hatte, wurde nun offen Krieg geführt. Kaiser Nero schickte seinen besten General Vespasian, um dem Aufstand ein Ende zu bereiten, und in allen Städten Judäas, Syriens und Idumäas wurde sehr viel gekämpft. Galiläa wurde am schwersten getroffen, da die römischen Truppen durch dieses Gebiet anrückten, und erlitt schreckliche Verluste. Meine Brüder verließen ihre Familien, um sich den Streitkräften der Rebellen anzuschließen. Später hörte ich, sie seien im Kampf für Zion gefallen. Was mit meiner Mutter und meinem Vater geschah, werde ich wohl nie erfahren.
Zu jener Zeit brodelte Jerusalem vor Angst, vor Haß und vor Blutgier, doch es wurde nur wenig gekämpft. Wir standen tatenlos da und warteten ab, was mit den Städten passieren würde, durch die das römische Meer auf uns zumarschierte.
Wir hörten von vielen Heldentaten in diesen Schlachten. Tausende von Juden, nur die Hälfte von ihnen Zeloten, kämpften mit allen Waffen, die ihnen zur Verfügung standen, um Israels Oberhoheit wiederherzustellen.
Indes wußte ich im Herzen, daß sie unrecht hatten, denn allein der König von Israel würde unsere Fesseln lösen, und er war noch nicht zu uns zurückgekehrt.
Dieses erklärte ich Saul, der eines Nachts spät bei uns erschien, mir ein Schwert in die Hand drückte und meinte:»Die Stunde des Kampfes ist gekommen, Bruder!«
Doch ich lehnte die Waffe ab und sprach:»Wenn ich mich jetzt bewaffnete und auf den Feind losschlüge, dann wäre es vor Gott ein Zeichen von Treulosigkeit. Ich glaube daran, daß der Messias kommen wird; ich glaube an das Versprechen, das Gott seinen Kindern gegeben hat; und ich glaube, daß der neue König von Israel uns an diesem Tag befreien wird.«
«Du bist ein halsstarriger Narr«, erwiderte Saul. Und es verletzte mich tief.
So kam es, daß mein Bruder und ich uns auf schlimme Weise entzweiten.
Die Nachricht von Kaiser Neros Tod in Rom ließ Vespasian zurückeilen, um an der Bürgererhebung um den leeren Thron teilzunehmen. Uns im Osten wurde jedoch keine Atempause gewährt, denn an seiner Statt sandte er seinen Sohn Titus, einen unbarmherzigen, hartgesottenen Mann.
Je mehr Städte in der Provinz besiegt wurden und je näher das römische Heer rückte, desto größer wurde die Angst in Jerusalem.
Unsere Brüder, die in dem Kloster am Salzmeer lebten, verließen ihr Zuhause und zerstreuten sich über das Land, und man erzählte uns, sie hätten ihre heiligen Schriftrollen in Tonkrügen tief in den um das Salzmeer herum gelegenen Höhlen verborgen. Auf diese Weise sollte das Wort Gottes vor dem heidnischen Eroberer bewahrt werden, und die Mönche könnten eines Tages zurückkehren und die Rollen wieder ans Licht bringen.
Jerusalems Stunde nahte heran. Und als die ausgeplünderten und zerlumpten Überlebenden von Tiberias. Jotapata und Caesarea nach Jerusalem strömten, um Schutz zu suchen, und als wir Erzählungen über die Stärke und die Wildheit der Römer hörten, erkannte ich, daß es an der Zeit war, meine Frau und meine Sklaven hinter den Stadtmauern in Sicherheit zu bringen. Sobald die Gefahr vorbei war, wollten wir auf unseren Hof zurückkehren. Rebekka weinte, doch hielt sie sich tapfer, und ich war deshalb stolz auf sie. Wir nahmen nur das Nötigste mit und brachten den Rest in ein sicheres Lager, da wir dachten, wir würden bald zurückkehren.
Miriam hieß uns in ihrem Haus willkommen, wo Rebekka und ich mit anderen Mitgliedern der Armen, darunter Jakobus, Philippus und Matthäus, unsere irdischen Güter teilten und unsere Tage im Gebet verbrachten.
Wir sollten unseren Hof nie wiedersehen.
Vespasian wurde Kaiser von Rom, und sein Sohn Titus erreichte schließlich die Tore Jerusalems.
Ich vermag nicht die kalte Angst zu beschreiben, die uns beim Anblick der römischen Legionen packte. Zu Zehntausenden marschierten sie auf die Stadt zu, und in dem Moment, als ich vom Tempel aus auf den Ölberg blickte, wußte ich, daß unsere letzten Tage gekommen waren.
Zu dieser Zeit trat in der Stadt eine beklagenswerte Situation ein. Nachdem sie die riesige Heeresmacht der Römer gesehen hatten, von der wir nur durch den Fluß Kidron getrennt waren, äußerten viele Bürger den Wunsch, sich jetzt zu ergeben und auf diese Weise ihr Leben zu retten. Doch die Zeloten ließen dies nicht zu, denn sie glaubten, daß dies die letzten Tage seien, die in der heiligen Schrift prophezeit worden waren, und daß sie eine Pflicht gegen Gott zu verrichten hätten. Und so spaltete sich die Bevölkerung Jerusalems in zwei Lager. Die führenden Schichten der Stadt, die Sadduzäer und die Pharisäer, glaubten, daß die Römer nicht angreifen würden und daß eine friedliche Übereinkunft erzielt werden könne. Wir von den Armen glaubten, daß die Antwort im Gebet liege und daß uns Gott, wenn er unseres festen Glaubens ansichtig werde, den Messias schicken werde. So wurde Jerusalem geteilt, und wir bildeten keine gemeinsame Front gegen den Feind. Es kam der Tag, da Titus, der dieser unentschiedenen Situation überdrüssig wurde und endlich eine Wende herbeiführen wollte, den Befehl gab, alles Land in der Umgebung einzuebnen und damit das Bett des Kidron aufzufüllen. So geschah es, daß eine Schar Römer jeden Baum fällte, jeden Zaun niederriß und jedes Gebäude bis auf die Grundmauern einebnete. Auf diese Weise wurde auch mein Hof zerstört, und ich beobachtete, wie die Flammen gen Himmel schlugen, bis nichts Brennbares mehr übrigblieb. Der nächste Schritt, den Titus unternahm, bestand darin, eine gewaltige Rampe zu errichten. Er wählte für seinen Angriff die beste Stelle, gegenüber dem Grabmal von Johannes Hyrkanos, aus, da dort die erste Reihe der Festungswälle auf niedrigerem Grund gebaut war und so einen leichten Zugang zu der dritten Mauer bildete. Von dort aus beabsichtigte er, die Antonia, die Oberstadt und somit auch den Tempel zu erobern.
Doch selbst in dieser Situation, selbst mit dem Feind in unserer unmittelbaren Nähe, wurde der Streit innerhalb der Stadtmauern unvermindert fortgeführt. Immer mehr Leute gerieten in Panik und wollten zu den Römern überlaufen, doch die mächtigen Zeloten, die das Kommando führten, zogen eine Kapitulation nicht in Betracht.
Ich vermochte meinen Augen kaum zu trauen, als ich sah, wie sich die Juden untereinander in den Straßen Jerusalems bekämpften, während die Römer außerhalb der Stadtmauern wie Aasgeier warteten.
Es war für alle eine trostlose Zeit, und niemand konnte in Frieden leben. Ehe die Zeloten es zuließen, daß auch nur ein einziger Jude sich dem Feind ergab, ermordeten sie ihn auf offener Straße als warnendes Beispiel. Denn sie waren zu Fanatikern geworden. Diese Eiferer, so glühend in ihrem Glauben an ein überragendes Zion, wurden allmählich zu Wahnsinnigen, je mehr sie von Rom in die Enge getrieben wurden. Wir saßen allesamt in der Falle und wußten, daß man uns abschlachten würde. Doch angesichts dieser Situation verbohrten sich diese radikalen Juden nur noch mehr in ihre Ideale. Während es unter uns solche gab, die eine friedliche Knechtschaft vorgezogen hätten, gingen die Zeloten lieber in den Tod, als diese Schande zu ertragen.
So bildete Jerusalem auch weiterhin keine geschlossene Front gegen den Feind. Und ob dies nun geholfen hätte oder nicht, vermag ich nicht zu sagen, denn das Ganze entwickelte sich schnell zu einem Alptraum von erschreckendem Ausmaß. Niemand von uns hätte die Katastrophe, die schon bald über uns hereinbrechen sollte, voraussehen können. Und als wir uns des Ernstes unserer Lage richtig bewußt wurden, war es schon zu spät. Ich betete mit meinen Brüdern von den Armen, bis ich Schwielen an die Knie bekam. Titus und seine Männer erhöhten ihre Rampe bis hinauf zur Antonia-Festung. Zerstrittene Splittergruppen von Juden kämpften untereinander innerhalb der Stadt. Und ein noch schlimmerer Feind — weitaus schlimmer, als ich oder meine Brüder oder Titus oder die Zeloten es je hätten vorausahnen können — begann sich heimtückisch in die Stadt einzuschleichen. Und dieser Feind — nicht die rivalisierenden Juden und auch nicht die Römer im Tal des Kidron, sondern allein dieser letzte Feind, der seinen eigenen Krieg gegen uns zu führen begann — war schuld daran, daß die Tage von Jerusalem gezählt waren. Denn kein Mensch kann den Vormarsch des Hungers aufhalten. Kämpfe waren nun an der Tagesordnung, obgleich sie auf den Bereich der Stadtmauern beschränkt waren.
Wieder versuchte Saul, mich dazu zu bewegen, eine Waffe zu tragen, doch ich lehnte ab, denn ich glaubte, Gott werde uns retten, bevor die Römer die Stadtmauern durchbrachen, und ich konnte den göttlichen Ratschluß nicht durch derlei Tun in Zweifel ziehen.
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