«Was hat die Tatsache, daß ich in Deutschland geboren wurde, damit zu tun?«

«Nun, es ist ja eine jüdische Erfindung.«

Für einen Augenblick zeigte sich eine leichte Überraschung auf seinem Gesicht. Dann lachte er kurz auf und meinte:»Oh, ich verstehe. Wissen Sie denn nicht, daß ich auch Jude bin?«Judy Golden blieb unvermittelt stehen.»Wirklich?«Er schaute auf ihr Gesicht hinab.

«Was ist denn los? Oh, warten Sie, sagen Sie’s mir nicht. Ich sehe nicht jüdisch aus, ist es das, was Sie denken?«

«Ich befürchte, jetzt bin ich wirklich ins Fettnäpfchen getreten«, erwiderte Judy verlegen.»Genau das habe ich gedacht. Und dabei hasse ich diese Vorurteile selbst.«

Sie liefen in Richtung auf das nächstgelegene Parkhaus weiter.»Das erklärt es«, sagte sie.»Erklärt was?«

«Das C. E.«

«Da muß ich Sie leider enttäuschen. Für mich beinhaltet diese Abkürzung keinerlei persönliche Anschauung. Ich benutze sie als objektive Bezeichnung und nicht aufgrund einer Nichtanerkennung des Glaubens, der durch die Worte Anno Domini, im Jahr unseres Herrn, zum Ausdruck kommt.

Außerdem wird es in zahlreichen Büchern so gehandhabt, und auch viele meiner Kollegen sind dazu übergegangen, diesen Begriff zu verwenden. Die Juden haben da kein Monopol. Nur weil jemand C. E. sagt anstatt A. D. heißt das noch lange nicht, daß er ein Zionist ist.«

Unwillkürlich faßte sie nach ihrer Kette.

«Wissen Sie«, fuhr Ben fort, als sie sich dem Parkhaus näherten,»Sie sprechen Hebräisch wie eine Muttersprachlerin. Haben Sie Israel je besucht?«

«Nein, aber eines Tages würde ich das gern tun. «Sie blieben am Eingang stehen. Hinter ihnen ging die Sonne unter und tauchte den Horizont in flammendrotes Licht. Ben wartete höflich darauf, daß die junge Frau noch etwas sagte, obwohl er insgeheim hoffte, daß das Gespräch beendet sei. Schließlich meinte er:»Jemand wie Sie, mit Ihrem Interesse für die Religion, die hebräische Sprache und das jüdische Erbe, sollte eigentlich seinen ganzen Besitz verkaufen und sich ein einfaches Flugticket nach Israel holen.«

«Das habe ich schon mehrmals versucht, aber meine Pläne schlugen immer fehl. Es ist schwer, Geld dafür aufzutreiben. Trotzdem danke, Dr. Messer, daß Sie sich Zeit für mich genommen haben. Auf Wiedersehen.«

«Auf Wiedersehen.«

Der Anblick des alexandrinischen Kodex auf seinem Schreibtisch verschaffte Ben gleich wieder ein schlechtes Gewissen, als er sich mit einem Glas Wein und einer noch nicht angezündeten Pfeife darüber beugte. Dr. Joseph Randall hatte ihn in einer Fotokopie vor zwei Wochen zwecks genauerer Übersetzung an Ben geschickt. Er war in einem koptischen Kloster in der Wüste bei Alexandria gefunden worden und befand sich nun im Ägyptischen Museum in

Kairo. Es handelte sich um ein Manuskript in griechischer Sprache, das viele Parallelen zum Codex Vaticanus aufwies, einer im vierten Jahrhundert in Ägypten entstandenen Pergamenthandschrift der Bibel. Randalls Papyrus mit dem Titel» Apostelbrief des Markus «enthielt viele Ungenauigkeiten, und obwohl er unwiderlegbar vor vielen hundert Jahren geschrieben worden war, war er aller Wahrscheinlichkeit nach nicht echt.

Ben legte seine Pfeife zur Seite und trank den Wein aus. Aus der Stereoanlage ertönte leise und unterschwellig Bachs Toccata und Fuge in d-moll. Das half ihm oftmals, sich zu konzentrieren. Im dritten und vierten Jahrhundert wimmelte es nur so von Fälschungen, von denen man viele für Briefe und Geschichten der Apostel hielt. Die vor ihm liegende Handschrift mußte jahrhundertelang sehr verehrt worden sein, bevor sie beim Auszug der Mönche aus dem Kloster zurückgelassen wurde, denn der Evangelist Markus galt als der Begründer der christlichen Kirche in Ägypten vor neunzehnhundert Jahren. Das war es wenigstens, was die Kopten glaubten.»Wenn es überhaupt einen heiligen Markus gegeben hat«, murmelte Ben. Es fiel ihm schwer, sich zu konzentrieren.

Auch der Wein hatte nicht geholfen, und Bach ging ihm langsam auf die Nerven. Außerdem hatte er vergessen, auf dem Heimweg an der Reinigung zu halten.

Der Kodex war ein langes Werk und nicht sehr sorgfältig verfaßt. Einige Wörter waren nebulös und machten ganze Sätze unklar und bedeutungslos. Er griff auf mehrere andere Texte zurück, um Vergleiche anzustellen, und spürte, wie er sich selbst zwingen mußte, um beim Thema zu bleiben. Als wenig später Poppäa Sabina heraufsprang, um die Schreibtischplatte zu untersuchen, nahm Ben sie auf den Arm und begann, sie zu streicheln.

«Du hast ganz recht, meine struppige Teufelin. Eine Arbeit, die es wert ist, getan zu werden, ist es wert, gut getan zu werden. Und ich tue sie nicht gut.«

Er hörte das leise Schnurren der Katze an seiner Brust. Dann stand er auf, um es sich in einem der beiden behaglichen Sessel im Wohnzimmer bequemer zu machen. Bens Wohnung lag im Norden des Stadtteils Wilshire, also etwas unterhalb von Hollywood, und war deshalb auch entsprechend teuer, aber dafür hatte er viel Platz und viel Ruhe und konnte ungestört arbeiten. Er hatte die Räume sehr komfortabel eingerichtet. Das Wohnzimmer war sehr bequem mit seinen Teppichen, Kunstgegenständen und einladenden Möbelstücken. Seine vielen Bücherregale hatte er im Arbeitszimmer untergebracht, das ganz in Leder und dunklem Holz gehalten war. Außerdem verfügte er über Schlafzimmer und Küche, mit separatem Eingang und einem Balkon. Ben fühlte sich wohl in seiner Wohnung und nutzte sie häufig als stillen Zufluchtsort.

Trotzdem konnte er sich an diesem Abend nicht so recht entspannen.»Es liegt an diesem alten Juden«, sagte er zu Poppäa, die ihre Nase an seinem Hals rieb.»David Ben Jona ist bei weitem interessanter als dieser gefälschte MarkusBrief.«

Ben stützte seinen Kopf gegen die Sessellehne und starrte an die Decke. Zumindest, dachte er kühl, würde ich eher an die Existenz von David Ben Jona glauben als an einen Heiligen namens Markus, der angeblich das Evangelium niederschrieb. Benjamin Messer räumte ein, daß ein römischer Jude mit Namen Johannes Markus wahrscheinlich im ersten Jahrhundert in Palästina gelebt hatte und vermutlich in die Aktivitäten der Zeloten verstrickt gewesen war. Aber wer war das in Judäa zu jener Zeit nicht? Doch daß er der Autor des früheren und kürzesten Evangeliums sein sollte, war höchst fragwürdig. Immerhin existierte das Markus-Evangelium vor dem vierten

Jahrhundert nicht einmal in irgendeiner vollständigen Form. Was, außer dem Glauben daran, konnte beweisen, daß das Markus-Evangelium» echter «war als zum Beispiel der Markus-Brief, der nun auf Bens Schreibtisch lag? Glaube.

Ben setzte seine Brille ab, die ihm ungewohnt schwer vorkam, und legte sie auf das Seitentischchen neben sich. Was war überhaupt Glaube, und wie konnte man ihn messen? Daß das Neue Testament erst seit ungefähr dem Jahr dreihundert nach Christus in schriftlicher Form nachweisbar war, schien den Glauben so vieler Millionen Christen nicht im geringsten zu beeinträchtigen. Daß die Geschichte von der Unbefleckten Empfängnis, von unzähligen Wundern und von der leibhaftigen Auferstehung nach dem Tod der Menschheit erst Jahrhunderte, nachdem sie sich angeblich zugetragen haben, in Handschriften überliefert worden war und daß ihre Urheberschaft bis heute nicht zweifelsfrei bestimmt werden konnte, hatte keine Auswirkungen auf die Überzeugung von Millionen. Das war Glaube. Einen flüchtigen Augenblick lang dachte Ben an seine Mutter Rosa Messer, die bereits vor vielen Jahren einen gnädigen Tod gefunden hatte. Und ebenso rasch schob er die Erinnerung daran beiseite. Es tat ihm nicht gut, jetzt an sie zu denken. Ebenso hatte Ben längst den Versuch aufgegeben, die wenigen Erinnerungen an seine Kindheit nach seinem Vater, Rabbi Jona Messer, zu durchforsten. Er war gestorben, als Ben noch ein kleiner Junge war.

Das war in Majdanek gewesen, einem Ort in Polen, an den Juden deportiert worden waren.

Das Telefon klingelte dreimal, bevor Ben aufstand, um den Hörer abzunehmen.

«Wie kommst du voran?«fragte Angie. Sie äußerte stets Interesse an seinem neuesten Übersetzungsvorhaben, und ob es nun echt oder gespielt war, spielte für Ben keine Rolle.

«Langsam«, gab er zurück.»Na ja, eigentlich geht es überhaupt nicht voran.«

«Hast du gegessen?«

«Nein. Hab keinen Hunger.«

«Willst du vorbeikommen?«

Ben zögerte. Gott, es wäre schön, bei Angie abzuschalten. Vor dem Kamin zu sitzen und die alten Manuskripte für eine Weile zu vergessen. Und mit ihr zu schlafen.

«Ich hätte wirklich große Lust dazu, Angie, aber ich habe Randall mein Wort gegeben. Gott, dieses Zeug ist der letzte Mist.«

«Kürzlich nanntest du es noch eine Herausforderung. «Ben lachte. Seine Verlobte hatte eine bemerkenswerte Gabe, jemanden aufzuheitern.»Das ist dasselbe. Ja, es ist eine Herausforderung. «Sein Blick schweifte zurück zum Schreibtisch, blieb aber nicht an der Fotokopie von Randalls Kodex, sondern an dem braunen Umschlag haften, der Weatherbys drei Fotografien enthielt. Das war es, was ihn wirklich beschäftigte. Nicht der alexandrinische Kodex oder sein Versprechen gegenüber Joe Randall. Es waren die drei Fragmente einer Schriftrolle, die vor kurzem in Khirbet Migdal ausgegraben worden war und deren letzte paar Zeilen noch nicht übersetzt waren.

«Angie, ich werde ein Nickerchen machen, dann aufstehen und die Arbeit in Angriff nehmen. Ich habe Randall versprochen, ich würde ihm in zwei Wochen die beste Übersetzung abliefern. Du verstehst schon.«

«Natürlich. Und paß auf, wenn es in deiner Magengegend zu rumoren anfängt, ruf mich an, und ich bringe dir einen Schmortopf vorbei.«

Er blieb am Telefon stehen, nachdem er aufgelegt hatte, und bemerkte gar nicht, wie Poppäa Sabina ihm um die Beine strich. Sie schnurrte und miaute abwechselnd und wand ihren schlanken Körper um seine Wade, um ihn auf verführerische Art daran zu erinnern, daß sie auch noch da war. Doch Ben nahm keine Notiz davon. Er dachte an die magdalenische Schriftrolle. In seiner ganzen Laufbahn war ihm so etwas noch nie begegnet. Und wenn von Weatherby noch weitere Rollen kommen sollten und wenn David Ben Jona etwas Interessantes zu sagen hatte, dann wäre Ben Messer an einer der größten historischen Entdeckungen beteiligt, die je gemacht worden waren. Er konnte es nicht mehr länger aushalten. Die Spannung wurde zu groß, und die Neugierde überwältigte ihn. Zum Teufel mit seiner Verpflichtung gegenüber Joe Randall und mit dem alexandrinischen Kodex. David Ben Jona hatte mehr zu sagen, und Ben wollte wissen, was das war.

Diese Segnungen sollen auf Dir ruhen, mein Sohn, auf daß Du Dich beim Lesen meiner Worte daran erinnerst, daß Du ein Jude bist, ein Sohn des Gelobten Landes und ein Teil von Gottes auserwähltem Volk. Da ich Jude bin, da mein Vater Jude war, so bist auch Du Jude. Vergiß dies niemals, mein Sohn.

Nun ist die Zeit für mich gekommen, Dir zu erzählen, was kein Vater seinem Sohn erzählen sollte, und dennoch sollst du es wissen — die Schande und das Grauen meiner Tat — denn dies ist meine letzte Beichte.

Ben beugte sich dichter über das Foto und richtete seine starke Schreibtischlampe neu aus. Er war fast am unteren Ende des Papyrus angelangt, und das Entziffern wurde immer schwieriger.

Jerusalem ist jetzt zerstört. Wir sind über ganz Judäa und Galiläa verstreut, viele von uns bis in die Wüste hinein. Ich bin nach Magdala, an den Ort meiner Geburt, zurückgekehrt, so daß er auch der Ort meines Todes sein wird. Wenn Du überhaupt nach mir suchst, so wirst Du hierher kommen. Und Du wirst hoffentlich diese Schriftrollen finden.

Ben starrte ungläubig auf die Schriftrolle. Es überwältigte ihn so sehr, daß er wie vom Donner gerührt dasaß. Er rieb sich die Augen, beugte sich noch dichter über das Manuskript und las es noch einmal ganz sorgfältig. Jerusalem ist jetzt zerstört. Es war zu phantastisch, um wahr zu sein! Diese vier Worte Jerusalem ist jetzt zerstört konnten nur eines bedeuten: Daß die Worte im Jahr siebzig oder kurz danach geschrieben worden waren!

«Großer Gott!«rief er aus.»Ich glaube es nicht!«Mit einem Ruck stand Ben auf, wobei er seinen Stuhl nach hinten umstieß. Vor ihm, eine Armlänge von ihm entfernt unter der Lampe, lagen funkelnd und glänzend David Ben Jonas neunzehnhundert Jahre alte Worte, die ihm ihre Botschaft über die Generationen hinweg entgegenschrien.

«Großer Gott.«, flüsterte er wieder. Dann hob er seinen Stuhl auf, setzte sich auf die Kante und legte seine Finger auf die Ränder der Fotografie. Lange saß Ben schweigend über der Schriftrolle und versuchte, sein rasendes Herz zu beruhigen. Doch ohne Erfolg. Dies war mehr, als er sich erhofft hatte, mehr, als er sich je erträumt hatte. David Ben Jona hatte gerade seine eigenen Worte für die Nachwelt mit einem Datum versehen, so sicher, als hätte er das Jahr in leuchtendroter Tinte darübergeschrieben.