Die Aufregung machte Ben schwindlig. Er mußte Weatherby sofort davon unterrichten. Das war zu phantastisch, als daß man es glauben konnte! Die gesamte Gelehrten weit würde sich erheben und die Nachricht von dem Fund mit Beifall für John Weatherby und Lob für Benjamin Messer zur Kenntnis nehmen.

Ben versuchte sich zu entspannen und wurde allmählich etwas ruhiger. Er mußte erst ganz sichergehen, daß er das Manuskript richtig übersetzt hatte. Danach mußte er an Weatherby telegraphieren. Dann mußte er nochmals die ersten zwei Fotoabzüge durchgehen und sicherstellen, daß ihm auch dort bei der Übersetzung kein Fehler unterlaufen war.

Voller Freude nahm Ben Poppäa auf den Arm, hielt ihr Gesicht dicht an seines und murmelte:»Ich begreife nicht, wie du so kühl und gelassen sein kannst. Es sei denn, es ist dir egal, daß David Ben Jona uns gerade mitgeteilt hat, daß er etwa vierzig Jahre nach dem Tod Jesu schrieb. Was nur eines bedeuten konnte«, seine Augen hefteten sich wieder auf den Text,»daß David wahrscheinlich zur gleichen Zeit in Jerusalem lebte wie Jesus.«

Als Ben verstummt und er seine letzten Worte noch im Raum klingen hörte, kam ihm eine andere Idee. Er setzte Poppäa rasch auf den Boden und starrte auf die Fotos. Dieser neue Gedanke, der ihm so plötzlich, so unerwartet durch den Kopf schoß, ließ ihn frösteln. Nur mühsam konnte Ben seine Augen von dem Papyrus abwenden. Er blickte in sein dunkles Zimmer. Nein, dieser neue Gedanke gefiel ihm überhaupt nicht.

Die plötzliche Vorstellung, daß Davids Fluch. der Fluch Mose. etwas mit diesem anderen Galiläer zu tun haben könnte. Und daß David ein Verbrechen zu beichten hatte. Benjamin zitterte, als der kalte Hauch der Vorahnung durch den Raum wehte.

Kapitel Drei

Angie deckte das Geschirr vom Abendessen ab und räumte die Küche auf, während Ben in ihrem Wohnzimmer eine Art» Reise nach Jerusalem «spielte.

Zuerst setzte er sich in einen Lehnstuhl und trommelte mit den Fingern auf die Armlehne. Dann stand er auf und ließ sich auf den Diwan fallen. Eine Minute später sprang er auf und setzte sich auf das eine Ende der Couch, um sich gleich wieder zu erheben und sich auf dem anderen Ende niederzulassen. Nach einer kurzen Weile lief er im Zimmer umher, bevor er sich auf den Klavierhocker setzte, und als Angie wieder aus der Küche kam, fand sie ihn in dem Lehnstuhl, in dem er zuerst gesessen hatte.

«Ich denke, wir sollten heute abend besser nicht ins Kino gehen«, meinte sie.»Warum nicht?«

«Nun, normalerweise bleibt man während eines Films auf seinem Platz sitzen und. «Sie beschrieb mit dem Arm einen Bogen durchs Zimmer.

Ben lächelte und streckte seine Beine aus.»Tut mir leid. Ich glaube, ich bin nervös.«

Angie setzte sich auf die Armlehne und fuhr mit den Fingern durch Bens üppigen blonden Haarschopf. Es war der zweite Abend nach seiner sensationellen Entdeckung der Zeitangabe in David Ben Jonas Manuskript.

Er wirkte mit seinem sehnigen Körper fast athletisch, so daß man, wenn man ihn ansah, niemals ernstlich vermuten würde, daß sein Leben sich größtenteils zwischen Universität und Arbeitszimmer abspielte.

«Ich bin froh, wenn du wieder von Weatherby hörst.«

«Ich auch. David Ben Jona hatte kein Recht, mich so hängenzulassen. «Angie musterte Bens Gesicht eingehend und bemerkte, wie angespannt er war. Sie dachte darüber nach, wie aufgeregt er gewesen war, als er sie vor zwei Tagen angerufen und unzusammenhängendes Zeug in den Hörer gequasselt hatte. Er hatte weitergeplappert über Jerusalem, das zerstört worden sei, und einen Augenblick lang hatte sie geglaubt, die Araber hätten einen atomaren Angriff unternommen. Doch dann hatte er etwas über die» Zeit Christi «gesagt, und Angie hatte erleichtert erkannt, daß Bens Erregung von den Schriftrollen herrührte.

Sie war die ganze Nacht mit ihm aufgeblieben, während er immer und immer wieder dieses dritte Foto durchgegangen war.»Nur ein einziges Mal in der gesamten Geschichte wurde Jerusalem völlig zerstört. Es geschah im Jahr siebzig unserer Zeitrechnung und versprengte die Juden in alle Himmelsrichtungen. Offensichtlich war auch David von dieser Katastrophe betroffen und floh in seine Heimatstadt, um sich dort zu verstecken. Ich bin überzeugt, daß meine Folgerung richtig ist. Ich bin sicher, nichts übersehen zu haben. «Dann hatte er sich das Foto noch einmal vorgenommen und es rasend schnell überflogen.»Siehst du? Siehst du hier? Dieses Wort ist ganz unmißverständlich. Und dieser kurze Satz hier. «Er hatte etwas in einer hartklingenden, fremden Sprache gemurmelt.»Es besteht kein Zweifel daran, was es besagt. Und es bedeutet auch, daß Weatherby mit seiner Schätzung fast zweihundert Jahre daneben lag, Angie!«Dann hatte er ihr über das außergewöhnliche geschichtliche Ereignis der Zerstörung der Stadt Jerusalem berichtet, bei der fast alle Bewohner infolge der Belagerung durch die römischen Streitkräfte den Tod gefunden hatten. Die Juden hatten sich schon jahrelang gegen die römische Herrschaft aufgelehnt. Es war häufig vorgekommen, daß Rebellen und Aufwiegler gekreuzigt worden waren. Und als schließlich ein Aufstand ausbrach, den die Geschichtsschreiber als ersten jüdischen Krieg bezeichnen, kostete es Rom fast fünf blutige Jahre, um ihn zu beenden.

«Siehst du, wir glauben, die Schriftrollen vom Toten Meer wurden in jene Höhlen gebracht, weil stets Gefahr von römischen Soldaten drohte. Die Essener-Mönche, die die Tonkrüge mit den Schriftrollen versteckten, rechneten damit, eines Tages zurückzukommen und sie zu holen. Die Masada-Handschriften wurden inmitten eines Ruinenfelds gefunden, das von der Zerstörung durch römische Legionen zeugt. Die Römer brannten die Festung nieder, nachdem sie sie eingenommen hatten. Und die Briefe von Simon Bar Kochba, dem letzten Führer des jüdischen Aufstandes, im Jahr einhundertfünfunddreißig nach unserer Zeitrechnung, wurden nach dem endgültigen und totalen Sieg über die jüdischen Patrioten in den Höhlen der Wüste Juda verborgen. Und jetzt gelangen wir zu David Ben Jona, der wegen des Einzugs der römischen Truppen nach Magdala flieht. Siehst du, wie alles zusammenpaßt?«

Angie hatte genickt und ein Gähnen unterdrückt. Dann hatte Ben weitererzählt, wie die Vernichtung Jerusalems den Staat Israel für Jahrhunderte ausgelöscht hatte.»Bis 1948. So lange brauchten sie, um das Land zurückzubekommen, um dessen Besitz sie neunzehnhundert Jahre vorher so verzweifelt gekämpft hatten. «Später war Ben in einen tiefen Schlaf gesunken, aus dem er sich durch nichts hatte wachrütteln lassen. Angie hatte am Morgen in der Universität angerufen und Bens Unterricht abgesagt, und am Nachmittag hatten sie beide an Weatherby nach Galiläa telegraphiert. Am Freitagmorgen war Ben schon viel ruhiger und wesentlich ausgeglichener gewesen und konnte die Ereignisse aus einem anderen Blickwinkel betrachten. Er hatte wie gewöhnlich seine beiden Freitagsstunden gegeben und für drei seiner Studenten sogar Sprechstunden abgehalten.

Darüber dachte er jetzt nach, als er zu Hause saß. Angie war bei ihm und hatte ihren kühlen Arm um seinen Nacken gelegt, während sie ihm mit den Fingern durchs Haar fuhr. Zunächst hatten ihn zwei Studenten aus seinem Kurs» Deutung hebräischer Manuskripte «sprechen wollen, doch als dritte war Judy Golden zu ihm gekommen, und über diese Begegnung dachte er nun nach.»Ich möchte das Thema meiner Seminararbeit ändern, Dr. Messer. «Sie war auf dem Stuhl ihm gegenüber in seinem winzigen Büro gesessen und hatte einen ganzen Stapel Bücher in den Armen gehalten. Ihr glänzendes schwarzes Haar hing ihr lose über die Schultern und rahmte ihr ungewöhnlich blasses Gesicht ein.

Als sie sprach, war es Ben aufgefallen, wie verschieden sie doch von Angie war. Dann war es ihm seltsam vorgekommen, daß er daran dachte.

«Wird das nicht schwierig für Sie? Ich denke, daß Sie die Materialsuche abgeschlossen haben und die Gliederung bereits feststeht.«

«Das ist richtig. Aber ich habe das Interesse an dem Thema verloren.

Na ja.«, sie blickte ihn unverwandt an,»nicht direkt das Interesse verloren. Nur war es so, daß mich etwas anderes mehr zu interessieren begann. Ich weiß, wie sehr Sie es mißbilligen, wenn man mitten im Semester das Thema wechselt, aber ich denke, ich könnte ein anderes Sachgebiet besser bearbeiten.«

Ben hatte nach seiner Pfeife gegriffen.»Macht es Ihnen etwas aus, wenn ich rauche?«

Judy schüttelte den Kopf. Eigentlich störte es sie. Sie haßte es wie die Pest, wenn ihr jemand Rauch ins Gesicht blies. Doch schließlich war dies sein Büro, und sie wollte ihn um einen

Gefallen bitten. Ben machte wie üblich aus dem Anzünden seiner Pfeife ein langes Ritual und verbrachte die nächsten ein oder zwei Minuten schweigend damit. Als er endlich fertig war und sie durch eine graue Wand aus Tabakrauch anblickte, meinte er:»Ich sollte Ihnen eigentlich von einem solchen Schritt abraten, doch offensichtlich sind Sie mit einem anderen Thema glücklicher, und Ihre Zeugnisse zeigen, daß Sie eine gute Studentin sind. Ich werde mir also Ihr neues Thema notieren. «Er öffnete seinen schäbigen AllerweltsKarteikasten, nahm eine Karte heraus, strich etwas durch und hielt dann den Kugelschreiber bereit. Erwartungsvoll hob er die Augenbrauen.

«Der neue Titel soll lauten: >Das Hebräische des Eleasar Ben Jehuda<.«

Ben schrieb es auf, steckte die Karte zurück und zog an seiner Pfeife.»Es scheint kein leichtes Thema zu sein, obwohl es gut zum Unterrichtsstoff paßt. Aber was gefällt Ihnen nicht an Ihrem ersten Thema, >Die Sprache der Aschkenasim<?«

«Es war zu eng und schränkte mich zu sehr ein. Und vielleicht war es auch nicht so gut auf das Thema des Unterrichts anwendbar. Was Ben Jehuda für das Hebräische tat, kann man heute im israelischen Rundfunk hören und in Zeitungen aus Tel Aviv nachlesen.«

«Es scheint eine sehr anspruchsvolle Arbeit zu sein. Werden Sie überhaupt so viel Zeit haben?«Judy grinste.»Mehr als genug.«

Ben paffte gedankenverloren an seiner Pfeife.»Worüber wollen Sie Ihre Magisterarbeit schreiben?«

«Nun, das steht für mich schon fest. Ich habe mich schon immer für besondere religiöse Gruppen interessiert, die sich dem Einfluß bedeutender historischer und religiöser Strömungen entzogen.«

«Wie die Samaritaner?«

«Ja genau, nur dachte ich daran, mich mit den Kopten, der christlichen Kirche Ägyptens, zu befassen. Vielleicht mit ihren Ursprüngen.«

«Tatsächlich? Irgendwie dachte ich, Sie würden sich etwas aussuchen, was näher mit Ihrer Heimat verbunden ist.«

«Warum? Für was halten Sie mich eigentlich, Dr. Messer, für eine strenggläubige Jüdin?«

Ben starrte sie eine Sekunde lang an, dann warf er seinen Kopf zurück und lachte. Seltsamerweise entsprach dies genau seinem Eindruck von Judy Golden — der Tochter Israels, der glühenden Zionistin.»Ich bin nicht einmal eine orthodoxe Jüdin«, fügte sie belustigt hinzu.»Tut mir leid, Sie zu enttäuschen. Ich koche am Sabbat.«

«Ach wirklich?«Er rief sich die samstäglichen Rituale und Beschränkungen ins Gedächtnis zurück. Heute konnte er darüber lächeln. Schon seit langem hatte er nicht mehr an diese so lange zurückliegenden trostlosen Sabbate gedacht. Und seltsam genug, jetzt, da er vor Judy Golden saß, wurde ihm erst bewußt, daß ihm die Worte» ich bin Jude «seit dreiundzwanzig Jahren wieder zum ersten Mal über die Lippen gekommen waren, als er sich vor zwei Tagen mit ihr unterhalten hatte. Damals hatte es ihn nicht überrascht, doch jetzt, in der Gegenwart dieses Mädchens, verwirrte es ihn.»Die Kopten sind eine interessante Gruppe«, hörte er sich selbst sagen.»Sie führen ihre Kirche auf den heiligen Markus zurück und haben dem gewaltigen Druck des Islam bis heute standgehalten. Ihr Museum im Süden Kairos ist ganz einzigartig.«

«Das kann ich mir vorstellen.«

Seine Pfeife ging langsam aus. Daher klopfte er sie in dem billigen Glasaschenbecher auf seinem Schreibtisch aus.»Zufällig bin ich übrigens gerade dabei, einen erst kürzlich gefundenen Kodex aus der Gegend von Alexandria zu übersetzen. Man hat ihn in einem alten, verlassenen Kloster entdeckt, das wohl im sechzehnten oder siebzehnten Jahrhundert zum letzten Mal bewohnt war.«

«Wirklich?«

«Ich werde Ihnen diesen Kodex gerne einmal zeigen.«

«Oh, das wäre einfach.«

«Ich versuche, daran zu denken, ihn mitzubringen. Vielleicht nächste Woche. «Er schielte auf seine Armbanduhr. Um diese Zeit war die Post sicher schon da gewesen. Er wollte nach Hause. Es könnte ja etwas von Weatherby dabeisein, vielleicht eine weitere Schriftrolle.»Es ist nicht das Original, verstehen Sie, aber eine qualitativ gute Fotoablichtung. Die Urschrift wird in Kairo aufbewahrt. Wenn Sie mich jetzt entschuldigen.«