Ben seufzte und war schon drauf und dran nachzugeben, als sein Blick erneut den Namen Maria oben auf der Schriftrolle erhaschte.»Wirklich, Angie, ich kann nicht. Ich habe es Weatherby versprochen.«
«Und was ist mit Joe Randall?«Natürlich. Er hatte den Kodex vergessen.
«Und was ist mit mir?«Ihre Stimme klang zart, unwiderstehlich.»Hast du nicht auch mir ein Versprechen gegeben? Ben, du bist den ganzen Tag über an der Uni, und abends übersetzt du. Was bleibt da noch für uns übrig?«
«Es tut mir leid«, wiederholte er kraftlos.»Wirst du noch lange brauchen?«
«Das läßt sich schwer sagen. Wahrscheinlich nicht. Soll ich hinterher zu dir kommen?«
«Das wäre schön. Die Uhrzeit spielt keine Rolle. Brauchst nicht zu hetzen. Ich weiß, wie wichtig die Manuskripte sind. Alles klar?«
«Alles klar. Bis später.«
Er wandte sich dem zweiten Fotoabzug zu. Die erste Zeile lautete: Maria und Sarah und Rahel und Ruth waren meine Schwestern. Die nächsten beiden Abzüge waren im Handumdrehen übersetzt, denn es handelte sich dabei nur um Namenslisten und Familienstammbäume. Drei von Davids Schwestern waren verheiratet und lebten in verschiedenen Teilen von Syria-Palästina. Eine war im Alter von zwölf Jahren an einem Blutsturz gestorben. Seine vier Brüder, allesamt älter, hießen: Moses, Saul, Simon und Judas, in dieser Reihenfolge. Die drei ältesten hatten geheiratet und waren in Magdala geblieben. Judas, der jüngste, war in einem der vielen unberechenbaren Stürme auf dem See ums Leben gekommen.
Wir waren keine arme Familie und dankten Gott jeden Tag für seine Gaben und Segnungen. Mein Vater war ein frommer Mann und befolgte das göttliche Gesetz, wie die besten Juden es tun. Er ging in die Synagoge, um mit den Gelehrten zu sprechen, und las jeden Tag in den heiligen Schriften. Er war kein weltlich gesinnter Mann und lebte nach einer grundlegenden Wahrheit, die besagte:»Denn der Herr behütet den Weg der Gerechten, doch der Weg der Sünder führt in den Abgrund.«
Bens Herz zuckte leicht zusammen. Diese letzten Worte — die er nicht so oft gelesen hatte, wie er sie gehört hatte — klangen für ihn so vertraut, daß er sich im Stuhl zurücklehnen mußte.»Das kann doch wohl nicht wahr sein«, murmelte er ungläubig. Wie lange war es her? Wie viele Jahre waren vergangen, seit er genau diesen Satz zum letzten Mal gehört hatte, diesen Satz, den man ihm immer und immer wieder vorgesagt hatte, so daß er zum ständigen Begleiter seiner Kindheit geworden war? Die Tatsache, daß die Worte nun, nach so vielen Jahren, wieder aus den dunkelsten Winkeln seiner Erinnerung zu ihm drangen, trieb ihm die Tränen in die Augen. Und eine vertraute Stimme, eine, die er längst vergessen hatte, klang nun seltsam fern und doch nahe zugleich an sein Ohr:»Benjy, erinnere dich immer daran, was dein Vater dich gelehrt hat, daß Gott den Weg der Gerechten behütet, und daß der Weg der Sünder in den Abgrund führt.«
Das Lieblingszitat seines Vaters, das dem ersten Psalm entstammte, war den meisten Leuten nicht geläufig. Für Ben aber war es eines der vertrautesten Leitmotive seiner Kindheit gewesen, denn seine Mutter hatte es mindestens einmal am Tag wiederholt. Es war die Grundphilosophie seines Vaters gewesen, und Rosa Messer hatte dafür gesorgt, daß ihr Sohn sich diesen Satz einprägte. Nur daß Ben seit über zwanzig Jahren nicht einen Gedanken an diese Worte verschwendet hatte! Bis jetzt.
Ben Messer blickte mit halb zugekniffenen Augen auf das aramäische Schriftstück, und eine bittersüße Wehmut überkam ihn. Wie erschütternd, gerade jetzt auf genau diese Worte zu stoßen! Wie sonderbar, daß dieser seit Jahrhunderten tote Jude sie nun zu ihm sprach und Erinnerungen an längst vergangene Zeiten in ihm weckte.
Zwei Jonas, der eine war vor zweitausend, der andere vor dreißig Jahren gestorben, und beide hatten sie nach derselben Philosophie gelebt, nach derselben düsteren Warnung aus den Psalmen. Ben starrte eine Weile vor sich hin und dachte an die lange begrabene Erinnerung, die David zufällig ans Tageslicht gebracht hatte. Ben durchlebte sie nur für einen Augenblick, wandte sich dann aber von ihr ab und drängte die Vergangenheit in den Schatten zurück. Ben lächelte wehmütig. Die Erschütterung hatte ihn aus dem Gleichgewicht gebracht und ihn für einen Moment die Arbeit vergessen lassen, die vor ihm lag. Eine Sekunde lang war er das hilflose Opfer von Davids Macht gewesen, der Macht, das Vergangene zurückzubringen. Jetzt schüttelte er den Kopf und zwang sich, die Übersetzung wiederaufzunehmen.
Einmal nahm er uns alle mit nach Jerusalem zum Passahfest, und obwohl er beim Anblick des Tempels und beim Erklingen des Widderhorns Tränen in den Augen hatte, war er doch froh, zu seinem einfachen Leben am Seeufer zurückzukehren. Die Tage meiner Kindheit verliefen unbeschwert und ruhig und wurden nur einmal erschüttert, als ich neun Jahre alt war. Bei demselben Bootsunglück auf dem See, bei dem mein Bruder Judas ums Leben gekommen war, hatte ich mir das Bein gebrochen. Und obgleich es rasch heilte, blieb mir davon ein hinkender Gang zurück, der bis zum heutigen Tag nicht von mir gewichen ist. Als meine Brüder zu Männern herangewachsen waren, traten sie in die Fußstapfen unseres Vaters und wurden Fischer. Nur ich bildete die Ausnahme. Ich glaube, mein Vater hatte sein ganzes Leben lang etwas anderes mit mir, seinem jüngsten Sohn, vorgehabt. Ich ertappte ihn oft dabei, wie er mich bei verschiedenen Gelegenheiten mit einem seltsamen Gesichtsausdruck ansah. Und ich nehme an, daß ich aus diesen nur ihm bekannten Gründen im Alter von dreizehn Jahren von Magdala weggeschickt wurde, um in Jerusalem zu Füßen der Gelehrten zu studieren. Und dies, mein Sohn, ist der Zeitpunkt, an dem alles begann.
Kapitel Vier
Ein lautes, lästiges Klopfen drang an sein Ohr. Er bewegte seinen Kopf vorsichtig hin und her und merkte, daß er schrecklich schmerzte. Das Klopfen hielt noch eine kurze Weile an, dann hörte es auf, und es folgte ein rasselndes, klirrendes Geräusch. Ben stöhnte. Er fühlte sich elend.
Dann vernahm er das Klappen einer Tür. Leise Fußtritte näherten sich über den Teppich. Gleich darauf wurde er von einer Duftwolke eingehüllt, und eine sanfte Stimme fragte liebenswürdig:»Ben?«Er stöhnte lauter.
«Ben, Liebling! Fühlst du dich nicht wohl?«
Mühsam schlug er die Augen auf und erblickte Angie, die besorgt und liebevoll an seiner Seite kniete. Er versuchte zu sprechen, aber sein Mund fühlte sich trocken und pelzig an. Dann fragte er sich, warum er auf der Couch lag und warum sein Kopf wie rasend schmerzte.»Ich klopfte und klopfte und benutzte schließlich meinen eigenen Schlüssel. Ben, was ist los? Warum schläfst du in deinen Kleidern?«
Das erste, was er herausbrachte, war:»Hm?«, dann:»O Gott. «und schließlich:»Wieviel Uhr?«
«Es ist fast Mittag. Ich hab immer wieder versucht anzurufen, aber du hast nicht abgenommen. Bist du krank?«
Er sah sie nochmals wie durch einen Nebelschleier an, dann wurde sein Blick schärfer, und er rief aus:»Fast Mittag! O nein!«Mit einem Ruck saß er kerzengerade da.»Mein Unterricht!«
«Professor Cox rief mich heute morgen an und wollte wissen, wo du seist. Ich sagte ihm, daß du furchtbar krank bist und im
Bett liegst. Nun sehe ich, daß ich damit gar nicht so weit von der Wahrheit entfernt war. Was ist geschehen?«
«Ich hatte für sie einen Text fix und fertig vorbereitet.«
«Er hat die Stunde ausfallen lassen. Ist schon in Ordnung.«
«Aber ich habe sie auch letzten Donnerstag verpaßt. Ich muß mich wirklich zusammenreißen. «Er schwang seine Füße über den Couchrand und faßte sich mit beiden Händen an den Kopf.»Menschenskind, fühl ich mich hundeelend! Machst du mir einen Kaffee?«
«Aber klar doch. «Der Blumenduft verflog, als Angie in die Küche ging.»Was ist dir denn passiert, Schatz?«
«Ich habe letzte Nacht die ganze Rolle übersetzt und dann. und dann. «Ben rieb sich die Augen. Und dann was? Was stimmte nicht mit ihm? Warum konnte er sich nicht daran erinnern, was passiert war, nachdem er die Rolle beendet hatte? Warum gab es für die Stunden zwischen dem Übersetzen der Rolle und dem Moment, als Angie ihn auf der Couch gefunden hatte, einen weißen Fleck in seinem Gedächtnis?» Gott.«, murmelte er.»Ich fühle mich schrecklich. Was um alles in der Welt ist gestern denn in mich gefahren?«Und zu Angie gewandt, meinte er lauter:»Ich muß wohl todmüde gewesen sein, schätze ich.«
Dann ging er ins Badezimmer, wo er kalt duschte. Nachdem er sich frische Sachen angezogen hatte, fühlte er sich etwas besser, doch der seltsame Gedächtnisverlust beschäftigte ihn die ganze Zeit. Er erinnerte sich nur an den unheimlichen Zwang, der ihn trotz seiner extremen Müdigkeit genötigt hatte, weiterzuarbeiten, bis er sich vor Erschöpfung auf die Couch gelegt hatte und eingeschlafen war. Angie saß am Frühstückstisch vor dem dampfenden Kaffee, der schon eingeschenkt war, und beobachtete ihn, als er auf sie zuging.»Tut mir leid, daß ich dir Sorgen gemacht habe, Angie. Gewöhnlich schlafe ich nicht so fest.«
«Das weiß ich. Hier, trink ihn schwarz. Sag mal, Ben, warum hast du gerade eben gehinkt? Hast du dich am Bein verletzt?«Er blickte sie leicht verwundert an.»Warum, Angie, ich habe doch immer gehinkt. Das wußtest du doch. «Seine Miene verfinsterte sich.»Seit jenem Bootsunglück auf dem See.«
Sie starrte ihn einen Moment fassungslos an, zuckte dann die Achseln und meinte:»Wie dem auch sei, ich habe eine großartige Idee. Laß uns eine Fahrt die Küste entlang machen. Ich habe heute keinen Termin, und es ist ein herrlicher Tag.«
Unwillkürlich wandte er seinen Kopf dem Schreibtisch zu, wo die Arbeit der letzten Nacht lag, als hätte ein Orkan darin gewütet. Wieder kamen ihm Erinnerungen an die unheimliche Stimmung, die ihn während des Übersetzens überwältigt hatte. Das unerwartete Echo der Stimme seiner Mutter, die Worte sprach, die ihm einst so vertraut gewesen waren, die er aber schon lange vergessen hatte. Jonas’ Lebensmotto: der erste Psalm.»Das finde ich nicht.«
«Ich bin gestern nacht bis um zwei Uhr aufgeblieben und habe auf dich gewartet.«
Er antwortete nicht und starrte unverwandt auf seinen Schreibtisch. Angie streichelte seine Hände mit ihren langen, kühlen Fingern.»Du arbeitest zu hart. Komm schon, laß uns einen Ausflug machen. Das hat dir doch immer gefallen. Es entspannt dich.«
«Nicht heute. Ich will mich nicht entspannen. «Ben warf einen raschen Blick auf die Uhr.»In zwei Stunden kommt die Post. Ich will dann hier sein.«
«Wir werden rechtzeitig zurück sein.«
«Angie«, erwiderte er, wobei er aufstand und den Kaffee unberührt stehen ließ,»du verstehst das nicht. Ich kann im Moment nicht von meiner Arbeit fort.«
«Warum nicht? Hast du nicht gesagt, du hättest es fertigübersetzt?«
«Ja schon, aber. «Aber was? Was konnte er ihr erzählen? Wie konnte er ihr diesen plötzlichen Zwang erklären, bei den Schriftrollen zu verharren, Davids Worte immer und immer wieder zu lesen, und dazu die wachsende Spannung, mit der er die nächste Schriftrolle erwartete.»Es ist nur, daß.«
«Los, Ben, komm schon.«
«Nein, du verstehst nicht.«
«Nun, dann sag es mir doch, vielleicht verstehe ich hinterher.«
«Ach, komm, Angie! Du hast mich ja nicht einmal gefragt, was in der zweiten Rolle stand! Himmel, so etwas Phantastisches, und du interessierst dich nicht einmal dafür!«Sie starrte ihn verblüfft an und schwieg.
Ben bereute es sofort. Er steckte seine Hände in die Hosentaschen und blickte zerknirscht zu Boden.»O Angie«, stammelte er. Sofort war sie auf den Beinen und schlang ihre Arme um ihn. Er erwiderte die Umarmung, und sie standen eine Weile so da.»Ist schon gut«, murmelte sie sanft,»ist schon gut. Ich kann es eben nicht verstehen.«
Ihr Körper, der sich an ihn drängte, überbrachte ihm die Botschaft deutlicher als ihre Worte. Ben küßte ihren Mund, ihre Wangen und ihren Hals hastig und heftig, als ob er Angie aus Verzweiflung liebte. Er drückte sie so fest an sich, daß sie nicht mehr atmen konnte, und verhielt sich wie ein Mann, der von blinden Bedürfnissen getrieben wird.
Plötzlich und wie zum Spott klingelte das Telefon.»Verdammt«, brummte Ben.»Rühr dich nicht von der Stelle, Angie. Wer immer es ist, ich werde ihn schon los.«
Sie lächelte verträumt und schlenderte zur Couch, wo sie sich hinlegte. Sie schleuderte ihre Schuhe von sich und begann, sich das Kleid aufzuknöpfen.
Es war eine schlechte Überseeverbindung mit vielen Störgeräuschen in der Leitung, doch die Stimme am anderen Ende war ganz unverkennbar die von John Weatherby.
«Ich kann dir gar nicht beschreiben, was für eine Aufregung dein Telegramm im Lager auslöste!«brüllte er in die Leitung.»Drei Stunden nach deiner Nachricht traf ein Telegramm von Dave Marshall aus London ein. Wir stimmen alle überein, Ben. Das Jahr siebzig! Wir köpften eine Flasche Sekt und feierten! Du hast das hoffentlich auch getan. Hör zu, Ben, ich habe eine große Neuigkeit für dich. Wir haben vier weitere Tonkrüge gefunden!«
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