Quin hörte höflich zu. «Und was ist aus dem Star geworden?» fragte er, als sie zum Ende gekommen war.
«Er ist gestorben.»
«Kein Wunder», meinte Quin.
«Wieso?»
«Nun, Stare sind nun einmal keine Käfigvögel. Aber vielleicht wußte Mozart das nicht.»
«Mozart wußte alles», gab sie mit blitzenden Augen zurück.
Quin lächelte nur und ließ sie allein. Sie zog sich einen zweiten Pullover über und machte sich auf den Weg zum Deck. Als sie aus dem Salon erster Klasse trat, bemerkte sie zwei in Pelze gehüllte Damen, die es sich auf Deck in Liegestühlen bequem gemacht hatten.
«War das nicht Quinton Somerville?» fragte die eine.
«Ich bin ziemlich sicher, daß er es war. Dieses markante Gesicht – unverkennbar. Ein gutaussehender Mann. Ich habe ihn schon auf dem Bahnsteig gesehen. In Begleitung eines jungen Mädchens – so ein unbedarftes junges Ding im Lodenmantel.»
«Ach, du lieber Gott! Sollte das etwas Ernstes sein?»
«Das kann ich mir nicht vorstellen. Sie war gar nicht sein Stil. Viel zu schlicht.»
Ein Steward kam vorbei, und die beiden Damen verlangten Wolldecken.
«Wenn es tatsächlich etwas Ernstes sein sollte, wird das die arme Lavinia völlig niederschmettern. Sie hofft immer noch, ihn für Fenella zu angeln.»
«Das kann ich verstehen. Bei dem vielen Geld und Ruth wich zurück und ging durch eine andere Tür hinaus. Quin stand vorn am Bug und starrte ins Wasser. Ich habe natürlich gewußt, daß er reich ist, dachte sie. Und daß die Welt voller Fenellas ist, die ihn heiraten wollen, kann ich mir gut vorstellen. Meinen Segen haben sie – ein Mann, der über Mozart spottet und vor Strauß davonläuft, kann mir gestohlen bleiben.
«Nach der Landung werden wir uns wohl nicht wiedersehen», sagte sie entschlossen.
«Ich möchte Sie gern noch nach Belsize Park bringen, damit ich sicher sein kann, daß Sie wohlbehalten hei Ihrer Familie ankommen. Aber danach – da haben Sie recht – wird es das beste sein, wenn sich unsere Wege trennen. Sollten Sie irgend etwas brauchen, wenden Sie sich einfach an meinen Anwalt – nicht nur wegen der Scheidung, sondern auch, wenn Sie sonst Hilfe brauchen. Er ist ein alter Freund von mir.»
Natürlich, dachte sie. Von jetzt an läuft alles über den Anwalt.
«Ich schulde Ihnen so viel», sagte sie. «Nicht nur, daß Sie mich herausgeholt haben. Ich schulde Ihnen auch Geld. Eine Menge Geld. Ich muß es Ihnen so schnell wie möglich zurückzahlen.»
«Ja, tun Sie das», sagte er, und sie sah ihn erstaunt an. Seine Stimme klang schroff und kühl, und das hatte sie nicht erwartet. Die ganze Zeit war er doch so zugewandt gewesen, so generös. «Sie wissen wohl, was das heißt?»
«Daß ich mir Arbeit suchen muß und ...»
«Genau das heißt es nicht. Das wäre das Dümmste, was Sie jetzt tun könnten – sich irgendeine mindere Arbeit zu suchen, nur um schnell Geld zu verdienen. Ich kann mir Sie als Verkäuferin oder Kellnerin richtig vorstellen. Das einzig Vernünftige für Sie ist es, unverzüglich Ihr Studium fortzusetzen. Wenn das University College Ihnen einen Studienplatz angeboten hat, sollten Sie zupacken. Eine bessere Chance werden Sie nicht bekommen. Es gibt ja mittlerweile alle möglichen Stipendien für Leute in Ihrer Lage; die Welt merkt langsam, was in Deutschland und seinen Nachbarländern vorgeht. Wenn Sie dann Ihren Abschluß haben, können Sie sich eine anständige Stellung suchen und mir nach und nach das Geld zurückzahlen.»
Sie schien sich das durch den Kopf gehen zu lassen, aber ihm fiel auf, daß sie nichts versprach. In der Befürchtung, daß sie sich wieder irgendwelche Verrücktheiten einfallen lassen würde, runzelte er die Stirn – und Ruth, die das Stirnrunzeln sah, fiel noch etwas ein, das sie von ihm bekommen hatte.
«Was ist mit dem Ring?» fragte sie. «Was soll ich mit ihm tun?»
«Was Sie wollen», antwortete er gleichgültig. «Sie können ihn verkaufen oder versetzen oder behalten.»
Sie sah auf ihre Hand hinunter. «Auf jeden Fall ist es besser, ich ziehe ihn aus, ehe meine Eltern Fragen stellen. Oder Heini, falls er schon da ist.»
Sie zog an dem Ring, drehte ihn, zog wieder. «Er sitzt fest», sagte sie verblüfft.
«Unmöglich», meinte er. «Er hat sich so leicht aufstecken lassen.»
«Aber er sitzt trotzdem fest», versetzte sie, plötzlich zornig. «Vielleicht haben Sie warme Hände.»
«Unsinn! Es ist eiskalt hier draußen.» Es stimmte. Sie hatten den Hafen hinter sich gelassen, und der Wind war bitterkalt.
Er legte leicht eine Hand auf die ihre. «Nein, sie sind wirklich kühl. Hm, versuchen Sie es einmal mit Seife.»
Ohne Antwort drehte sie sich um und lief mit wehenden Haaren davon. Sie blieb ziemlich lange weg, und als sie zurückkam und ihre Hand wieder auf die Reling legte, sah er erstaunt ihren Ringfinger. Er war nicht nur gerötet, er sah geschunden aus, wie durch die Mangel gedreht.
«Du lieber Gott», sagte er. «War es so schlimm?»
Sie nickte, immer noch sichtlich erregt. Er spürte, daß sie sich in ihre alttestamentarische Welt der Omen und Verwünschungen zurückgezogen hatte, und ließ sie in Ruhe.
Erst als England vor ihnen auftauchte, sagte er: «Schauen Sie! Da sind sie!»
Und da waren sie in der Tat: die weißen Felsen von Dover, vielbesungenes Symbol der Freiheit. Weit weniger eindrucksvoll, als der Ausländer erwartet; nicht sehr hoch und nicht sehr weiß, und dennoch war Quin, der sich oft genug über diese Felsformation der Kreidezeit, die sich durch nichts auszeichnete, lustig gemacht hatte, in diesem Moment wirklich ergriffen. Nach den Schrecknissen, die er auf dem Kontinent zurückgelassen hatte, war er so froh und dankbar, wieder zu Hause zu sein, wie er sich das niemals vorgestellt hatte.
9
Die Bergers waren gerade zwei Wochen in England, als Hilda ihre Stellung verlor. Sie war auf eine Trittleiter gestiegen, um die Nippessachen auf Mrs. Manfreds Bücherschrank abzustauben, und da war der Bücherschrank umgekippt und hatte sie unter sich begraben. Es war der einzige im Haus, da Mrs. Manfred vom Lesen nicht viel hielt, aber er hatte Glastüren, und ein Splitter hatte den Hund getroffen.
Keinen wunderte es, und keiner machte Mrs. Manfred einen Vorwurf, aber Hilda nahm die Sache schwer und blieb im Bett. Mit Zinkpflaster bedeckt, schrieb sie Briefe an die Verwaltungsbehörde von Betschuanaland und erkundigte sich nach den Mi-Mi, aber sie schickte die Briefe nicht ab, weil sie kein Geld für Briefmarken hatte, und Leonie aussah, als würde sie umfallen, wenn man auch nur die kleinste Kleinigkeit von ihr verlangte.
Onkel Mishak machte es sich, als die Tage vergingen und Ruth nicht kam, zur Gewohnheit, bei Tagesanbruch aufzustehen und durch die Stadt zu wandern. Im bedächtigen Schritt des Landmanns legte er weite Strecken zurück, und er wußte, daß es leichtsinnig war, denn in ein, zwei Monaten würden die Sohlen seiner Schuhe durchgelaufen sein; aber er mußte einfach ins Freie hinaus.
Er fürchtete um Ruth. Undenkbares konnte ihr in dieser Schrekkenswelt widerfahren, zu der seine Heimat geworden war. Mishak hatte eigentlich nicht in die Rauhensteingasse ziehen wollen, als Marianne gestorben war. Er hatte in dem Haus bleiben wollen, das er seiner Frau an den Hängen des Wienerwalds gebaut hatte. Er war nur in die Rauhensteingasse gekommen, um Leonie für ihr freundliches Angebot zu danken und abzulehnen. Aber Leonie war nicht zu Hause gewesen. Die sechsjährige, gerade frisch gebadete Ruth hatte ihn empfangen, ihm die Arme um den Hals geschlungen und gerufen: «Ich freue mich ja so, daß du zu uns ziehst! Wirst du mit mir in den Prater gehen? Ich meine, in den Wurstelprater, nicht den andern, wo die gesunde frische Luft ist. Und fahren wir auch nach Schönbrunn und schauen uns die Lamas an? Inge hat gesagt, sie spucken und machen einen ganz naß. Und wenn wir auf den Kahlenberg fahren, dann erlaubst du mir doch, daß ich mich aus dem Fenster lehne, und hältst mich nicht an den Beinen fest?»
Dieser gesunde Egoismus eines sorglosen Kindes, das die Welt als aufregendes Abenteuer sah, bewegte ihn tief. Ruths Freude über sein Kommen hatte mit Mitleid nichts zu tun; sie wollte ihn für ihre eigenen Zwecke dahaben. Mishak hatte sich umstimmen lassen und war in die Rauhensteingasse gezogen. Sie hatten sich zusammen die Lamas angesehen und vieles mehr ...
Hier jetzt, auf einer Bank in Kensington Gardens, wo er den Kindern beim Spielen zusah, wurde sich dieser stille alte Mann, der um jeden Maulwurfshügel herumging, um nicht etwa einen der kleinen Bewohner zu treten, bewußt, daß er bedenkenlos jeden töten würde, der seiner Nichte etwas zuleide tat.
Kurt Berger sprach kaum über seine vermißte Tochter. Er ging jeden Morgen zum Bloomsbury House, er arbeitete jeden Nachmittag in der Bibliothek, aber niemand hätte ihn jetzt mehr für einen Mann von 58 Jahren gehalten. Eines Morgens schließlich nahm er einen Bus zur Halrey Street, wo sein Bürge, Dr. Friedlander, seine Praxis hatte.
«Ich gehe nach Wien zurück», sagte er. «Ich muß Ruth finden. Aber du mußt mir das Reisegeld leihen.»
Keiner wußte, was es ihn kostete, um Geld zu bitten. Seit ihrer Ankunft in England hatten die Bergers trotz häufiger Hilfsangebote keinen Penny von ihrem Bürgen angenommen.
«Das Geld kannst du jederzeit haben», sagte Friedlander. «Ich leihe es dir oder ich schenke es dir, ganz wie du willst. Die armen Engländer sind so froh und dankbar, wenn man ihnen nicht gleich sämtliche Zähne zieht, sobald sie sich hier auf den Stuhl setzen, daß ich mich über Patientenmangel nicht beklagen kann. Aber du bist verrückt, Kurt. Die werden dich nicht wieder hinauslassen, und was soll dann aus Leonie werden? Glaubst du denn, Ruth wäre mit dem, was du vorhast, einverstanden?»
«Ich kann es nicht ändern. Ich kann einfach nicht länger untätig hier herumsitzen und warten», entgegnete Berger.
«Hast du Leonie schon gesagt, daß du zurück willst?»
«Nein. Am Donnerstag kommt ein großer Studententransport. Den will ich noch abwarten ...»
Leonie bemühte sich derweilen weiterhin um Güte und Langmut. Sie bot der Psychoanalytikerin aus Breslau, einer finsteren, dunkelhaarigen Person, an, ihr beim Kochen zu helfen, weil sie hoffte, so die Geruchsentwicklung der angefaulten Gemüse, von denen Fräulein Lutzenholler sich ernährte, in annehmbaren Grenzen halten zu können. Sie holte bei Paul Ziller, der drei Häuser weiter wohnte, seine Hemden ab, um sie ihm zu waschen und zu bügeln. Sie besuchte Emigranten in den weiter außerhalb liegenden Vororten. Aber am Ende der zweiten Woche erhob ihr Körper ersten Protest. Sie bekam Schwindelanfälle; sie wurde so dünn, daß ihr der Rock über die Hüften zu rutschen drohte. Und – was weit erschreckender war – es fiel ihr immer schwerer, gut zu sein. Soundsooft hatte sie gute Lust, den Leuten eins überzuziehen, und Miss Bates hätte sie am liebsten mit ihrer ewig tropfenden Unterwäsche erdrosselt. Doch wenn sie es nicht mehr schaffen sollte, gut zu sein, würde die fragile Verbindung zu einer gütigen Vorsehung reißen, und ihre Tochter würde in den Abgrund stürzen.
Mrs. Burtt, die in der Spülküche des Tea-Rooms Willow Geschirr trocknete, war schlechter Laune. Sie hatte für Juden, Zigeuner und Zeugen Jehovas an und für sich nicht viel übrig, und Kommunisten waren in ihren Augen sowieso nichts wert. Aber die Zeitungen hatten an diesem Morgen von noch mehr Gemeinheit und Scheußlichkeit als sonst zu berichten gewußt – daß man in Berlin und Wien die Menschen wie Vieh zusammentrieb; daß altgediente Professoren die Straßen mit Zahnbürsten schrubben mußten –, und obwohl sie keine Ahnung hatte, wo der Polnische Korridor war, und sich nicht sonderlich für das Schicksal der Menschen im Sudetenland interessierte, schien ihr, daß man nun doch etwas gegen diesen Hitler würde unternehmen müssen. Ein schrecklicher Gedanke, weil zu denen, die an einem solchen Unternehmen mitwirken würden, ihr neunzehnjähriger Sohn Trevor gehörte, der erst heute morgen erklärt hatte, er wolle am liebsten zur Air Force.
Auch die Gäste waren niedergeschlagen. Sie brauchte gar nicht nach vorn zu gehen, um das zu spüren. Sie unterhielten sich nicht wie sonst, sondern blätterten statt dessen stumm in den Zeitschriften, die Miss Maud und Miss Violet seit neuestem im Café auslegten.
Nun, vielleicht würden sie sich über den Guglhupf freuen, den Miss Maud gestern abend gebacken hatte. Er war wirklich eine Pracht geworden. Sobald Mrs. Berger kam, wollte Miss Violet ihn auftischen. Mrs. Berger sollte ihn anschneiden und das erste Stück probieren; das war das mindeste, was man für die arme Frau, die sich so um ihre Tochter sorgte, tun konnte.
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