Aber Mrs. Berger hatte sich an diesem Morgen verspätet.
Mrs. Burtt hatte recht. Es lag eine neue Hoffnungslosigkeit in der Luft. Alle wußten, daß Ruth auch mit dem neusten Studententransport nicht gekommen war und Professor Berger vorhatte, nach Wien zurückzukehren. Jetzt stand ihnen das gefürchtete lange Wochenende bevor, jene zwei Tage, in denen all die Organisationen und Einrichtungen, die ihnen helfen konnten, geschlossen waren, in denen selbst die Türen der Bibliotheken und Cafés, in denen sie während der Woche Zuflucht fanden, ihnen verschlossen blieben.
Paul Ziller, der vergeblich versuchte, sich in einen Artikel über das Schmieren von Feldgeschützen zu vertiefen, hatte wieder einmal von seinem zweiten Geiger geträumt, dem rundlichen, kraushaarigen Karl Biberstein, dessen fürchterliche Witze dem Quartett ständiger Anlaß zu stöhnendem Protest gewesen waren, der immerfort und immer erfolglos irgendeiner langbeinigen Blondine nachgestiegen war – und der nur seine Amati unters Kinn zu schieben brauchte, um zum Gott zu werden. Ziller trauerte seinem Cellisten nach, der jetzt bei einer Tanzkapelle in New York spielte; er trauerte seinem Bratschisten nach, der, rein arischer Abstammung, in Wien geblieben war; die Trauer um Biberstein jedoch war ganz anderer Art, denn Biberstein war tot. Als er die SS-Männer auf der Treppe zu seiner Wohnung im vierten Stockwerk gehört hatte, hatte er den Passanten unten auf der Straße zugerufen, sie sollten den Bürgersteig freimachen, und war gesprungen.
Dr. Levy spielte mit dem blonden Schauspieler vom Burgtheater Schach, doch es fiel ihm schwer, sich zu konzentrieren; er wußte jetzt mit Gewißheit, daß er seine medizinischen Prüfungen nicht noch einmal ablegen würde. Mit 42 war er zu alt, um noch einmal von vorn anzufangen – und selbst wenn er die Examen bestehen sollte, würde man zweifellos irgendeine andere Vorschrift finden, um ihn an der Ausübung seines Berufs zu hindern. Er konnte es den Ärzten hier nicht einmal zum Vorwurf machen. In Wien waren die Ärzte genauso repressiv gewesen, wenn es darum gegangen war, Emigranten aus dem Osten zuzulassen.
«Ich nehme Ihnen Ihren Springer», sagte er zu von Hofmann, der bisher weder «Schweinehund», noch sonst etwas in einem Film über den Weltkrieg hatte sagen dürfen. Die Schauspielergewerkschaft hatte ihr Veto eingelegt, und da es ganz danach aussah, als stünde ein neuer Krieg bevor, wollte sowieso kein Mensch Soldatenfilme sehen. Die Leute wollten Fred Astaire und Rita Hayworth und Deanna Durbin sehen; Ozeandampfer und schicke Wohnungen in Manhattan, die ganz in Weiß ausstaffiert waren – und wer sagte in so einer Umgebung schon «Schweinehund»?
Die Dame mit dem Pudel trat ein, und Mrs. Weiss mit ihrer dicken Börse aus Roßhaar war enttäuscht. Sie hatte gehofft, es käme jemand, den sie zu einem Stück Kuchen einladen und über ihre Schwiegertochter aufklären könnte, die sie heute morgen gezwungen hatte, ihr Schlafzimmerfenster zu öffnen, angeblich, weil das Zimmer dringend gelüftet werden müßte. Nie hatte Mrs. Weiss feuchte Luft in ein Zimmer gelassen, in dem sie schlief, das hatte sie Moira klipp und klar gesagt, und Georg (der jetzt George hieß), der die Partei seiner Mutter hätte ergreifen müssen, hatte sich klammheimlich davongemacht und war ins Büro gefahren.
An dem Tisch beim Garderobenständer saßen der Hamburger Bankier und seine Frau, schweigend, jeder in eine Zeitschrift vertieft. In Deutschland hatten sie gemeinsam mit Lisas Liebhaber eine glänzend funktionierende ménage à trois gebildet, aber der Liebhaber, ein Autohändler mit rein arischem Stammbaum, war in Deutschland geblieben, und so sehr der Bankier sich bemühte, ihn zu ersetzen, er wußte, daß sein Bemühen zum Scheitern verurteilt war. Die Wände ihres kleinen Zimmers waren dünn, das Bett war schmal – und hinterher seufzte sie jedesmal.
Da kam endlich Leonie Berger, und die Traurigkeit, die in ihnen allen war, richtete sich auf einen Brennpunkt. Es war gar nicht nötig zu fragen, ob es Neues gäbe. Diese Frau war eine Demeter, die alle Hoffnung, ihre Tochter aus der Unterwelt zu retten, aufgegeben hatte. Ruth war verloren wie Persephone, und in die Straßen Nord-West-Londons war der Winter eingefallen.
Begleitet von ihrem Mann und ihrem Onkel, ging Leonie zu ihrem Tisch und setzte sich. Niemand im Raum wagte heute mehr als ein Nicken zur Begrüßung. Selbst ein Lächeln schien aufdringlich.
In der Küche holte Miss Violet das Kuchenmesser, Miss Maud schnitt den jungfräulichen Guglhupf an, Mrs. Burtt holte einen Teller – und die Prozession setzte sich in Marsch.
«Mit den besten Empfehlungen der Geschäftsleitung», sagte Miss Maud und stellte den Teller vor Leonie auf den Tisch.
Leonie sah den Kuchen und verstand. Sie verstand das Opfer an Prinzipien, die Ehre, die man ihr zuteil werden ließ. Sie holte einmal tief Atem, wie eine Schwimmerin, bevor sie untertaucht. Ihr Gesicht verzog sich, ihre Schultern fielen schlaff herab – und sie brach in herzzerreißendes Schluchzen aus. Es war wie der Inbegriff alles Weinens, ein Ausbruch von Schmerz und Tränen, der, einmal erfolgt, nicht mehr zu stoppen war. Ihr Mann nahm ihre Hand, doch zum erstenmal in ihrem gemeinsamen Leben stieß sie ihn von sich. Sie wollte ihre Tränen loswerden und sterben.
Niemand im Café rührte sich. Dr. Levy bot keine ärztliche Hilfe an; von Hofmann, sonst der Kavalier in Person, ließ sein Taschentuch in der Hosentasche. Miss Maud und Miss Violet sahen einander nur stumm an, entsetzt über das, was sie angerichtet hatten.
Aber da stieß plötzlich Paul Ziller, der am Fenster saß, seinen Stuhl zurück.
«Ach, du meine Güte!» sagte Miss Maud, ein milder Ausdruck aus dem Mund einer Generalstochter angesichts des Schadens, der beträchtlich war. Die Kaffeekanne auf dem Tisch der Bergers war umgestürzt, der Kaffee auf das Tischtuch gelaufen, drei Porzellanteller waren zerbrochen ... Leonie Bergers Stuhl war, als sie aufgesprungen war, auf Dr. Levys Rührei gefallen, und der Pudel hatte es natürlich nicht geschafft, sich aus dem Chaos herauszuhalten. Unter wildem Gekläff hatte er den Garderobenständer attackiert, der prompt umstürzte, um Haaresbreite die Keramikkatze auf dem Fensterbrett verfehlte, nicht aber die Schale mit der duftenden Mischung von Blütenblättern und auch nicht die beiden hübschen weißblauen Aschenbecher, die die Damen aus Gloucestershire mitgebracht hatten.
Mitten in diesem Tohuwabohu stand Leonie und hielt ihre Tochter umschlungen. Nein, es war mehr als eine Umschlingung, es war eine Verschmelzung. Ihre Tränen vermischten sich mit denen Ruths; kein Mensch hätte die beiden voneinander trennen können. Selbst für ihren Mann mochte Leonie ihre Tochter nicht loslassen – konnte ihn nur mit flüchtig freier Hand näher ziehen. Sie hatte in ihrem Leben viele glückliche Momente erlebt, nie aber ein Glück von solcher Tiefe und Reinheit.
Onkel Mishak war der erste aus der Familie, der auf die Verwüstung aufmerksam wurde, der das Lokal anheimgefallen war: Da war Miss Violet dabei, die Tische zu säubern, Miss Maud sammelte Scherben vom Boden auf, Mrs. Burtt lag auf den Knien und wischte. Um das Maß des Chaos vollzumachen, war Tante Hilda, die aus ihrem Bett gesprungen war, um Ruth den Weg zum TeaRoom zu zeigen, auch noch über den Spüleimer gefallen.
«Ach, das tut mir aber schrecklich leid», sagte Leonie, als sie aus den Tiefen ihres Glücks emportauchte, und bemühte sich ehrlich, Bedauern zu empfinden und den Schaden auszurechnen.
Jetzt hatte endlich Mrs. Weiss ihren großen Augenblick. Ihr runzliges Gesicht zeigte einen Ausdruck ungewohnter Würde, und ihre Stimme war fest und entschieden.
«Das bezahle ich», verkündete sie. «Ich bezahle den gesamten Schaden.»
Die Damen Harper nahmen ihr Angebot an; alle begriffen, daß die alte Frau an dem, was hier geschah, Anteil haben mußte. Pfundnoten und Münzen ergossen sich aus der scheußlichen Börse, die aus dem Haar ostpreußischer Pferde gemacht war. Sie bezahlte nicht für eine Kaffeekanne, sondern für zwei; nicht für drei Kuchenteller, sondern für sechs. Zum erstenmal seit Mrs. Weiss' Ankunft in England war die sonst stets prall gefüllte Börse leer und ließ sich ohne Schwierigkeiten schließen. Es war Mrs. Weiss' größte Stunde, und niemand im Tea-Room Willow neidete sie ihr.
«So!» sagte Leonie vielleicht zwanzig Minuten später. «Jetzt erzähl! Wie bist du hergekommen?»
Die Tische waren gesäubert und neu gedeckt, und die Damen Harper hatten frischen Kaffee serviert. Jetzt endlich hatte Leonie sich genügend beruhigt, daß sie zuhören konnte. Sie mußte dabei allerdings so sitzen, daß ihre Schulter mit der Ruths in Berührung war.
Ruth hatte ihre Geschichte auswendig gelernt. Während sie jetzt zwischen ihren Eltern saß und Mishak und die Freunde aus Wien strahlend anlächelte, sagte sie: «Ein Engländer hat mich herausgebracht, ein Mann, der Leuten hilft, die flüchten wollen.»
«Wie in Die scharlachrote Blume?» fragte Paul Ziller beeindruckt.
«So ähnlich, ja. Aber ich darf nie wieder mit ihm Kontakt aufnehmen. Keiner von uns darf mit ihm in Verbindung treten. Das war die Bedingung für seine Hilfe.»
«Es war doch nichts Ungesetzliches im Spiel?» fragte ihr Vater trotz aller glücklichen Erleichterung streng. «Keine gefälschten Papiere oder Ähnliches?»
«Nein, nein. Es war alles ganz legal, das schwöre ich. Bei Mozarts Kopf», sagte Ruth, und ihr Vater war beruhigt, da er wußte, welchen Rang der Komponist im Leben seiner Tochter einnahm.
Leonie jedoch war gar nicht beruhigt. «Aber das ist doch unmöglich! Wie sollen wir ihm denn danken?» rief sie erregt. Unzähliges – vom selbstgebackenen Kuchen bis zu ekstatischen Dankschreiben – fiel ihr ein, was sie diesem Mann hätte zum Dank tun können. Sie wäre am liebsten hinausgelaufen, um diesem unbekannten Wohltäter die Füße zu küssen.
«Es geht nicht anders, Mutter», erklärte Ruth. «Sonst bringen wir womöglich andere Leute in Gefahr, die er retten könnte. Ich muß mich an die Vereinbarung halten.» Erst jetzt wagte es Ruth, die sich in den ersten Momenten des Wiedersehens ganz ihren Eltern hatte widmen wollen, die Frage zu stellen, die sie die ganze Zeit bedrängt hatte. «Was ist mit Heini?» fragte sie.
Unwillkürlich hatte sie in der jahrhundertealten Geste furchtsamer Beunruhigung die Hände auf ihr Herz gedrückt. Als sie ihren Vater lächeln sah, atmete sie auf.
«Es ist alles in Ordnung, Kind», sagte Kurt Berger. «Er ist noch in Budapest, aber wir haben einen Brief von ihm. Er kommt bald.»
Es war sehr still im Willow, nachdem die Bergers gegangen waren. Einer nach dem anderen standen die Gäste auf und gingen, doch die drei Männer, die die Familie aus Wien kannten, blieben noch eine Weile sitzen.
«Persephone ist also zurückgekehrt», sagte der Schauspieler.
Dr. Levy nickte, aber sein Gesicht war traurig, und die beiden anderen tauschten einen Blick. Dr. Levy hatte eine Persephone eigener Art: ein flachsblondes, blauäugiges, dummes junges Ding, das er trotz allem liebte. Hennie hatte dem prominenten Spezialisten, den sie als Lernschwester angehimmelt hatte, mit Freuden ihr Jawort gegeben; nun aber schien sie es gar nicht eilig zu haben, das Exil mit ihm zu teilen.
«Wollen wir nicht zur Feier des Tages etwas unternehmen?» meinte Ziller, dem es nicht gut erschien, Dr. Levy jetzt einsam und allein zurückzulassen.
«Wir können ja mal sehen, was läuft», schlug von Hofmann vor.
Es lief, wie sie feststellten, als sie den Platz überquert und den Weg den Hügel hinauf zum Odeon genommen hatten, ein Film mit Fred Astaire und Ginger Rogers – und ohne weitere Beratung traten die drei distinguierten Herren, obwohl keiner von ihnen es sich leisten konnte, in den Kinosaal – und ins Paradies – ein.
Während drüben in der Küche des Willow Miss Maud und Miss Violet ihre Bewertungen abgaben.
«Ein sehr wohlerzogenes junges Mädchen», sagte Miss Maud. «Sie hätte Vater gefallen», sagte Miss Violet.
Höheres Lob gab es nicht, doch das letzte Wort hatte, wie so oft, Mrs. Burtt.
«Und zum Anbeißen hübsch.»
10
Wenn Quin nicht in Bowmont oder auf Reisen war, lebte er in London in einer Wohnung am Chelsea Embankment. Sie befand sich in der ersten Etage eines Queen-Anne-Hauses und hatte einen schmiedeeisernen Balkon, der über die Zweige eines Maulbeerbaums hinweg zur Themse hinausblickte. An den Wänden des Wohnzimmers standen überquellende Bücherregale, über dem offenen Kamin hing ein Aquarell von Constable, Perserteppiche lagen auf dem Parkett. Aber niemand, der Quin besuchte, schenkte je der Einrichtung mehr als flüchtige Beachtung; jeder, ohne Ausnahme, ging schnurstracks zur Balkontür und blieb dort stehen, um den weiten Blick auf das Flußpanorama zu bewundern.
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