Als es Mitte August wurde, begann die tschechische Krise die Zeitungen zu beherrschen. Hitler wurde immer dreister; Bilder der Wochenschau zeigten ihn, wie er, den Arm um Mussolini gelegt, umherstolzierte oder mit geballter Faust jedem drohte, der es wagte, sich in osteuropäische Belange einzumischen. Kabinettsminister ließen die Moorhühner Moorhühner sein und begannen, zwischen London und Paris, zwischen Paris und Berlin hin- und herzureisen. Die Tschechen baten um Beistand.
Die nunmehr dringlicher betriebenen Kriegsvorbereitungen Englands bekamen die Leute von Belsize Park auf unterschiedliche Weise zu spüren. Mrs. Weiss schaute mit offenem Mund zu einem großen grauen Sperrballon hinauf, der über ihr schwebte, sagte: «Mein Gott, was ist denn das?», stolperte über eine Unebenheit auf dem Bürgersteig und wurde mit aufgeschlagener Nase ins Krankenhaus gebracht. Onkel Mishak, der an einem Plakat vorüberkam, das ihn aufforderte, Ruhe zu bewahren und fleißig zu graben –Keep Calm and Dig –, tat genau das und legte hinter dem Haus einen kleinen Gemüsegarten an. Im Willow brütete Miss Maud mit gefurchter Stirn über die Anweisung zur Errichtung eines Fertig-Luftschutzbunkers und erhielt viele gute Ratschläge von ihren männlichen Gästen, die vorgaben, die Instruktionen zu verstehen. Mrs. Burtt trällerte beim Abspülen kein Liedchen mehr, da ihr Sohn Trevor für die Air Force tauglich geschrieben worden war, und Dr. Levy wurde, obwohl er ausdrücklich darauf hinwies, daß er als Arzt nicht zugelassen war, in ein Nachbarhaus geholt, um bei einem Mann mit schwachem Herzen, dessen Ehefrau sich den zweifelhaften Spaß erlaubt hatte, mit Gasmaske ins Bett zu kommen, Erste Hilfe zu leisten.
Ruth geriet angesichts der Krise in helle Panik. Sie leerte das Marmeladenglas und schickte verzweifelte Telegramme nach Budapest, aber Heinis Papiere waren, auch wenn sie jeden Moment erwartet wurden, immer noch nicht gekommen. Trotz aller Sorge jedoch beschäftigte Ruth in diesen Tagen noch eine andere Frage, deren Beantwortung sie bei Miss Maud und Miss Violet suchte, die sich als Generalstöchter im Militärwesen eigentlich auskennen mußten.
«Würde man jemanden, der dreißig oder vielleicht etwas darüber ist, auch noch einziehen?»
«Nur wenn der Krieg sehr lange dauern würde», antwortete Miss Maud.
In diesen dunklen Tagen erhielt Ruth eine Nachricht, die sie unter normalen Umständen tief enttäuscht hätte. Das University College hatte ihren Studienplatz in Zoologie an einen anderen Flüchtling vergeben und konnte sie für das kommende Jahr nicht mehr berücksichtigen.
«Es war alles ein Mißverständnis», sagte sie, den Brief zeigend. «Als ich damals nicht mit dem Studententransport hier ankam, haben die Quäker der Universität Bescheid gesagt, und es gab so viele andere Bewerber, daß sie von denen jemanden genommen haben. Sie wollen jetzt versuchen, mich an einer anderen Universität unterzubringen, aber große Hoffnung können sie mir nicht machen, weil es schon so spät ist.»
Nach der ersten Enttäuschung beschloß Ruth, das Beste aus der Situation zu machen. «Es ist gar nicht so schlimm», sagte sie. «Ich möchte sowieso weiterarbeiten, um euch zu helfen, und Heini, wenn er kommt.»
Doch für Kurt und Leonie Berger war Ruths Ablehnung ein großer Schlag. Sie hätten jedes Ungemach auf sich genommen, um ihrem Kind eine freundlichere Zukunft zu ermöglichen. Ruth sollte nicht ihr Leben in der tristen Welt der Flüchtlinge fristen, in einer Welt der niedrigen Arbeiten und der Armut, der ständigen Sorge um Genehmigungen und der Angst, ausgewiesen zu werden.
«Vielleicht sollte ich mich mit Quinton Somerville in Verbindung setzen», meinte Kurt Berger an diesem Abend, nachdem Ruth zu Bett gegangen war. «Er würde Ruth sicher helfen.»
«Nein, tu das nicht.»
Kurt Berger sah seine Frau erstaunt an. «Warum nicht?»
Leonie, die für logische Überlegung nie viel übrig gehabt hatte und lediglich einem Gefühl folgte, das so nebulös war, daß sie es nicht erklären konnte, sagte nur, sie hielte es eben nicht für einen guten Gedanken – und in den folgenden Tagen kam keiner dazu, viel über persönliche Dinge nachzudenken.
Alle Klischees, die später über die tschechische Krise geschrieben wurden, waren wahr. Es war tatsächlich so, daß die Welt den Atem anhielt; daß sich Gewitterwolken über Europa zusammenzogen; daß Fremde auf der Straße stehenblieben, um einander nach Neuigkeiten zu fragen. Dann flog Neville Chamberlain, dieser obstinate alte Mann, der noch nie in einem Flugzeug gesessen hatte, zu Hitler, kam wieder nach Hause, flog noch einmal nach Deutschland und kehrte schließlich mit einem Papier zurück, an das er rückhaltlos glaubte und das er den Menschen mit den Worten «Friede in unserer Zeit» präsentierte.
Es gab viele, die von falscher Nachgiebigkeit sprachen, und viele – unter ihnen natürlich die Flüchtlinge –, die wußten, was Hitlers Versprechungen wert waren, und daß die Tschechen verraten worden waren. Aber wer konnte denn einen Krieg wollen? Während sich vor dem Buckingham-Palast jubelnde Menschen drängten, tanzte Ruth mit Mrs. Burtt durch die Küche hinter dem Tea-Room, weil Heini nun kommen und Mrs. Burtts Trevor sicher und wohlbehalten in seinem eigenen Bett schlafen konnte.
In dieser Zeit neuer Hoffnung, als in den Körben der Blumenhändler goldene und rostrote Chrysanthemen glühten und kleine Jungen bei Nummer 27 klingelten, um die Kastanien zu holen, die Onkel Mishak auf seinen Streifzügen gesammelt hatte, fand Kurt Berger eines Tages bei der Heimkehr Ruth in einen Brief vertieft und war erstaunt über ihr glücklich strahlendes Gesicht.
«Von Heini?» fragte er. «Kommt er?»
Sie schüttelte den Kopf. «Nein, er ist von der University of Thameside. Sie haben einen Studienplatz für mich. Ich kann nächste Woche anfangen.»
Er nahm den Brief, den sie ihm hinhielt. Die Unterschrift sagte ihm nichts, aber das konnte ihn nicht täuschen.
«Da steckt Somerville dahinter», sagte er, und ein Stein fiel ihm vom Herzen. Der Gedanke, das sein junger Protegé ihn und seine Familie vergessen haben könnte, hatte sehr geschmerzt. «Er ist dort Professor für Zoologie.» Und streng fügte er hinzu: «Ich weiß, du wirst dich seiner Güte würdig erweisen.»
Sie hatte sich hinter ihr Haar zurückgezogen, um ihrer Verwirrung Herr zu werden, und blieb dort – bildlich gesprochen – bis spät abends, bis Tante Hilda endlich eingeschlafen war und sie das Fenster aufmachen und sich in die rußige Nachtluft hinauslehnen konnte, um zu versuchen, ruhig zu werden und klarzusehen.
Warum hatte er es getan? Warum hatte Quin, der ihr klipp und klar gesagt hatte, es sei das beste, wenn sie einander nie wiedersähen, sie als Studentin in seine Abteilung aufgenommen? Was hatte ihn veranlaßt, wider seine bessere Einsicht zu handeln und die Warnungen seines Anwalts bezüglich des möglichen Kollusionsverdachts in den Wind zu schlagen, um ihr diese Chance zu geben?
Aber was zählten schon die Motive! Er hatte es getan, und nun lag die Zukunft hell und freundlich vor ihr. Sie würde die fleißigste Studentin werden, die man in Thameside je gehabt hatte. Sie würde arbeiten wie besessen, um als Beste ihres Jahrgangs abzuschneiden, um alle zu übertreffen, und sie würde es tun, ohne mit ihm Kontakt aufzunehmen, ohne ihm auch nur durch einen Blick zu nahe zu treten.
Der Gedanke, daß Quin mit ihrer Aufnahme vielleicht gar nichts zu tun hatte, daß er möglicherweise nicht einmal davon wußte, kam Ruth und ihren Eltern nicht. Und doch war es so. Quin hatte in diesem Jahr wie immer die Aufnahmeformalitäten seinem Stellvertreter Dr. Felton überlassen. Er selbst hielt sich gar nicht in London auf.
Überzeugt, daß ein Krieg unvermeidlich war, war er zu einem Marinestützpunkt oben in Schottland gereist, um zu versuchen, unter Berufung auf den Namen seines gefürchteten Großvaters, Admiral «Basher» Somerville, bei der Marine unterzukommen. In die Korridore der Macht einzudringen, war ihm dank seinem Namen relativ leicht gefallen; wieder aus ihnen zu entkommen, nachdem die Kriegsgefahr sich verzogen hatte, war schwieriger.
Professor Somerville würde nicht pünktlich zum Semesteranfang in London zurück sein.
12
«Was soll das heißen, er ist noch nicht zurück? Das Semester fängt nächste Woche an. Du kannst dir doch so etwas nicht bieten lassen!»
Lady Plackett war verstimmt. Seit ihr Mann seinen neuen Posten als Vizekanzler der Universität Thameside übernommen hatte, hatte sie unter beträchtlichen Mühen angemessene Veranstaltungen zum Empfang des Lehrkörpers und der Studenten geplant. Ihr Vorgänger, Lord Charlefont, war unglaublich nachlässig gewesen, und die Lage des Hauses, das nur durch seine dorischen Säulen und den wilden Wein vom Kunstbau abgegrenzt war, lud zu jener Art willkürlichen Kommens und Gehens ein, das sie auf keinen Fall zu dulden gedachte. Sie hatte auf dem gepflasterten Weg, der vom Haupthof zu ihrer Haustür führte, bereits ein Schild mit der Aufschrift «Privat» aufstellen lassen und den Hausmeister der Universität angewiesen, ihren Teil der Flußterrasse mit einem Maschendrahtzaun abzusperren, um ihn von Studenten freizuhalten, die sich offensichtlich einbildeten, sich überall niederlassen zu können, um ihr Mittagbrot zu verspeisen.
Die eigene Privatsphäre zu wahren, war so wichtig wie die Wiederherstellung hoher moralischer Maßstäbe an der Universität. Studenten, die in aller Öffentlichkeit Händchen hielten oder sich gar küßten, konnten selbstverständlich nicht geduldet werden. Aber Lady Plackett wollte auch geben – das Universitätsleben durch ihre Gastfreundschaft bereichern und das Haus des Vizekanzlers zu einem Ort machen, an dem gute Gespräche und gute Kinderstube garantiert waren. Um dies zu verwirklichen, mußte sie jedoch zunächst die Spreu vom Weizen sondern und sich vom vorhandenen Material ein Bild machen. Zu diesem Zweck hatte sie für den Semesterbeginn eine Reihe gesellschaftlicher Veranstaltungen geplant. Zuerst sollten die Professoren zum Sherry gebeten werden, natürlich mit Namensschildchen, die auch über die Fakultät des Gastes Auskunft gaben, denn Gesellschaften ohne Namensschildchen brachten niemals den rechten Erfolg; dann die Dozenten zum Fruchtsaft ... und schließlich, in Gruppen von jeweils etwa zwanzig, die Studenten zu Schreibspielen.
Als sie jetzt die Namensschildchen mit der Gästeliste verglich, entdeckte sie neben dem Namen Somerville die Anmerkung: «Kann leider nicht teilnehmen.»
«Er ist in Schottland», erläuterte Sir Desmond, ein blasser Mann mit einem jener unscheinbaren Gesichter, die höchstens einen Eindruck von Durchschnittlichkeit hinterlassen. Seine Berufung zum Vizekanzler von Thameside verdankte er der Tatsache, daß alle anderen Kandidaten genug Persönlichkeit besaßen, um sich Feinde geschaffen zu haben. «Offenbar wollte das Außenministerium ihn für einen Posten beim Nachrichtendienst haben. Er sollte Geheimcodes knacken oder so etwas. Da er sich daraufhin den ganzen Krieg in einem Bunker sitzen sah, wollte er versuchen, bei der Marine unterzukommen. Deshalb ist er nach Schottland gereist.»
«Ich kann nur hoffen, daß du ein ernstes Wort mit ihm reden wirst», sagte Lady Plackett.
Sie war größer als ihr Mann, hatte einen langen Rücken und ein langes, schmales Gesicht mit den engstehenden blauen Augen der Croft-Ellis'. Nachdem sie mehrere Jahre hindurch die Londoner Saison mitgemacht hatte, ohne daß, um es einmal so auszudrücken, ein größerer Fisch angebissen hatte, nahm sie den Antrag des Sohnes eines ganz gewöhnlichen Wirtschaftsprüfers an und setzte sich zum Ziel, ihm zu einer Karriere zu verhelfen. Leicht war es nicht gewesen. Desmond konnte, als sie ihn kennenlernte, seine soziale Herkunft nicht verleugnen, aber sie hatte nicht locker gelassen, und nun, fünfundzwanzig Jahre später, konnte sie aufrichtig sagen, daß sie sich nicht mehr schämte, ihn nach Hause mitzubringen.
«Nein, meine Liebe, das wäre unklug», widersprach Sir Desmond milde. «Wir brauchen Professor Somerville dringender als er uns.»
«Wie meinst du das?»
«Er ist ein prominenter Wissenschaftler. Er bekommt immer wieder Angebote aus dem Ausland, und Cambridge versucht, ihn zurückzuholen, seit er dort Examen gemacht hat. Charlefont hatte alle Mühe, ihn dazu zu bewegen, den Posten hier anzunehmen, und Somerville sagte nur unter der Bedingung zu, daß er jederzeit Urlaub für seine Reisen bekäme. Die Universität hat ihm einiges zu verdanken – aufgrund seines Rufs ist für die Paläontologie immer Geld da, und die alljährliche Exkursion mit seinen Studenten auf seinen Landsitz nach Northumberland soll der Höhepunkt des Studienjahres sein.»
«Northumberland?» sagte Lady Plackett scharf. «Wo denn in Northumberland?»
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