Aber so nett die Dozenten waren, so interessant und aufregend die Arbeit, wirklich glücklich machten Ruth in jenen ersten Tagen in Thameside ihre Mitstudenten. Sie arbeiteten bereits seit zwei Jahren miteinander, aber sie nahmen sie ohne Vorbehalt und ohne Zögern unter sich auf. Sie lernte Sam Marsh kennen, einen mageren, hochaufgeschossenen Jungen mit ewig zerzaustem Haar und dem Gesicht einer intelligenten Ratte, der eine Schirmmütze und einen Schal trug, um seine Solidarität mit dem Proletariat zu demonstrieren; ferner Janet Carter, die lebenslustige Pfarrerstochter mit dem krausen roten Haar, deren zahllose Verehrer von Sofas fielen, sich mit den Füßen in den Lenkrädern von Autos verhedderten oder bei ihren verzweifelten Bemühungen, ans Ziel zu gelangen, sonstwie in Schwierigkeiten gerieten; weiter gab es einen großen, schweigsamen Waliser, der eine fatale Neigung besaß, ganz ohne es zu wollen, Reagenzgläser in seinen großen Händen zu zerdrücken; und dann gab es Pilly.
Pilly hieß eigentlich Priscilla Yarrowby, aber der Spitzname war ihr aus ihrer Schulzeit geblieben. Sie hatte ihn ihrem Vater zu verdanken, der einen pharmazeutischen Betrieb besaß, in dem Pillen hergestellt wurden. Pilly hatte kurzes, lockiges hellbraunes Haar und runde blaue Augen, in denen sich häufig hoffnungsloses Unverständnis spiegelte. Sie war bei jeder Prüfung mindestens einmal durchgefallen, sie weinte beim Sezieren und fiel beim Anblick von Blut in Ohnmacht. Die Entdeckung, daß Ruth, die aussah wie die Gänseliesel aus dem Märchen, genau wußte, was sie tat, erfüllte Pilly mit staunender Bewunderung. Und daß diese romantische Fremde – in die Sam sich bereits verliebt hatte – auch noch bereit war, ihr mit Takt und ganz unauffällig bei ihren Arbeiten zu helfen, rief tiefste Dankbarkeit hervor. Sehr bald war Pilly nicht mehr von Ruth zu trennen.
Unter all den netten Bekanntschaften, die Ruth in den ersten Tagen an der Universität machte, gab es eine Ausnahme. Verena Placketts erster Auftritt bei der ersten Vorlesung des Seminars würde Ruth unvergeßlich bleiben.
Sie saß mit ihren neuen Freunden zusammen, als die Tür geöffnet wurde und der Pförtner des Institutsgebäudes eintrat. Er legte ein Schild mit der Aufschrift «Reserviert» in die Mitte der ersten Bank und ging wieder, mit unverkennbar mißmutiger Miene. Die bereits anwesenden Studenten waren verwundert. Dr. Fitzsimmons, der etwas diffuse Physiologiedozent, der diese erste Vorlesung hielt, lockte normalerweise keine Menschenmengen an.
Einige Minuten verstrichen, dann wurde die Tür erneut geöffnet, und ein hochgewachsenes junges Mädchen in einem marineblauen Schneiderkostüm trat ein, ging zu dem reservierten Platz, entfernte das Schild und setzte sich. Sie öffnete ihre große Aktentasche aus Krokodilleder, entnahm ihr eine Saffianschreibmappe, klappte sie auf und legte einen dicken Schreibblock, ein Lineal aus Ebenholz, einen schwarzen Füller mit Goldfeder und einen silbernen Drehbleistift heraus. Danach zog sie den Reißverschluß der Schreibmappe wieder zu, schob sie in die Aktentasche, schloß die Aktentasche – und war bereit.
Dr. Fitzsimmons begann mit einem Überblick über das menschliche Verdauungssystem. Er ging von den Speicheldrüsen des Mundes langsam weiter zur peristaltischen Bewegung der Speiseröhre und erreichte dann den Magen, den er an die Tafel zeichnete, wobei ihm mehrmals die Kreide brach. Ob er sprach oder skizzierte, Verena zeichnete alles auf. Nicht ein einziges Wort, das aus Dr. Fitzsimmons' Mund kam, ließ sie aus; jedes «und» und «aber» schrieb sie in ihrer großen, deutlichen Schrift nieder. Um fünf vor zehn schließlich drehte sie die Mine ihres Drehbleistifts zurück, schraubte ihren Füller zu, öffnete die Aktentasche und dann die Schreibmappe aus Saffianleder ... Doch selbst nachdem alle ihre Besitztümer wieder ordentlich eingepackt waren, folgte Verena den anderen Studenten nicht gleich ins Labor. Sie wußte, wie schmeichelhaft es für einen Dozenten sein mußte, die Tochter des Vizekanzlers unter seinen Hörern zu haben; darum trat sie zum Podium, auf dem Dr. Fitzsimmons stand und leicht mit Kreide bestäubt den menschlichen Magen von der Tafel wischte.
«Sie werden schon erraten haben, wer ich bin», sagte sie und bot ihm huldvoll die Hand, «aber ich wollte nicht versäumen, Ihnen auch im Namen meiner Eltern für Ihren interessanten Vortrag zu danken.»
Erst als es ins Physiologielabor ging, konnte Verena Plackett den Kontakt mit ihren Kommilitonen nicht länger vermeiden. Auf den Arbeitstischen warteten zusammengerollte Schläuche, von denen jeder an einem Ende mit einer Spitze versehen war. Daneben lagen Blätter mit Anweisungen. Ihre Ausführung verlangte einige Beherztheit. «Schlucken Sie den Schlauch bis zur weißen Markierung hinunter», hieß es da, «und entnehmen Sie den Mageninhalt zur Analyse.»
Der wissenschaftliche Assistent, ein freundlicher junger Mann, war bereit, ihnen zu helfen. «Sie müssen paarweise arbeiten», erklärte er. Und zu Verena sagte er: «Da Sie neu sind, Miss Plackett, dachte ich, Sie würden vielleicht gern mit Miss Berger zusammenarbeiten, die auch dieses Jahr angefangen hat.»
Ruth drehte den Kopf und lächelte Verena an. Sie hätte lieber mit Pilly gearbeitet, die sie flehentlich ansah, oder mit Sam, aber sie wollte das andere Mädchen keinesfalls brüskieren.
Verena sagte nichts. Sie stand nur da und musterte Ruth von oben bis unten. In Belsize Park war es nach Ruths Aufnahme in Thameside zu einer heftigen Auseinandersetzung gekommen. Leonie hatte ihre Absicht kundgetan, die Brillantbrosche zu verkaufen, die sie heimlich außer Landes geschmuggelt hatte, um Ruth mit dem Erlös für die Universität auszustatten, aber davon hatte Ruth nichts hören wollen. «Du wirst das Geld bestimmt einmal für wichtigere Dinge brauchen», hatte sie mit Entschiedenheit gesagt.
Darum trug Ruth an diesem Morgen statt eines regulären Labor mantels eine mit kleinen weißen Gänseblümchen bedruckte lavendelblaue Kittelschürze. Sie gehörte Miss Violet, die ein ganzes Sortiment dieser Kleidungsstücke besaß, in denen sie im Willow bediente. Hätte Ruth die Wahl gehabt, so hätte sie sicher nicht dieses Prachtexemplar von einem Kittel für die Laborarbeit ausgewählt, aber sie hatte die Gabe von Miss Violet ebenso dankbar angenommen wie das mit rosaroten Herzen dekorierte Federmäppchen, das Mrs. Burtt ihr bei Woolworth gekauft hatte.
Verena jedoch starrte diese unwissenschaftliche Erscheinung, deren Haar der Ordnung halber auch noch mit einem von Onkel Mishak gestifteten Stück Gartenbast hochgebunden war, mit vielleicht verständlicher Bekümmerung an. Dann sagte sie: «Ich halte es nicht für ratsam, daß zwei Neue zusammenarbeiten.»
Die Abfuhr war unverkennbar. Ruth wurde rot und wandte sich ab, während Verena einen schneeweißen, gestärkten Labormantel anlegte, ehe sie daran ging, ihre Partnerwahl zu treffen. Die Gruppe um Ruth Berger kam natürlich nicht in Frage, und ein möglicher Kandidat – ein gutaussehender, hellhaariger junger Mann – tat sich mit jemand anderem zusammen, ehe sie ihn auf sich aufmerksam machen konnte. Doch schmeichelhaft nahe an ihrer Seite wartete schüchtern ein Junge, der gar nicht übel war, groß und schlank, mit sandblondem Haar, das kurz geschnitten und ordentlich gekämmt war.
«Möchtest du mit mir zusammenarbeiten?» fragte sie Kenneth Easton.
Sie hatte eine ausgezeichnete Wahl getroffen. Kenneth, der Vögel beobachtete (aber nur seltene), war ein gewissenhafter junger Mann, der seine akademische Laufbahn unter so illustrer Gönnerschaft nunmehr gesichert sah. Eifrig trat er an ihre Seite.
«Hoffentlich erstickt sie an ihrem Schlauch», zischte Sam rachsüchtig. Aber das geschah natürlich nicht. Während sich der kriecherische Kenneth neben ihr aufpflanzte, um zum gegebenen Moment ihren Mageninhalt in Empfang zu nehmen, hob Verena den Gummischlauch zum Mund und schluckte ihn ruhig und routiniert mit einer Reihe von Schlundbewegungen, die an die einer Python erinnerten, hinunter.
Es gab in Thameside viel mehr junge Männer als Frauen, und fast alle waren sie höchst kontaktfreudig. Um von Anfang an klare Verhältnisse zu schaffen, erzählte Ruth daher schon sehr bald von Heini: daß er nachkommen würde; daß er unglaublich begabt war; daß sie – wenn sie ihren Magister hatte – ihr Leben mit ihm teilen wollte.
«Wie ist er?» wollte Janet wissen.
«Er hat lockiges dunkles Haar und graue Augen, und er spielt Klavier wie ein Gott. Du wirst ihn ja zu hören bekommen, wenn er da ist – vorausgesetzt, ich habe bis dahin das Klavier.»
Heinis Existenz war ein Schlag für Sam, aber er nahm ihn hin wie ein Mann und beschloß, in Ruths Leben den edlen Ritter zu spielen, was für sein Studium sowieso besser sein würde als eine offene Leidenschaft. Er hatte genau wie alle ihre anderen Freunde Verständnis dafür, daß Ruth nur solchen Klubs beitrat, die kostenfrei waren, und nach dem Kolleg nicht ins Pub mitkam. Sie mußte ja die Trinkgelder, die sie im Willow verdiente, für Heinis Klavier sparen. Und bald konnte man sogar Huw Davies, den schweigsamen Waliser, dabei beobachten, wie er in die Schaufenster von Klavierläden spähte, denn nichts ist ansteckender als das Engagement für eine noble Sache.
Später wünschte Ruth, die Woche zu Semesterbeginn, als Quin noch nicht aus Schottland zurück war, wäre nie gewesen. Sie hörte zuviel über Professor Somervilles Verdienste, seine Klugheit und sein Wissen, die großartigen Dinge, die er für seine Studenten getan hatte.
«Ich würde alles darum geben, an einer seiner Exkursionen teilnehmen zu können», sagte Sam, «aber ich habe überhaupt keine Chance; nicht mal, wenn ich eine Eins bekomme. Die Warteliste ist immer endlos.»
Selbst Janet, die eine so niedrige Meinung vom männlichen Geschlecht hatte und ihren unglücklichen Verehrern weiterhin die Köpfe abbiß wie eine dieser exotischen Spinnen im Naturhistorischen Museum, wußte nur Gutes von ihm zu berichten.
«Seine Vorlesungen sind wirklich fabelhaft – weißt du, er zeigt einem eine ganz neue Welt. Und er hat überhaupt keine Allüren. Ich sag dir, ich kriege eine Riesenwut, wenn ich Verena reden höre, als sei er ihr Eigentum. Dabei kennt sie ihn noch nicht mal.»
Am meisten über Quin hörte Ruth jedoch von Pilly. Priscilla mochte unfähig sein, das Konzept der radialen Symmetrie bei der Qualle zu begreifen, aber sie sah und erfaßte die Dinge mit dem Herzen. Und jetzt nahm sie wahr, daß Ruth, ihre Freundin, mittags nicht genug zu essen hatte.
Das stimmte. Ruth hatte ihrer Mutter erzählt, das Mittagessen in der Mensa sei kostenlos. Morgens stieg sie einfach drei Haltestellen vor ihrem Ziel aus der U-Bahn und kaufte sich mit den zwei Pence, die sie dadurch sparte, ein Brötchen, das sie dann mittags am Fluß aß. Sie fand dieses Arrangement absolut zufriedenstellend, Pilly jedoch war anderer Meinung, und an Ruths drittem Tag in Thameside fragte sie, ob es Ruth recht wäre, wenn sie sich in Zukunft auch etwas von zu Hause mitbrächte und mit ihr zusammen am Fluß zu Mittag äße.
«Aber gehst du denn nicht lieber in die Mensa?»
«Nein. Das Essen dort bekommt mir nicht», schwindelte Pilly.
Zu Hause beriet sie sich mit ihrer Mutter. Die Herstellung von Pillen hatten Mr. Yarrowby zum reichen Mann gemacht. Priscilla wurde morgens in einem Rolls-Royce zur Universität gefahren, der sie zwei Straßen entfernt abzusetzen pflegte, weil ihr Reichtum ihr peinlich war; doch ihre Mutter war eine handfeste Frau vom Land. Mrs. Yarrowby war zwar niemals von einem Taubenschwarm überfallen worden, aber sie und Leonie waren sich im Grunde sehr ähnlich.
«Ach, du lieber Himmel!» rief Pilly, als sie am folgenden Tag ihr Mittagbrot auspackte. «Das kann ich unmöglich alles aufessen – und wenn ich was übriglasse, ist meine Mutter zu Tode gekränkt.»
In dieser Notlage mußte Ruth ihr einfach zu Hilfe kommen. Leonies gekränktes Gesicht, wenn sie sich bei Tisch nicht ein zweites Mal genommen hatte, gehörte zu ihren Kindheitserinnerungen. Sie teilte sich mit Pilly die Fleischpastetchen, die harten Eier, den Gewürzkuchen, die Weintrauben ... und selbst dann waren noch Brocken für die gefräßigen Enten übrig.
«Ach, Pilly, du hast ja keine Ahnung, wie herrlich es ist, wieder einmal Enten füttern zu können! Jetzt fühle ich mich wie ein richtiger, echter Mensch und nicht wie ein Flüchtling.»
«Du bist immer ein richtiger, echter Mensch», erklärte Pilly treu. «Du bist der richtigste und echteste Mensch, den ich kenne.»
Und während sie an die Brüstung gelehnt am Fluß saßen, hörte Ruth, wie sehr Pilly vor dem Beginn des Paläontologiekurses graute.
«Das schaffe ich niemals», sagte sie unglücklich. «Ich kann ja nicht mal Pleistozän und Plastilin auseinanderhalten.»
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