«Klar kannst du das ... Aber warum mußt du den Kurs überhaupt nehmen, Pilly? Hättest du denn nicht etwas anderes wählen können?»
Pilly machte ein deprimiertes Gesicht und warf noch ein Stück Pastete ins Wasser. «Es ist wegen Professor Somerville.»
«Wieso?» fragte Ruth erstaunt. «Was hat das mit ihm zu tun?»
«Mein Vater ist der Meinung, er sei der vollkommene Renaissance-Mensch», antwortete Pilly. «Du weißt schon, ein Mensch, der alle seine Fähigkeiten ausgebildet hat. Mein Vater hat ihn vor ungefähr drei Jahren mal in der Wochenschau gesehen. Da kam er gerade mit diesem Neanderthalerschädel aus Java zurück. Und später hat er ihn noch mal gesehen, als er auf einem Yak durch Nepal ritt. Oder vielleicht war es auch ein Maultier. Weißt du, mein Vater mußte mit vierzehn von der Schule und in die Fabrik. Er konnte nie studieren und sich bilden. Deswegen muß ich mich jetzt auf der Uni herumquälen, obwohl ich ihm gesagt habe, daß ich zu dumm dazu bin. Und Professor Somerville ist ein Mensch, wie er gern einer gewesen wäre.»
«Ach, so ist das.»
«Ja. Er schneidet alle Berichte aus, die im National Geographit über ihn erscheinen. Außerdem ist Professor Somerville ein großer Segler vor dem Herrn – er hat mal mit einem Winzlingsboot eine Trophäe gewonnen, obwohl ein Riesensturm war und das Boot beinahe untergegangen wäre. So was gefällt meinem Vater. Und ein toller Liebhaber ist er auch, wie die Medici. Ich glaube allerdings nicht, daß er auch so viele Leute vergiftet.»
«Woher wissen deine Eltern, daß er ein toller Liebhaber ist?»
Pilly seufzte. «Aus der Zeitung. Es steht in den Klatschspalten. Eine Schauspielerin namens Tansy Mallet ist ihm durch ganz Ägypten nachgelaufen, und jetzt hat er eine todschicke Französin. Natürlich wollen alle mit auf seine Exkursionen. Warte nur, bis er wieder da ist – seine Vorlesungen sind immer zum Brechen voll mit Leuten, die hier gar nicht eingeschrieben sind. Sie zahlen der Uni zehn Pfund im Jahr, dann dürfen sie jede Vorlesung besuchen, aber sie kommen nur zu seinen.» Sie biß in ihr Brot. «Und Bowmont wollen natürlich auch alle sehen.»
«Was ist Bowmont?»
«Da wohnt Professor Somerville. Du wirst es sehen, wenn du auf Exkursion gehst.»
«Ich gehe nicht auf Exkursion», entgegnete Ruth. «Aber was ist an Bowmont so besonders? Ich dachte, es sei nur ein Haus ohne Zentralheizung.»
Pilly schüttelte den Kopf. «Das kann nicht sein. Turner hat es gemalt.»
«Na und? Der hat auch vieles andere gemalt. Kühe und Sonnenuntergänge und Schiffswracks.»
«Kann schon sein, aber trotzdem wollen alle hin. Ach, Ruth, ich schaffe das nie. Diese Namen – jurassisch, mesozoisch und ...»
«Du schaffst es», behauptete Ruth entschlossen. «Wir machen Listen – eine Liste fürs Bad, eine Liste für die Toilette ... Ihr habt sicher zu Hause viele Bäder, da kannst du viele Listen haben. Und ich höre dich jeden Tag ab. Es sind doch bloß Namen! Wie bei Leuten, die Cynthia oder George heißen.»
Es war schönes Wetter in jener ersten Woche in Thameside, und Ruth fand alles beglückend: Dr. Feltons Seminare, die erste Probe des Bach-Chors, dem sie beigetreten war und der die h-Moll-Messe einstudierte. Sie lernte mit Pilly, sie freundete sich mit einem Doktoranden der germanistischen Fakultät an und machte ihm klar, daß Rilke, wenn man seine Gedichte nur richtig sprach, kein Verrückter war, sondern ein großer Lyriker – und sie hielt dem Schaf die Treue.
Und doch konnte dieser Zustand des Glück, so real er war, innerhalb eines Augenblicks durch eine Erinnerung an die Vergangenheit zerstört werden. Eines Nachmittags ging sie auf dem Rückweg von einem Seminar durch den Hof, als sie aus einem Fenster des Kunstbaus die Klänge des Schubert-Quartetts in d-Moll hörte. Sie hielt an, um sich zu vergewissern, daß sie richtig gehört hatte, daß dort tatsächlich die Zillers spielten, und es war so: immer nahmen sie das Adagio mit dieser himmlischen Langsamkeit, die mit Feierlichkeit nichts zu tun hatte. Und jetzt erhob sich die zweite Geige über die anderen, um das Motiv zu wiederholen, und sie konnte Biberstein vor sich sehen, mit seinen krausen, abstehenden Locken, das Kinn auf sein Instrument gedrückt, während er Schubert – oder Gott – ins Auge sah.
Sie rannte über den Rasen, durch den Torbogen, die Treppe hinauf ... Sie wußte natürlich schon, ehe sie die Tür zum Aufenthaltsraum öffnete, daß es ausgeschlossen war. Die Zeit hatte sich nicht umgekehrt, sie lief jetzt nicht über die Johannesgasse auf die Fenster des Konservatoriums zu, hinter denen die Zillers probten. Doch ein paar Sekunden lang glaubte ihr Körper, was ihr Hirn schon als Täuschung erkannt hatte. Dann sah sie den Trichter des Grammophons und die Mitglieder des Musik-Kreises, die um es herum saßen, und wußte, daß die Vergangenheit endgültig vorbei und Biberstein tot war.
Am folgenden Tag teilte Verena Plackett ihren Kommilitonen reizenderweise mit, daß Professor Somerville am Montag zurück sein werde, um seine Vorlesung zu halten.
«Bist du sicher?» fragte Sam.
«Aber natürlich», antwortete Verena. «Er wird ja am Abend bei uns essen.»
14
«Lieber Himmel, Ruth, was hast du mit deinen Haaren gemacht?» rief Leonie, als ihre Tochter am Montag morgen zum Frühstück erschien.
«Ich habe mir einen Zopf geflochten», antwortete Ruth mit Würde.
«Ja, das seh ich. Aber wie! Du hast die Haare ja so stramm zurückgezogen, daß man meinen könnte, du wolltest dich skalpieren.»
Ruth jedoch, deren Ziel die gänzliche Unauffälligkeit war, erklärte, sie fühle sich sehr wohl, und fragte, ob sie Hildas Regenmantel ausleihen dürfe, der schwarz war und männlich wirkte und bessere Zeiten gesehen hatte. Nachdem sie den Kragen hochgeklappt und sich eine Baskenmütze über den Kopf gezogen hatte, war sie sicher, daß es ihr gelingen würde, sich Quin Somervilles Aufmerksamkeit zu entziehen; dann machte sie sich, ohne auf ihre Mutter zu achten, die behauptete, sie sähe aus wie ein Straßenmädchen in einem Experimentalfilm von Pabst, auf den Weg zur Universität. Dort geriet sie von neuem unter Beschuß. Janet machte sie darauf aufmerksam, daß es keinen Tropfen regnete, und Sam fragte bekümmert, ob das jetzt ihre neue Frisur sei. Doch wenn schon Ruths Aussehen seltsam war, so war es ihr Verhalten noch mehr.
«Ist was?» fragte Pilly, als Ruth sich in den Hörsaal schlich wie die Bisamratte Chu Chundra in Kiplings Dschungelbuch, die sich niemals in die Mitte eines Zimmers wagte.
«Nein, nein», versicherte Ruth. «Das heißt, mir ist irgendwie nicht ganz gut. Ich glaube, ich setze mich hinten hin, damit ich jederzeit raus kann. Aber geh du ruhig nach vorn und such dir einen guten Platz.»
Das war eine sinnlose Aufforderung. Wo Ruth hinging, da ging auch Pilly hin, und wenig später gesellten sich Janet, Sam und Huw zu ihnen.
«Es ist nicht so schlimm», versicherte Sam, der sich schweren Herzens damit abfand, daß er seinem Idol so fern sein würde.»Man kann immer hören, was er sagt.»
Der Saal war voll bis auf den letzten Platz. Nicht nur Studenten anderer Jahrgänge, sondern auch anderer Disziplinen hatten sich eingefunden und dazu die Gasthörer, von denen Pilly erzählt hatte: Hausfrauen, alte Damen, ein rotgesichtiger Colonel mit einem Knebelbart.
«Ah, da kommt Verena», bemerkte Janet. «Sollte sie sich diese schwungvollen Würste auf der Stirn zu Ehren des Professors gedreht haben?»
In der Tat zeigte sich Verena im Glanz einer neuen Frisur, auch wenn sie wie immer ein Schneiderkostüm und eine hochgeschlossene Bluse strengen Schnitts anhatte. Als sie mit ihrer Krokodilledertasche unter dem Arm die Stufen des Hörsaals herunterkam, sah sie sich mit einer unerwarteten Schwierigkeit konfrontiert. Ihr Platz in der Mitte der ersten Reihe war besetzt.
Der Angestellte, der angewiesen war, Verena vor den Vorlesungen stets ihren Platz zu reservieren, hatte aufgemuckt. Er hatte sich beim Quästor beschwert und gesagt, das gehöre nicht zu seinem Aufgabengebiet, und der Quästor, der wahrscheinlich mit der Gewerkschaft unter einer Decke steckte, hatte ihn unterstützt. Bisher hatte sich das nicht weiter ausgewirkt, da inzwischen jedermann wußte, was ihr zustand; heute jedoch, bei dem Zustrom von Hörern, war die ganze erste Reihe besetzt.
Jeder andere hätte sich davon vielleicht abschrecken lassen; nicht Verena Plackett, Tochter ihrer Mutter.
«Entschuldigung», sagte sie, hielt ihre edle Aktentasche hoch und drängte sich an den Sitzenden vorbei bis zur Mitte der Reihe direkt vor dem Podium mit dem Rednerpult und der Wasserkaraffe. Hier saß sie immer, hier beabsichtigte sie auch heute zu sitzen.
Ihr Hinterteil anmutig gelüpft, wartete Verena, um sich auf dem ihr angestammten Platz niederzulassen – und wartete nicht vergeblich. Solcherart war die Autorität, die überlegene Klasse, die selbst von ihrem Gesäß ausging, daß die Frau rechts von ihr näher zu ihrem Nachbar rückte, der Student links sich mit nur einem kleinen Murren an seinen Freund drängte – und mit einem höflichen «Danke sehr» setzte sich Verena, öffnete die Aktentasche, nahm den Block und den Füller mit der Goldfeder heraus und war bereit.
Quin betrat den Vorlesungssaal, legte ein einzelnes Blatt Papier auf das Pult, schob die Wasserkaraffe weg, blickte auf, um «Guten Morgen» zu sagen – und entdeckte augenblicklich Ruth, die so tief wie möglich zusammengekrümmt in der letzten Reihe saß. Sie war teilweise verdeckt von einem breitschultrigen jungen Mann in der Reihe vor ihr, aber das herzförmige Gesicht, die großen umschatteten Augen waren deutlich zu erkennen, und nicht minder eine nackte Fläche dort, wo ihr Haar nicht war. Einen Moment lang glaubte er, sie habe es abgeschnitten, und spürte ein Aussetzen seines Herzschlags, als hätte sein Vegetativum die Absicht gehabt, eine Protestmeldung zu senden, und sich dann eines anderen besonnen, einerseits weil es ihn nichts anging, andererseits weil sie es gar nicht abgeschnitten hatte. Offensichtlich hatte sie mit Regen gerechnet, denn er konnte den Zopf unter ihrem Mantel verschwinden sehen und mußte an das Museum in Wien denken, an ihr tropfnasses Haar, als er sie zu ihrer Hochzeit abgeholt hatte.
Diese Gedanken, wenn es wirklich bewußte Gedanken waren, nahmen nur wenige Sekunden in Anspruch, ehe sie von einem weiteren, ebenso flüchtigen abgelöst wurden, der Frage nämlich, wieso das University College seine Studenten zu seiner Vorlesung schickte. Nachdem er sich vorgenommen hatte, das in Zukunft zu unterbinden, ergriff er ein Stück Kreide, trat an die Tafel und begann.
Die folgende Stunde vergaß Ruth nie. Wenn jemand ihr gesagt hätte, daß sie einem Vortrag über Leitfossilien, die kennzeichnend für bestimmte geologische Schichten waren und zur Altersbestimmung herangezogen wurden, so gebannt folgen würde wie einer Gute-Nacht-Geschichte – ihn so aufregend, faszinierend und manchmal komisch finden würde wie jedes Märchen –, so hätte sie dem Betreffenden kaum geglaubt.
Das Thema des Vortrags war hoch wissenschaftlich. Quin präsentierte eine Neueinschätzung der von Rowe geleisteten Arbeit über die englische Kreidezeit und brachte sie in Bezug zu Darwins Theorien und den neuen Ideen Julian Huxleys. Aber während er sprach – ohne je die Stimme zu erheben, seine Worte nur selten mit einer Geste seiner ausdrucksvollen Hände unterstreichend –, empfand sie einen beinahe körperlichen Kontakt. Es war, als stünde er hinter ihr und stieße sie vorwärts, der Schlußfolgerung entgegen, die er gleich erreichen würde, so daß sie dachte: Ja – ja, natürlich, so muß es sein.
Rund um Ruth herum folgten die anderen dem Vortrag mit gleicher Faszination. Sam hatte seinen Füller aus der Hand gelegt; nur wenige Studenten machten sich mehr als gelegentliche Notizen, weil keiner auch nur ein Wort überhören wollte und weil sie wußten, daß sie danach lesen und lesen würden und irgendwie sogar die nötigen Reisen unternehmen ... daß sie Teil des Abenteuers werden würden, das sich dort auf dem Podium für sie auftat. Nur Verena schrieb unablässig mit ihrer Goldfeder – schrieb und schrieb und schrieb.
Irgendwann in der Mitte seines Vortrags machte Quin eine kurze Pause, fuhr sich mit der für ihn charakteristischen Handbewegung, die ihm selbst gar nicht bewußt war, durch das Haar, und sein Blick fiel erneut auf Ruth. Sie hatte ihre Zurückhaltung aufgegeben und saß gespannt vorgebeugt, den Zeigefinger quer über dem Mund, in der, wie er sich erinnerte, für sie typischen Haltung, wenn sie aufmerksam zuhörte. Auch ihr Haar hatte sich die Unterdrückung nicht länger gefallen lassen: eine Locke hatte sich aus dem strengen Zopf gelöst und ringelte sich um ihren Kragen.
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