«Ach, glauben Sie?» meinte Quin nicht im geringsten erfreut. «Sie halten es für möglich, daß ein Mann, der absichtlich das Beweismaterial fälscht, um eine vorgefaßte Hypothese zu stützen, ernst zu nehmen ist?»
«Wenn es wirklich Absicht war. Mein Vater hatte aber einen Aufsatz, in dem stand, daß der Schädel, den man Hackenstreicher zeigte, von einer weit tieferen Stufe stammen könnte und daß es dann verständlich wäre, daß er zu den Schlußfolgerungen gelangte, die er veröffentlicht hat.»
«Ja, den Aufsatz habe ich gelesen, aber sehen Sie denn nicht ...» Obwohl Quin versucht war, die Diskussion weiterzuverfolgen, zwang er sich, seine Aufmerksamkeit wieder der Aufgabe zuzuwenden, die er jetzt zu erledigen hatte. Daß Ruth eine interessante Studentin gewesen wäre, daran gab es keinen Zweifel.
«Schauen Sie, Ruth, es hat keinen Sinn, daß wir die Sache weiter hinausschieben. Ich werde O'Malley anrufen und Sie nach Tonbridge versetzen lassen. Und bis dahin kommen Sie am besten nicht mehr zu den Lehrveranstaltungen hier.»
Sie hatte ihm den Rücken zugewandt und knotete zerstreut den Schal um Daphnes Hals. In der andauernden Stille wuchs Quins Unbehagen. Er erinnerte sich plötzlich des Kindes am Grundlsee, das Keats deklamiert hatte ... erinnerte sich, wie sie selbst im Museum versucht hatte, sich heimisch zu fühlen. Und nun vertrieb er sie von neuem.
Doch als sie sich herumdrehte, sah er nicht das traurige Geschöpf seiner Vorstellung, nicht Ruth in Tränen im Kornfeld in der Fremde. Ihr Kopf war hocherhoben, ihr Gesicht zeigte hartnäckige Entschlossenheit, und einen Moment lang glich sie der primitiven, kämpferischen Hominidenfrau, neben der sie stand.
«Ich kann Sie nicht daran hindern, mich von hier wegzuschicken. Sie haben ja hier eine Stellung wie ein Gott. Das habe ich schon gemerkt, bevor Sie kamen. Aber Sie können mich nicht zwingen, nach Tonbridge zu gehen. Ich wollte sowieso nicht studieren, sondern arbeiten und meine Familie unterstützen. Erst Sie haben gesagt, ich solle mein Studium abschließen. Als ich dann dachte, Sie wollten, daß ich hierher komme, war ich so ...» Sie brach ab und schneuzte sich. «Aber woanders fange ich nicht noch einmal an. Nach Tonbridge gehe ich bestimmt nicht.»
«Und wie Sie gehen!» fuhr er sie wütend an. «Sie werden nach Tonbridge gehen und einen anständigen Abschluß machen und ...»
«Nein, das werde ich nicht tun. Ich suche mir eine Arbeit, die bestbezahlte Arbeit, die ich finden kann. Wenn Sie mir erlaubt hätten, hierzubleiben, hätte ich alles getan, was Sie von mir verlangt hätten. Da wären Sie mein Professor gewesen, und das wäre in Ordnung gewesen. Aber jetzt haben Sie kein Recht, mich herumzukommandieren. Jetzt bin ich frei.»
Quin sprang aus seinem Sessel auf. «Merken Sie sich eines: Selbst wenn ich nicht Ihr Professor bin, so bin ich doch immer noch Ihr gesetzlicher Ehemann, und ich kann Ihnen befehlen, nach Tonbridge ...» Der Satz blieb unvollendet, als Quin sich bewußt wurde, daß dies die Worte Basher Somervilles waren, die da aus seinem eigenen Mund sprangen.
Ruth nickte nur kurz. «Aha», sagte sie. «Sie haben Nietzsche gelesen: <Wenn du zum Weibe gehst, vergiß die Peitsche nicht.>»
Quin hatte endgültig genug. Er rannte zur Tür und hielt sie auf. «Gehen Sie jetzt!» sagte er. «Und zwar schleunigst.»
Lady Plackett war stolz auf die Gästeliste zu ihrem intimen kleinen Abendessen: ein anerkannter Ichthyologe, soeben von einer Expedition zur Erforschung der Knochenfische am Titicacasee zurückgekehrt; ein Kunsthistoriker, der sich als Fachmann für russische Ikonen international einen Namen gemacht hatte; ein Philologe des Britischen Museums, der sieben chinesische Dialekte sprach; und Simeon LeClerque, der für seine Biographie Bischof Berkeleys einen Literaturpreis erhalten hatte. Aber der Ehrengast, der Mann, den sie neben Verena gesetzt hatte, war natürlich Professor Somerville, den sie bereits am Morgen dieses Tages in Thameside willkommen geheißen hatte.
Um sechs Uhr vergewisserte sich Lady Plackest ein letztes Mal, daß in der Küche alles reibungslos lief und daß die Dienstmädchen funktionierten, dann ging sie nach oben, um mit ihrer Tochter zu sprechen.
Verena, die etwas früher ein Bad genommen hatte, saß jetzt im Morgenrock an ihrem mit Bücherstapeln beladenen Schreibtisch.
«Wie kommst du zurecht, Kind?» fragte Lady Plackett fürsorg lich, denn sie war immer wieder gerührt, mit welcher Gewissenhaftigkeit sich Verena auf die Gäste des Hauses vorzubereiten pflegte.
«Ich bin fast fertig, Mama. Ich habe es sogar geschafft, mir Professor Somervilles ersten Aufsatz zu besorgen – den über die Dinosaurier-Lagerstätten von Tendaguru, und ich habe natürlich alle seine Bücher gelesen. Aber wenn ich auf der anderen Seite Sir Harold habe, muß ich meine Ichthyologiekenntnisse noch ein wenig auffrischen. Er ist gerade aus Südamerika zurückgekommen, nicht wahr?»
«Ja – vom Titicacasee. Nur denk daran, Kind – es sind die Knochenfische.»
Sir Harold war verheiratet, aber wirklich ein herausragender Wissenschaftler, und es war nur recht, daß Verena sich auf das Gespräch mit ihm vorbereitete. «Mit den russischen Ikonen werden wir, glaube ich, keine Schwierigkeiten haben – Professor Frank soll sehr redselig sein. Wenn du nur die Schlüsselnamen parat hast ...»
«Oh, die habe ich», versicherte Verena gelassen. «Andrej Rubljew ... Eitempera ...» Sie warf einen kurzen Blick auf ihre Aufzeichnungen. «Die Wirkung des Manierismus, die sich im siebzehnten Jahrhundert zeigte ...»
Lady Plackett, die eigentlich keine überschwengliche Person war, gab ihrer Tochter einen Kuß auf die Wange. «Auf dich kann ich mich immer verlassen.» An der Tür blieb sie stehen. «Professor Somerville solltest du vielleicht auch ein paar Fragen nach Bowmont stellen – über die neue Forstverordnung vielleicht. Ich werde selbstverständlich erwähnen, daß ich seine Tante kenne. Und mach dir wegen der chinesischen Phonetik kein Kopfzerbrechen, Liebes. Mr. Fellowes war nur ein Lückenbüßer– er ist dieser alte Professor vom Britischen Museum, und er sitzt genau am anderen Ende der Tafel.»
Wieder allein, widmete sich Verena den Knochenfischen, ehe sie noch einmal die Veröffentlichungen Professor Somervilles durchging. Auf der intellektuellen Seite würde er nichts an ihr bemängeln können, das war sicher. Nun war es zeit für sie, sich der anderen Seite ihrer Persönlichkeit anzunehmen: nicht der Wissenschaftlerin, sondern der Frau. Sie legte den Morgenrock ab und schlüpfte in das blaue Taftkleid, das Ruth so genau beschrieben hatte. Dann nahm sie die Lockenwickler aus ihrem Haar.
«Ich fand das absolut faszinierend!» sagte Verena und richtete ihren zwingenden Blick auf Professor Somerville. «Ihre Auffassung vom Wert der Lumbalkurvenmessungen zur Erkennung von Hominiden erscheint mir absolut überzeugend. Sie haben das in der Fußnote von Kapitel dreizehn so einleuchtend erklärt.»
Quin war angesichts dieses seltenen Phänomens, eines Lesers, der auch die Fußnoten las, bereit, beeindruckt zu sein. «Es ist immer noch recht spekulativ, aber interessanterweise hat sich in Java eine gewisse Bestätigung gefunden. Die amerikanische Expedition ...»
Verena schlug einen Moment erschrocken die Augen nieder. Sie hatte keine Zeit gehabt, über Java nachzulesen.
«Wie ich höre, sind Sie soeben in Wien geehrt worden», sagte sie, das Gespräch wieder in sicherere Bahnen lenkend. «Ich kann mir vorstellen, daß das ein hochinteressanter Aufenthalt war. Hitler scheint bei der deutschen Wirtschaft ja wahre Wunder gewirkt zu haben.»
«Ja.» Das von Kräuselfältchen begleitete Lächeln, das sie so bezaubert hatte, war erloschen. «Er hat auch noch auf anderen Gebieten wahre Wunder gewirkt. So hat er es beispielsweise im Handumdrehen geschafft, dreihundert Jahre deutscher Kultur von Grund auf zu vernichten.»
«Oh.» Doch so leicht ließ Verena sich nicht bange machen. Es dauerte nur einen Moment, dann hatte sie ihre Fassung wiedergefunden. «Wie sind Sie eigentlich auf den Gedanken gekommen, in Bowmont ein praktisches Seminar anzubieten, Professor Somerville?»
«Nun, die Fauna an dieser Küste ist erstaunlich vielgestaltig, und die Nordsee ist dort in den Buchten recht zahm. Außerdem befinden wir uns direkt gegenüber den Farne-Inseln, wo die Ornithologen schon seit geraumer Zeit sehr interessante Arbeit mit Brutkolonien leisten – kurz, der Ort eignet sich ideal dafür, auf verschiedenen Wissensgebieten praktische Erfahrung zu sammeln.»
«Auch auf Ihrem Gebiet? Sie werden auch dort sein?»
«Aber natürlich. Ich helfe Dr. Felton bei der meeresbiologischen Arbeit, aber ich werde auch Ausflüge zu den Kohleflözen unternehmen und hinunter nach Staithes in Yorkshire.»
«Und die Studenten wohnen getrennt – ich meine, nicht im Haus?»
«Das ist richtig. Ich habe ein ehemaliges Bootshaus und einige Fischerhütten am Strand zu diesem Zweck umbauen lassen. Meine Tante ist nicht mehr die Jüngste; ich könnte es ihr nicht zumuten, die Studenten im Haus aufzunehmen. Außerdem sind die jungen Leute lieber unabhängig.»
Verena runzelte die Stirn. Sie sah Probleme voraus. Aber da der Professor Anstalten machte, sich seiner Nachbarin zur Linken zuzuwenden, der unerwartet hübschen Mrs. LeClerque, Ehefrau des Berkeley-Biographen, stimmte sie eilig eine Lobeshymne über die Vorlesung dieses Morgens an.
«Ihre Analyse der Fehlinterpretationen Dr. Hackenstreichers fand ich faszinierend. Es scheint tatsächlich keinen Zweifel zu geben, daß der Mann sich von A bis Z etwas vorgemacht hat.»
«Freut mich, daß Sie es so sehen», sagte Quin, während ein verfroren aussehendes Mädchen ihm Salzkartoffeln reichte. «Miss Berger fand meine Auffassung nicht zwingend.»
«Ach. Aber sie verläßt uns ja, nicht wahr?»
«Ja.»
«Meine Mutter war froh, das zu hören», sagte Verena mit einem Blick zu Lady Plackett, die sich mit einem unerwarteten, in letzter Minute eingetroffenen Gast unterhielt, einem Musikologen, der eben aus New York zurückgekehrt war und dessen Zusage auf die Einladung in der Post verloren gegangen war. «Ich glaube, sie ist der Meinung, daß es einfach zu viele sind.»
«Zu viele?» Quin zog eine Augenbraue hoch.
«Ach, Sie wissen schon – Ausländer – Flüchtlinge. Sie findet, die Studienplätze sollten unseren eigenen Staatsbürgern vorbehalten bleiben.»
Lady Plackett, die den Erfolg ihrer Tochter bei Professor Somerville mit Genugtuung beobachtet hatte, mißachtete jetzt das Protokoll, um über den Tisch hinweg zu sprechen.
«Nun, natürlich wagt keiner, etwas zu sagen», bemerkte sie, «aber man kann sich des Gefühls nicht erwehren, daß sie hier allmählich das Regiment übernehmen. Natürlich kann man auch nicht rückhaltlos billigen, was Hitler da macht.»
«Nein», antwortete Quin. «Es gehörte schon einiges dazu, das zu billigen.»
«Aber sie ist in jedem Fall ein ziemlich merkwürdiges Mädchen», warf Verena ein. «Ich meine, sie führt Gespräche mit einem Schaf. Das hat doch etwas Schrulliges, ganz Unwissenschaftliches.»
«Jesus hat auch mit ihnen gesprochen», bemerkte der Philologe aus dem Britischen Museum, ein alter Mann mit weißem Bart, der unerwartet energisch sprach.
«Hm, ja, das ist wohl richtig», gestand Verena ihm zu. «Aber sie trägt ihm auf Deutsch Gedichte vor.»
«Was für Gedichte?» fragte der Berkeley-Biograph.
«Goethe», antwortete Quin kurz. Die Schafsaga begann ihm auf die Nerven zu fallen. «Wanderers Nachtlied.»
Der Philologe war angetan. «Eine ausgezeichnete Wahl. Auch wenn man vielleicht einen der pastoralen Lyriker des achtzehnten Jahrhunderts erwartet hätte. Zum Beispiel Matthias Claudius.»
Darauf folgte eine erstaunlich lebhafte Diskussion über die Frage, welche Art von Lyrik in deutscher Sprache Haus- und Hoftieren wohl am ehesten entsprechen würde, und obwohl dies genau die Art gelehrten Geplänkels war, das Lady Plackett nur zu gern förderte, hörte sie mit tief gerunzelter Stirn zu.
«War Goethe nicht der Mann, der sich dauernd in irgendeine Charlotte verliebt hat?» fragte die reizend dumme Ehefrau des Biographen.
Quin wandte sich ihr mit Erleichterung zu. «Richtig. Er hat das alles in einem Roman mit dem Titel Die Leiden des jungen Werthers verarbeitet, in dem der Held so unsterblich in eine Charlotte verliebt ist, daß er sich am Ende das Leben nimmt. Thackeray hat ein Gedicht darüber geschrieben.»
«War es gut?»
«Sehr gut», antwortete Quin. «Es fängt so an:
<Werther faßt' ne Lieb' zu Charlotte
Die ging über alle Worte hinaus:
Er sah die Schöne das erstemal
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