Nicht in das Wien der Operette und der Cremetörtchen, auch wenn er derlei Genüsse durchaus zu schätzen wußte, sondern in die strengen Arkadenhöfe der Universität im Schmuck der steinernen Büsten ehemaliger Lehrer. Da war Doppler neben Semmelweis zu sehen, dem «Retter der Mütter», der das Kindbettfieber gebannt hatte, und Billroth, der Chirurg, der mit Brahms befreundet gewesen war. In der Bibliothek der Hofburg drehte Quin den gewaltigen, auf goldenem Sockel stehenden Globus, vor dem Kaiser Ferdinand gestanden hatte, ehe er seine Forscher in die Welt hinaussandte. Und im Naturhistorischen Museum entdeckte er eine kleine, häßliche Figur mit dickem Bauch, die Venus von Willendorf, von Menschenhand geschaffen zu einer Zeit, als noch Mammut und Säbelzahntiger die Erde unsicher gemacht hatten.
Als das Semester zu Ende ging, luden die Bergers ihn in ihr Haus am Grundlsee ein.
«Es ist so schön dort», versicherte Ruth. «Der Regen und die Salamander – und wenn man sich auf dem Steg auf den Bauch legt, kann man durch die Ritzen massenhaft kleine Fischlein sehen, wie eingerahmt.»
Eigentlich wurde er in Cambridge zurückerwartet, aber er nahm die Einladung an und entpuppte sich als begabter Heidelbeerpflükker und kraftvoller Ruderer, der mit gleicher Begeisterung wie alle anderen «Wunderbar!» rief. Sie genossen seine Gesellschaft, und er seinerseits nahm herrliche Erinnerungen an das österreichische Landleben mit nach Hause: Tante Hilda, im knielangen gestreiften Badekostüm energisch schwimmend, ohne von der Stelle zu kommen; die betagte Mutter des Professors, im Rollstuhl einen unbefugt eingedrungenen Ziegenbock jagend; und Klaus Biberstein, zweiter Geiger des Ziller-Quartetts, der Leonie liebte, aber einen empfindlichen Magen hatte und gegen Mitternacht hinausschlich, um seinen heimlich unterschlagenen Knödel an die Fische zu verfüttern.
Ruth sah er relativ selten. In einer dieser Holzhütten, die österreichische Musiker so lieben, übte nämlich Vetter Heini sein Klavierspiel, und sie hatte alle Hände voll damit zu tun, ihn mit Krügen voll Milch und Tellern voll Keksen bei Kräften zu halten. Einmal traf er sie mit einem recht erstaunlichen Sortiment von Büchern am Seeufer an: Krafft-Ebings Psychopathia Sexualis, Louisa May Alcotts Kleine Frauen und ein grell aufgemachtes Cowboybuch mit dem Titel Jakes letzter Kampf.
Als er kam, war sie gerade mit gefurchter Stirn in den KrafftEbing vertieft.
«Du meine Güte!» sagte er. «Darfst du das denn lesen?»
Sie nickte. «Ich darf alles lesen. Leider muß ich aber auch alles essen, sogar Grießbrei.»
Am Abend vor seiner Abfahrt ließ Miss Kenmore sich nicht länger zurückhalten und teilte Quin mit, daß Ruth ihm nach dem Essen Keats' Ode an eine Nachtigall aufsagen werde.
«Sie kann das ganze Gedicht auswendig, Dr. Somerville», er klärte Miss Kenmore – und Quin gesellte sich, einen Seufzer unterdrückend, zur Familie ins Wohnzimmer mit den hohen Fenstern, die zum See geöffnet waren.
Ruth trug das helle Haar offen, ein Samtband hineingeschlungen – es war offensichtlich ein bedeutender Anlaß; doch zuerst einmal mußte Quin den Blick senken und hatte Mühe, seine Gesichtszüge zu beherrschen: sie trug die berühmten Worte mit unverkennbar schottischem Akzent vor.
Erst als sie zum vorletzten Vers kam, zu jenem Teil des Gedichts, der sie persönlich anzugehen schien, da er von ihrer Namensvetterin sprach, hob er, von einem Ton in ihrer Stimme aufmerksam gemacht, den Kopf.
«Vielleicht ist es das alte Lied, das Ruth ins Herz drang, als sie ohne Heimat war und Tränen ausgoß über fremdem Korn ...»
Abgedroschene Zeilen, Worte, die ihm die Schule verleidet hatte – und dennoch besaßen sie die Macht, ihn zu ergreifen.
Aber in keinem der Anwesenden, in keinem der Menschen, die Ruth liebten und sich von der Traurigkeit des Gedichts bewegen ließen, weder in Quin noch in Ruth selber erwachte auch nur der Schimmer einer Vorahnung. Niemand bekam eine Gänsehaut; kein Geist schwebte über das stille Wasser des Sees. Daß dieses behütete, geliebte Kind jemals gezwungen sein sollte, seine Heimat zu verlassen, war unvorstellbar.
Am nächsten Tag reiste Quin nach England ab. Die ganze Familie brachte ihn zur Bahn und lud ihn ein, bald wiederzukommen – aber acht Jahre vergingen, ehe er nach Wien zurückkehrte, und da kam er in eine andere Stadt, in eine andere Welt.
1
An dem Tag, als Hitler in Wien einmarschierte, befand Professor Somerville sich in Nordindien und führte die Mitglieder seiner Expedition, denen von Dankbarkeit nichts anzumerken war, bergabwärts durch eine Schlucht, die so eng war, daß überhängende Felsen alles bis auf einen schmalen Streifen des klaren blauen Himmels verdeckten.
«Niemals bekommen wir die Tiere da hinunter», hatte der belgische Geologe, den er hatte mitnehmen müssen, geunkt.
Doch Quin hatte nur vage erwidert, er glaube, es werde schon irgendwie gehen, womit er meinte, wenn alle sich mächtig anstrengten und genau taten, was er ihnen sagte, bestünde eine Chance – und jetzt weitete sich die Schlucht tatsächlich, sie kamen an den ersten Bäumen vorüber und marschierten wenig später durch Föhren- und Zedernwald, bis sie die Talsohle erreicht hatten.
«Hier schlagen wir unser Lager auf», sagte Quin und wies auf einen Platz, wo der ruhige Fluß, der gemächlich vorüberströmte, an überhängenden Weiden zerrte, und Orchideen und Lilien das Grasland sprenkelten.
Später, als die Maultiere weideten und der Rauch des Feuers in die stille Luft aufstieg, setzte er sich an einen Baumstamm und nahm seine alte Pfeife heraus. Er war dreißig Jahre alt. Furchen krausten seine Stirn und zogen sich von den Winkeln seines Mundes abwärts, die dunklen Augen konnten hart blicken, aber in diesem Moment war er glücklich. Den düsteren Prognosen des Belgiers zum Trotz, dessen Brille von einem Yak zertreten worden war; den Beteuerungen der Träger zum Trotz, daß es im Frühjahr unmöglich sei, die ferneren Täler des Siwalik-Gebirges zu erreichen, hatte er einen so reichen Fund an Miozän-Fossilien gemacht, wie man ihn sich nur wünschen konnte. In Holzwolle und Leinwand eingebettet, kostbarer als jeder Goldschatz aus fürstlichen Grabkammern, befanden sich in ihrem Gepäck die unverwechselbaren Überreste des Ramapithecus, eines der frühesten Vorfahren des Menschen.
Drei Wochen Marsch am Fluß entlang lagen noch vor ihnen, ehe sie ihre Funde auf Lastwagen laden und nach Simla hinunterbefördern konnten, aber die Probleme, die sie jetzt erwarteten, würden mehr sozialer Natur sein: Teezeremonien mit den Dorfbewohnern, Wanzen, Gastgeschenke ...
Ein Lämmergeier hing reglos am Himmel. Das Glockengeläut des weidenden Viehs schallte von einer fernen Wiese herüber und die klagenden Töne einer Flöte.
Quin schloß die Augen.
Nachricht von der Außenwelt wurde ihnen erst von einem Offizier der indischen Armee in dem Rasthaus oberhalb von Simla überbracht, die Meldungen nach ihrer Wichtigkeit geordnet: Oxford hatte die jährliche Ruderregatta gewonnen; ein Außenseiter namens Battleship hatte beim Derby in Aintree das gesamte Feld geschlagen.
«Ach, und Hitler hat Österreich annektiert. Er ist in Wien einmarschiert, und es wurde nicht ein einziger Schuß abgegeben.»
«Wollen Sie trotzdem noch hin?» fragte Milner, sein Forschungsassistent und vertrauter Freund.
«Ich weiß nicht.»
«Es ist ja doch eine große Ehre, denke ich. Umsonst bekommt man die Ehrendoktorwürde an so einer Universität sicher nicht.»
Quin zuckte die Achseln. Ihm war schon eine Reihe ähnlicher Auszeichnungen verliehen worden. Obwohl er sich drei Jahre zuvor hatte überreden lassen, einen Lehrstuhl in London zu übernehmen, war es ihm bisher gelungen, weiterhin seiner Forschungsarbeit in entlegenen Winkeln der Erde nachzugehen, und er hatte mit seinen Funden Glück gehabt.
«Berger hat es arrangiert. Er ist jetzt Dekan der naturwissenschaftlichen Fakultät. Wenn ich fahre, dann nur seinetwegen; mit den Nazis möchte ich nichts zu tun haben. Aber ich verdanke
Berger eine Menge, und seine Familie hat mich vor einigen Jahren sehr gastfreundlich aufgenommen. Ich habe einen Sommer bei ihnen verbracht.»
Er lächelte bei der Erinnerung an die lebhafte, liebenswürdige Familie Berger, an die opulenten Mahlzeiten in der Wiener Wohnung, das hübsche Holzhaus am Grundlsee. Er erinnerte sich einer zu Mißgeschicken neigenden Anthropologin, deren Monographie über die Mi-Mi aus dem Ruderboot in den See gefallen war, und eines kleinen Mädchens mit Zöpfen und einem biblischen Namen, den er nicht mehr wußte. Rahel? Hanna?
«Ich fahre», entschied er. «Wenn ich in Izmir von Bord gehe, habe ich Anschluß an den Orient-Expreß. Der Umweg wird mich höchstens zwei Tage kosten. Ich weiß, ich kann mich darauf verlassen, daß Sie beim Zoll alles gut erledigen werden. Sollte es doch Schwierigkeiten geben, so kläre ich sie, wenn ich komme.»
Die Tauben gab es noch, die wie von Musik getragen in den Lüften dieser musikbegeisterten Stadt kreisten; es gab noch das alte Kopfsteinpflaster, die engen Straßen, an deren Ende man immer die Türme des Stephansdoms sah; und auch den Geruch nach Vanille, der ihm in die Nase wehte, als er das Fenster des Taxis öffnete, und den Flieder und den Goldregen im Park.
Aber vor den Fenstern wehten jetzt Hakenkreuzfahnen, Erinnerung an den großen Empfang, den die Stadt dem Führer bereitet hatte, und an den Straßenecken standen kleine Trupps von SA- und SS-Männern. Als das Taxi in eine schmale Gasse einbog, sah er die häßlichen Schmierereien an den Türen jüdischer Geschäfte und die eingeschlagenen Fenster.
Im Hotel Sacher wartete das Zimmer, das er bestellt hatte. Man empfing ihn freundlich; im Foyer hing das vertraute Porträt des Kaisers, noch nicht verdrängt vom banalen Konterfei des Führers. Doch in der Bar unterhielten sich drei deutsche Offiziere in lautem Berlinerisch mit ihren wasserstoffblonden Freundinnen. Selbst wenn er Zeit für einen Drink gehabt hätte, würde sich Quin nicht zu ihnen gesellt haben. Tatsächlich jedoch blieb ihm überhaupt keine Zeit, denn der legendäre Orient-Expreß war wegen eines Maschinenschadens mit großer Verspätung angekommen. Nachdem er sich in aller Eile umgezogen hatte, fuhr er direkt zur Universität. Bergers Sekretärin hatte ihm vor seiner Abreise aus England geschrieben, daß man einen Talar für ihn mieten würde, und der Ablauf war bei solchen Verleihungszeremonien immer so ziemlich der gleiche. Man brauchte nur nach Art eines Pinguins seinem Vorgänger hinterherzutippeln.
Dennoch – es war später, als er gedacht hatte. Männer in Scharlachrot und Gold, in Schwarz und Purpurrot, in hermelinbesetzten Umhängen und mit Quasten geschmückten Kopfbedekkungen standen in Gruppen auf der Treppe; Heerscharen stolzer Verwandter im Sonntagsstaat schoben sich durch das gewaltige Portal.
«Ah, Professor Somerville, wir hatten schon auf Sie gewartet. Es ist alles vorbereitet.» Die Dekanatssekretärin begrüßte ihn mit Erleichterung. «Ich zeige Ihnen gleich den Umkleideraum. Der Dekan hatte eigentlich gehofft, Sie vor der Feier zu begrüßen, aber er ist bereits im Saal. Er erwartet Sie dann beim Empfang.»
«Ich freue mich darauf, ihn zu sehen.»
Quins Talar aus scharlachroter Seide lag auf einem Tisch neben einer Karte mit seinem Namen bereit. Das Samtbarett war zu groß, er schob es einfach etwas nach hinten und trat dann hinaus zu den übrigen Kandidaten, die im Vorzimmer auf den Beginn der Feier warteten.
Der Organist stimmte eine Passacaglia von Bach an, und zwischen einer dicken Professorin aus Argentinien und dem, wie ihm schien, ältesten Entomologen der Welt marschierte Quin feierlichen Schritts durch den Gang der großen Aula zum Podium.
Ganz wie erwartet, verlief die Feier in dieser Stadt, in der man selbst die Fiakerpferde herausputzte, mit höchstem Pomp. Männer standen von ihren Plätzen auf, verneigten sich voreinander und setzten sich wieder. Die Orgel brauste. Von den Wänden blickten längst verstorbene Geistesgrößen aus goldenen Rahmen herab.
Quin, der rechts vom Podium saß, versuchte in der gegenüberliegenden Reihe der Professoren Kurt Berger zu finden, doch der Hut der Professorin aus Argentinien versperrte ihm die Sicht.
Einer nach dem anderen wurden die Ehrenkandidaten aufgerufen. Auf Lateinisch verlas man die Liste ihrer Verdienste um die Wissenschaft, dann erhielten sie mit einer silbernen Wurst, die die Gründungsurkunde der Universität enthielt, einen Schlag auf die Schulter, und schließlich wurde ihnen eine Pergamentrolle überreicht. Als Quin dem Entomologen von seinem Stuhl aufhalf, fragte er sich, ob der alte Herr den Ritterschlag mit der silbernen Wurst überhaupt überleben würde. Aber er überlebte ihn. Dann wurde die dicke Wissenschaftlerin aus Argentinien aufgerufen, und nun hatte Quin freie Sicht. Er suchte unter den prunkvoll gekleideten Professoren nach Kurt Berger, konnte ihn jedoch nicht entdekken. Acht Jahre waren vergangen, seit sie einander das letztemal gesehen hatten, aber er würde das kluge, dunkle Gesicht doch gewiß auf Anhieb erkennen?!
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