Erst als Ruths Freunde aufbrachen, nahm sie Sam auf die Seite. «Liegt die Organisation des Seminars in Dr. Feltons Händen?»
«Ja. Er ist ein sehr netter Mann, und er möchte unbedingt, daß Ruth mitkommt.»
«Und Professor Somerville? Möchte er auch unbedingt, daß Ruth mitkommt?»
Sam zog die Augenbrauen zusammen. «Bestimmt. Sie ist ja eine seiner besten Studentinnen. Aber er ist merkwürdig – sie sind beide merkwürdig. Ich glaube, sie haben kaum ein Wort miteinander gewechselt, seit Ruth da ist.»
Nun hatte Leonie die Informationen, die sie gebraucht hatte. In praktischer Hinsicht war alles klar – aber wie sollte sie mit ihrer eigensinnigen Tochter fertigwerden?
«Mishak, du mußt mir helfen», sagte sie an diesem Abend, als sie mit ihm allein im Wohnzimmer saß, das durch die Anwesenheit des Klaviers nicht gemütlicher geworden war.
Mishak nahm seine langstielige Pfeife aus dem Mund und inspizierte ihren Kopf, um zu sehen, ob sich da nicht noch ein paar frische Tabakfädchen finden ließen. Aber es waren keine da.
«Du willst deine Brosche verkaufen», konstatierte er.
«Ja. Aber wie kriege ich Ruth dazu, daß sie mitfährt?»
«Überlaß das mir», sagte Mishak. Und Leonie, die genau das vorgehabt hatte, gab ihm einen Kuß und ging zu Bett.
17
Quin hatte am Verhalten der Leute, die in Bowmont für ihn arbeiteten, nie etwas auszusetzen gefunden, aber als er jetzt durch das Dorf und dann den Hügel hinauf fuhr, hatte er den Eindruck, daß alle ihm mit außergewöhnlicher Liebenswürdigkeit entgegenkamen. Trotz des strömenden Regens, den der Wind vom Meer herantrieb, kamen Mrs. Carter, die das Postamt leitete, der Schmied und der alte Sutherland oben an der Pforte auf die Straße heraus, um ihm lächelnd zuzuwinken, und mehrmals wurde ihm, als er anhielt, die Hand mit einer Herzlichkeit geschüttelt, die anzudeuten schien, daß eine besondere Freude, an der sie alle teilhatten, auf ihn wartete.
»Aber Sie werden weiter wollen», sagte Mrs. Ridley, die Frau des Verwalters eines seiner Höfe, nachdem sie einige freundliche Worte gewechselt hatten. «Sie haben es heute sicher eilig, nach Hause zu kommen.»
Bei seiner Ankunft in Bowmont traf er Turton ähnlich wohlwollender Stimmung an. Der Butler begrüßte ihn als Master Quinton – so hatte man ihn seit seiner Kindheit nicht mehr genannt! – und teilte ihm strahlend vor Herzlichkeit mit, daß die Cocktails in einer halben Stunde im Salon serviert würden, ihm also zum Umkleiden hinreichend Zeit bliebe.
Das allein war Hinweis auf eine Art der Förmlichkeit, wie Quin sie im allgemeinen nicht gestattete. Wenn er mit seinen Studenten hier war, das hatte er von Anfang an klargestellt, dann nicht um zu feiern, sondern um zu arbeiten. Doch als er ins Haus ging, stieß er auf weitere Anzeichen dafür, daß Besonderes in der Luft lag. Der große Saal von Bowmont mit seiner recht eigenwilligen Sammlung von Breitschwertern, seltsamen Gobelins und einem Wiesel, das der Basher selbst ausgestopft hatte, allerdings nicht sehr erfolgreich, war kein Ort, an dem man sich gern aufhielt. Heute jedoch brannte der Überzeugung seiner Tante zum Trotz, daß Wärme im Haus Verweichlichung und Verfall förderten, ein loderndes Feuer im großen offenen Kamin, und obwohl kaum je Blumen geschnitten und ins Haus gebracht wurden, da Frances ihre Pflanzen lieber ungestört wachsen ließ, war die chinesische Vase auf der alten Eichentruhe mit Dahlien und Chrysanthemen gefüllt.
Das Kostüm seiner Tante schließlich, als diese herauskam, um ihn zu begrüßen, bestätigte Quins Befürchtungen. Frances zog sich stets zum Abendessen um; das hieß, daß sie ihren formlosen Tweedrock gegen einen etwas längeren Rock aus rostbrauner Seide vertauschte – es gab jedoch ein Ensemble, das seit Jahrzehnten den besonderen Anlaß signalisierte: ein schwarzes Chenillekleid, dessen nicht gerade unzüchtig tiefer Ausschnitt mit einem orientalischen Schal verhüllt zu werden pflegte. In dieser Aufmachung kam Frances ihrem Neffen jetzt entgegen, und seine letzte Hoffnung auf einen ruhigen Abend der Vorbereitung auf das Seminar erlosch.
«Du siehst großartig aus», sagte er lächelnd zu ihr. «Haben wir Besuch?»
«Aber das weißt du doch», antwortete Frances und neigte sich ihm zu, um ihm den gewohnten Kuß auf die Wange zu geben. «Ich habe es dir geschrieben. Sie werden jeden Moment herunterkommen – du hast gerade noch Zeit, dich umzuziehen.»
«Leider weiß ich gar nichts, Tante Frances. Ich komme direkt aus Yorkshire. Was hast du mir denn geschrieben?»
Frances runzelte die Stirn. Sie hatte gehofft, Quin würde wohlvorbereitet und guter Stimmung eintreffen. «Daß ich die Placketts eingeladen habe – Verena und ihre Mutter.» Als Quin nichts sagte, fügte sie hinzu: «Ich kannte Lady Plackett als junges Mädchen – das wird sie dir doch erzählt haben? Wir waren zusammen im Pensionat.»
Sie sah Quin an und fühlte sich zutiefst unbehaglich. Die Anzeichen des Mißvergnügens waren ihr nach zwanzig Jahren der Gemeinsamkeit nur allzu vertraut: Quins Nase war schmal geworden, auf seiner Stirn hatten sich tiefe Falten gebildet.
«Verena ist eine meiner Studentinnen, Tante Frances. Es wäre absolut nicht in Ordnung, wenn ich sie anders behandelte als die restlichen Studenten.»
Frances war erleichtert. Es war also nur die Furcht, den Anschein von Bevorzugung zu wecken, die ihn zurückhielt.
«Ja, natürlich, das ist mir klar, und ihr ebenfalls. Sie hat bereits ausdrücklich gesagt, daß sie keinerlei Sonderbehandlung bei der Arbeit draußen erwartet. Aber Lady Plackett ist eine alte Freundin von mir – es wäre äußerst merkwürdig, wenn ich mich weigerte, ihre Tochter bei mir im Haus aufzunehmen.»
Quin nickte, lächelte – das unwirsche Gesicht verwandelte sich wieder in das eines umgänglichen Menschen. Schon hatte er Gewissensbisse: Frances mußte sich einsamer fühlen, als ihm bewußt war, wenn sie sogar bereit war, die Placketts bei sich aufzunehmen. Vielleicht war alles nur Maske gewesen, ihre Ungeselligkeit, ihr ausgesprochener Wunsch, allein zu sein – und er fragte sich, was er seit langem nicht mehr getan hatte, wie tief eigentlich jene Zurückweisung des Verlobten sie damals getroffen hatte.
«Natürlich, Tante Frances, ist schon in Ordnung. Mach dir keine Gedanken. Ich gehe jetzt nach oben und ziehe mich um.»
Doch noch auf dem Weg zu seinem Turmzimmer hörte er irgendwo über sich ein Husten. Es war nicht etwa ein scheues, zaghaftes Hüsteln; es war gewissermaßen ein Fanfarenstoß von einem Husten – und Quin, der suchend aufwärts sah, gewahrte jetzt eine Gestalt, die auf dem oberen Treppenabsatz stand.
Verena, die so viel gelesen hatte, hatte auch gelesen, daß kein Mann dem Anblick einer schönen Frau widerstehen kann, die eine hochherrschaftliche Treppe herunterschwebt. Sie hatte Quins Ankunft von ihrem Schlafzimmerfenster aus beobachtet und legte nun, schlicht, aber gefällig in flaschengrünen Voile gekleidet, die eine Hand auf das geschnitzte Geländer, raffte mit der anderen ihren Rock und begann, während ihre Mutter selbstlos in den Kulissen wartete, den anmutigen Abstieg.
Zunächst ging es glänzend. Nicht nur der lange Rücken und die langen Beine der Croft-Ellis' begünstigten sie, sondern auch der Drill, dem man sie vor ihrer Vorstellung bei Hof unterworfen hatte. Verena, die ihre glitzerdurchwirkte Schleppe mit sicherem Ziel nach rückwärts geworfen hatte, als sie vor Ihren Majestäten zurückgewichen war, stieg jetzt mit würdevoller Grazie die Stufen zu ihrem Gastgeber hinunter.
Sie war fast unten. Quin stand, wie sie erwartet hatte, mit nach hinten geneigtem Kopf und ließ sie nicht aus den Augen. Noch war sie nicht bereit, die Worte zu sagen, die sie sich überlegt hatte, aber gleich würde es soweit sein. «Sie können sich nicht vorstellen, was für eine Freude es ist, nach allem, was wir über Bowmont gehört haben, hier sein zu dürfen.» So hatte sie ihre kurze, aber herzliche Rede geplant.
Doch sie kam nicht dazu, die wohlgesetzten Worte an den Mann zu bringen. Irgend jemand – Frances hatte das zweite Hausmädchen in Verdacht, deren Vater ein Sozialist war – hatte nämlich eine Tür geöffnet.
Das Hündchen interessierte sich eigentlich nicht für Verena, es wollte nur zu Frances, aber als es an der Treppe vorüberflitzte, konnte es seinem Drang nach Höherem nicht widerstehen. Mit einem entschlossenen Knurren nahm es Anlauf und sprang und schaffte es, im selben Moment die unterste Stufe zu erklimmen, als Verena ihren hoheitsvollen Abstieg vollendete.
Verena trat nicht auf das Hündchen, und sie schlug auch nicht platt hin. Das wäre jeder anderen so ergangen, nicht aber Verena. Immerhin stolperte sie arg, warf einen Arm nach vorn, taumelte – und fiel recht ungraziös auf die Knie.
Quin war selbstverständlich augenblicklich zur Stelle, um ihr aufzuhelfen und sie zu einem Sessel zu führen, wo sie das ihr geschehene Mißgeschick sogleich herunterspielte.
«Es ist nichts», beteuerte sie, wie tapfere englische Mädchen das in Schulbüchern seit Generationen tun, auch wenn der Schmerz des verstauchten Knöchels kaum auszuhalten ist.
Dem Hündchen gegenüber Nachsicht walten zu lassen war schwieriger, zumal sie sich bei dem Sturz das Innenfutter ihres Kleides zerrissen hatte, und Lady Plackett, die ihrer Tochter eiligst zu Hilfe kam, machte gar nicht erst den Versuch.
«Was ist denn das für eine mißratene Kreatur!» rief sie. «Gehört sie einem der Angestellten?»
Frances, die sich zu Tode schämte, erklärte, das Hündchen werde am folgenden Tag an den Zimmermann im Dorf abgegeben werden, und versuchte es einzufangen. Aber Quin erhaschte den kleinen Hund vor ihr, hielt ihn an den Hinterbeinen in die Höhe und musterte ihn mit der Aufmerksamkeit, die Zoologen im allgemeinen einer bisher unbeschriebenen Spezies zu zollen pflegen.
«Erstaunlich!» sagte er und sah seine Tante grinsend an. «Dieser Bart am Unterbauch ist bestimmt einmalig, nicht? Weiß Barker schon von seinem Glück?»
Frances, die seine Unbekümmertheit gar nicht erheiternd fand, antwortete, Barker sei mit den Reparaturen der Kirchenstühle im Verzug und würde schon wissen, was seine Pflicht sei. Dann trug sie den Hund hinaus.
Trotz dieses wenig verheißungsvollen Beginns nahm das Abendessen einen erfreulichen Verlauf, und Frances Somerville, die in der Stille ihres Schlafzimmers den Abend einer kritischen Betrachtung unterzog, hatte allen Grund, zufrieden zu sein. Vielleicht hatte Verenas verunglückter Auftritt Quins ritterliche Instinkte geweckt, auf jeden Fall war er den ganzen Abend über aufmerksam und charmant, und Verena verhielt sich ganz so, wie es sich gehörte. Sie bewunderte die Porträts der Somervilles, behauptete sogar, der Basher habe einen ausgesprochenen Charakterkopf gehabt; sie konnte sich intelligent über die Landwirtschaft unterhalten, da ihr Onkel in Rutland nicht nur Schafe züchtete, sondern auch hochklassige Rinderherden besaß. Und als Frances auf bemüht scherzhafte Art erwähnte, daß Quin die Absicht habe, Bowmont dem National Trust zu vermachen, hatten die Damen Plackett genau mit der Ungläubigkeit und dem Entsetzen reagiert, die sie sich erhofft hatte.
«Das kann doch nicht Ihr Ernst sein, Professor!» hatte Lady Plackett gerufen. Und Verena hatte die recht unverblümte Bemerkung riskiert: «Seien Sie mir nicht böse, aber da käme ich mir vor, als beginge ich Verrat an meinen ungeborenen Kindern.»
Tatsächlich sprach Verena an diesem Abend all das aus, was Frances dachte. Verena hatte gesunde Ansichten zum Thema Flüchtlinge und hatte, als Quin aus dem Zimmer gegangen war, ihrer Befriedigung darüber Ausdruck gegeben, daß eine Österreicherin ihres Jahrgangs nicht an dieser Exkursion teilnehmen würde. Sie konnte eine Verbindung zwischen den Croft-Ellis' und den Somervilles herstellen, eine sehr entfernte zwar nur, die aber dennoch beruhigend war, und was sie über das Hündchen zu sagen wußte, entsprach genau dem, was Frances selbst gedacht hatte daß es in solchen Fällen wirklich barmherziger sei, die kleinen Dinger gleich nach der Geburt zu ertränken.
«Ein sehr angenehmes junges Mädchen», urteilte Frances, als Martha mit der allabendlichen heißen Schokolade in ihr Zimmer trat.
Ein mittelalterlicher Mönch mit dem Ziel, ein Leben in Armut und Askese zu führen, hätte sich in Frances Somervilles Schlafzimmer wie zu Hause gefühlt. Die Fenster waren geöffnet und ließen die feuchte Nachtluft herein, die Teppiche auf den nackten Dielenbrettern waren abgetreten, die Matratze in dem Himmelbett war schon voller Knubbel gewesen, als Frances nach Bowmont gekommen war, und war es immer noch.
Martha stimmte ihrer Herrin zu. «Ja, auf uns unten hat sie auch einen guten Eindruck gemacht», sagte sie und hielt es nicht für nötig hinzuzufügen, daß die Dienerschaft auch ein Kalb mit zwei Köpfen akzeptiert hätte, wenn dadurch gewährleistet gewesen wäre, daß Bowmont in Privatbesitz blieb und man seine Arbeit nicht verlor. «Soll ich Ihnen nicht eine Wärmflasche bringen?» meinte sie jetzt, da sie ihre Herrin trotz des gelungenen Abends müde und abgespannt aussehend fand und wußte, daß die Kälte für ihre Arthritis nicht gut war.
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