«Schauen Sie!» rief sie zum hundertsten Mal. «Schauen Sie, Smaragde!»

Er hielt ihr beide Hände hin, und sie schüttete die glatten grünen Steine in sie hinein.

«Könnten es wirklich Smaragde sein?» fragte sie. «Meine Großtante hatte ein Smaragdarmband, und die Steine sahen genauso aus.»

Er lachte sie nicht aus. Es gab Halbedelsteine an dieser Küste: Karneol, Achat, Amethyst. Sachte und behutsam holte er sie aus ihrem Traum zurück, indem er sagte: «Das kann nur das Meer – Steine zu solcher Glätte und Vollendung schleifen. Man könnte den besten Juwelier der Welt beauftragen und ihm ein ganzes Jahr Zeit geben, er würde dieser Vollkommenheit nicht einmal nahekommen.»

Er nahm einen der Steine und hielt ihn ans Licht, und als sie näher kam, um ihn zu betrachten, dachte er, wie gut Smaragde sich zu ihren dunklen Augen und dem lohfarbenen Haar ausnehmen würden.

Doch nun erschien Verena, die sich nie weit von Quin aufhielt, an ihrer Seite. «Du meine Güte, Ruth!» rief sie mit einem kurzen Blick aus zusammengekniffenen Augen. «Das sind doch bloß Flaschenscherben – das mußt du doch gesehen haben. Auch in Wien wird es wohl Flaschen geben.»

Sie sah Quin an, um mit ihm zusammen über Ruths Dummheit zu lachen – aber er hatte sich abgewandt und legte die Steine so sorgsam wieder in Ruths geöffnete Hände, als handelte es sich wirklich um kostbare Edelsteine.

«Flaschen können eine große Bedeutung haben», sagte er, ihr in die Augen sehend. «Das brauche ich Ihnen ja nicht zu sagen.»

Sie lächelte errötend und ging weg, glücklich darüber, daß er sich erinnerte, was sie ihm damals an der Donau erzählt hatte.

Um die Mittagszeit kam Verena zu Quin und sagte: «Sollten wir nicht zum Haus hinaufgehen? Soviel ich weiß, gibt es um ein Uhr Mittagessen.»

Sie bekam eine Abfuhr.

«Ja, ja, gehen Sie nur hinauf. Meine Tante legt Wert auf Pünktlichkeit. Ich bleibe hier unten – ich lasse das Mittagessen meistens ausfallen.»

Die Bemerkung löste bei Elke Sonderstrom beträchtliche Erheiterung aus; sie hatte mit Quins angeblicher Gewohnheit, das Mittagessen ausfallen zu lassen, ihre eigenen Erfahrungen gemacht. Jetzt holte sie sich zwei Mädchen als Hilfen und kehrte mit ihnen zum Bootshaus zurück, wo sie eine Kette Würstchen auspackte, die Pilly sogleich mit erstaunlichem Geschick in der Pfanne zu braten begann.

«Wieso hast du vor Würsten keine Angst?» fragte Janet, als Pilly die bruzzelnden, fettspeienden Dinger routiniert wendete. «Die sind doch viel gefährlicher als unsere Versuche.»

«Würstebraten muß ich nicht erst lernen», antwortete Pilly.

Aber am Nachmittag spielte sich Verena wieder in den Vordergrund. Quin fuhr jeweils mit einer Ladung Studenten in die Bucht hinaus, um ihnen zu zeigen, wie man nach Plankton dreggte, und Verena, die in Indien gesegelt war und bei der Regatta von Cowes der Crew ihres Vetters angehört hatte, war in ihrem Element. Sie brauchte nur einmal kurz an der Reißleine des Außenbordmotors zu ziehen, und schon sprang er knatternd an; sie wußte genau, wie man mit Segeln umging, sie ruderte wie eine Amazone, so daß es ganz natürlich war, daß sie an der Seite des Professors blieb, um zu helfen, während die anderen Studenten die Plätze wechselten.

Da sie sich ihrer Position so sicher war, konnte sie ihren Kommilitonen gegenüber um so großzügiger sein; sie half ihnen ins Boot und gab ihnen Tips, wie sie sich im Boot zu verhalten hatten, so daß Quin sich einzig darum zu kümmern brauchte, ihnen den richtigen Umgang mit den Netzen zu zeigen. Erst als Ruth ins Boot stieg und sich erbot, ein Ruder zu übernehmen, vergaß Verena ihre Hochherzigkeit.

«Kannst du überhaupt rudern?» fragte sie hochnäsig. «Ich kann mir nicht vorstellen, daß in Wien viel Wassersport getrieben wird.»

Ruth verkniff sich jedes Wort, obwohl Verena ein mörderisches Tempo vorlegte. Sie war ganz beseelt von einem neuen und noblen Entschluß, den sie noch am selben Abend ihren Freunden mitteilte.

«Ich habe beschlossen», verkündete sie, «Verena Plackett von jetzt an zu lieben.»

Die Studenten saßen am offenen Lagerfeuer und brieten Kartoffeln. Die dramatische Kulisse von Meer und Mondschein entsprach ganz Ruths erhabener Stimmung. Nur Kenneth Easton fehlte. Er hatte sich zurückgezogen; zu schwer war es ihm geworden, mitansehen zu müssen, wie Verena zum Abendessen mit dem Professor zum Haus hinaufgegangen war. Kenneth hatte in dem Spiegelscherben, den die Studenten zum Rasieren benutzten, eingehend sein Gesicht studiert und dabei festgestellt, wieviel regelmäßiger seine Gesichtszüge waren als die des Professors, wieviel gerader seine Nase. Und doch war klar, daß Verena den Professor bevorzugte. Allein jetzt und voller Melancholie blickte er zu den erleuchteten Fenstern von Bowmont hinauf und seufzte tief.

«Wirklich», beteuerte Ruth, als ihre Freunde sie ungläubig anstarrten. «Es ist mir ernst.»

«Du bist ja verrückt», stellte Janet fest und spießte eine weitere Kartoffel auf. «Total plemplem. Verena ist doch ein einziger Graus.»

«Ja, das weiß ich», bestätigte Ruth. «Darum hat es überhaupt keinen Sinn sich zu bemühen, sie zu mögen. Das hieße, das Unmögliche versuchen. Aber meine Eltern hatten in Wien einen Freund, einen alten Philosophen, der uns oft besuchte und der immer sagte: <Was man nicht mögen kann, das muß man lieben.>»

«Das versteh' ich nicht», bekannte Pilly bekümmert – und ein magerer Junge mit Brille sagte, ihm ginge es genauso.

«Na ja, es heißt, wenn man jemand nicht mögen kann, dann kann man ihn ganz tief drinnen dennoch lieben», erklärte Ruth. «Ja, je weniger man jemanden leiden mag, desto wichtiger ist es, daß man ihn liebt. Man muß ihn lieben, als wäre er der eigene Bruder oder die eigene Schwester – als Geschöpf dieser Welt eben. Als Mitsünder.» In ihrer Aufregung ließ Ruth ihre Kartoffel in den Sand fallen.

Sam sagte, obwohl er wußte, daß eine solche Bemerkung zu einem edlen Ritter nicht paßte, sie quassle Unsinn, und Janet erklärte, Sünder seien im Vergleich zu Verena die reinsten Kuscheltiere. «Sünder sind wenigstens menschlich», stellte sie fest.

Nichts jedoch konnte Ruth von ihrem noblen Entschluß abbringen, und sie zitierte zur Bekräftigung noch einen weisen Europäer, Dr. Freud nämlich, der gesagt hatte, liebenswert könne eine Sache erst werden, wenn sie geliebt werde. «Ihr werdet schon sehen», sagte sie. «Ich fange gleich morgen an, wenn wir nach Howcroft fahren. Den ganzen Tag werde ich sie lieben.»


«Barker hat ihn also genommen?» fragte Frances Somerville am nächsten Morgen, als sie der eben aus dem Dorf zurückkehrenden Martha begegnete. «Er ist einverstanden, ja?»

Das Hündchen war noch vor dem Frühstück zum Dorfzimmermann gebracht worden. Doch jetzt schüttelte Martha den Kopf. «Nein, er hat ihn nicht genommen. Er will ihn nicht haben.»

«Wie bitte? Er will ihn nicht haben?» Frances war fassungslos. «Hast du ihn darauf hingewiesen, daß er mit seiner Arbeit an den Kirchenstühlen zwei Monate im Rückstand ist?»

«O ja. Er hat gesagt, daß seine Frau Asthma hat, außerdem erwartet sie ein Kind, und der Arzt hat gesagt, keine behaarten Tiere!»

«Ich muß sagen, ich finde das sehr sonderbar. Früher hätten solche Leute von Asthma nicht einmal gehört gehabt. Man muß sich wirklich fragen, ob die allgemeine Schulbildung so vorteilhaft ist.» Sie bückte sich nach ihrer kleinen Gartenschaufel. «Und wo ist er jetzt?»

«Er hat mir angeboten, ihn zu erschießen», berichtete Martha. «Er hat gesagt, er würde überhaupt nichts spüren. Vorstellen kann ich's mir; er hat ja in seiner Jugend genug gewildert, Barker, meine ich. Der könnte einen Hasen auf fünfzig Meter schießen.»

Frances richtete sich auf. Ihr Gesicht war ausdruckslos. «Und du hast zugestimmt? Er hat ihn erschossen?»

«Nein», entgegnete Martha kurz und sah, wie die Hand ihrer Herrin, die die Schaufel hielt, sich entspannte. «Wenn man die Jungen gleich nach der Geburt, noch ehe sie die Augen aufgemacht haben, ertränkt, ist das vielleicht in Ordnung; aber sie kaltblütig erschießen – das ist was ganz anderes. Wenn Sie den Hund erschießen lassen wollen, müssen Sie den Befehl schon selber geben.»

«Wo ist er denn jetzt?»

«Eine von den Studentinnen hat ihn mitgenommen. Ich hab sie getroffen, als sie raufkam, um die Milch zu holen. Sie hat gesagt, sie behält ihn bei sich. Die ganze Korona fährt heute nach Howcroft, und ich hab mir gedacht, da Lady Plackett das Hündchen sowieso nicht besonders mag und außerdem Besuch kommt, ist das eine gute Lösung.»

Frances nickte. Die Rothleys und die Stanton-Derbys wollten abends zum Cocktail kommen, um Verena kennenzulernen, und sie war auf weitere scherzhafte Bemerkungen über das Hündchen nicht erpicht. Als sie über den Rasen davongehen wollte, fragte Martha unvermittelt: «Wer ist eigentlich dieser Richard Wagner? Ein Musiker?»

«Er war ein Komponist. Ein sehr geräuschvoller Komponist mit einem bedauerlichen Privatleben. Warum?»

«Dieses Mädchen – die Studentin, die das Hündchen mitgenommen hat – sie hat gesagt, er hätte eine Stieftochter mit solchen Augen gehabt – dieser Wagner. Eines blau, das andere braun, genau wie das Hündchen. Sie hieß Daniella.»

«Die Studentin?»

«Nein, die Stieftochter.»

Frances hielt es für klüger, die Sache nicht weiterzuverfolgen, und schlug den Weg zum Garten ein.


Ruth war mittlerweile im Bootshaus angekommen.

«Was ist denn das?» fragte Elke Sonderstrom, als sie Comelys Kind der Liebe sah, das mit tolpatschigem Enthusiasmus über ihre Füße hopste.

«Es ist ein Mischling», gestand Ruth.

Das könne sie sehen, meinte Elke und entzog dem eifrig knabbernden Hündchen ihren Schuh.

«Aber ein richtiges kleines Temperamentsbündel», fügte Ruth hinzu. «Wenn auch nicht gerade eine Schönheit.»

«Nein, das bestimmt nicht.»

«Voltaire war auch nicht schön», erzählte Ruth, «aber er pflegte zu sagen, wenn man ihm eine halbe Stunde Zeit gäbe, sein Gesicht durch Gespräche vergessen zu machen, dann könnte er selbst die Königin von Frankreich verführen.»

«In diesem Fall hier wäre aber mehr als eine halbe Stunde nötig», sagte Elke und bat Ruth, ihr die Hämmer zu reichen, die sie für die bevorstehende Exkursion auf ihre Tauglichkeit prüfen wollte.

Ruth kam der Aufforderung nach und sagte nach einer kleinen Pause: «Ich habe mir gedacht, wir könnten den Kleinen doch im Bus mitnehmen. Martha hat gesagt, er fährt gern Auto und es wird ihm nie übel.»

«Fragen Sie den Professor», antwortete Elke und verschwand im Labor.

Da Quin gerade in diesem Moment den Weg herunterkam, lief Ruth ihm entgegen und wiederholte ihre Bitte.

«Er kann uns vielleicht nützlich sein», sagte sie.

«Ach ja?» Quin zog eine Augenbraue hoch. «Und inwiefern, wenn ich fragen darf?»

«Na ja, Hunde graben doch immer irgendwelche Knochen aus. Es könnte sein, daß er einen interessanten Fund macht. Den Oberschenkelknochen eines Torosaurus zum Beispiel.»

«Das wäre in den Kohleflözen wahrhaftig ein interessanter Fund», sagte Quin trocken. Doch als er Ruths Gesicht sah, ließ er sich erweichen. «Na schön, da oben im Hochmoor kann er nicht viel anstellen. Aber sorgen Sie dafür, daß er uns nicht in die Quere kommt.»

Als der Bus die Gesellschaft in Howcroft Point absetzte, hatte das Hündchen bereits eine Gefolgschaft um sich versammelt, um die Voltaire es beneidet hätte.

Es war wieder ein herrlicher Tag. Auf den Felsen wuchsen Ginster und Heidekraut, die Brachvögel riefen – aber jetzt mußte hart gearbeitet werden. In diesen kohlehaltigen Felsausläufer nämlich, der sich vom Hochmoor zum Meer hinauszog, waren jene Geschöpfe eingebettet, die für alles nachfolgende Leben auf der Erde bestimmend gewesen waren. Bruchstücke uralter Korallen, spiraliger Mollusken, jeweils für bestimmte geologische Schichten bezeichnend, mußten aus dem Felsen gehauen, etikettiert, eingesackt und ins Labor zurückgebracht werden. Und Ruth, so eifrig darauf bedacht, ein immer besserer Mensch zu werden, war vom Glück begünstigt: Der Gelegenheiten, Verena Plackett zu lieben, war kein Ende. Quin Somerville stets dicht auf den Fersen, bearbeitete sie den Fels zielstrebig mit ihrem funkelnagelneuen Hammer und hämmerte nicht nur ein versteinertes Exemplar der Familie caninia aus dem Stein, sondern auch eine Seelilie komplett mit Armen – und lachte jedesmal fröhlich, wenn Pilly ein Wort falsch aussprach.

Da Flut war, machten sie im Heidekraut über dem Strand Mittagspause, bei der das Hündchen mit belegten Broten gefüttert wurde, in Kaninchenlöchern stöberte und dann urplötzlich mitten auf Huws Sammelbeutel in tiefen Schlaf fiel. Die meisten der Studenten waren ebenfalls froh, alle viere von sich strecken zu können, aber Ruth kletterte lieber zur Höhe des Hügels hinauf, von wo sie einen weiten Blick über die Küste und die Hochmoore hatte, über denen noch ein erikafarbener Schimmer lag. Erst als ihr plötzlich feiner Tabakduft in die Nase wehte, merkte sie, daß sie nicht allein war.