«Beeindruckend, nicht?» sagte Quin mit einer ausholenden Geste zu den flach im Wasser liegenden Inseln im Süden und der zackigen Spitze des Howcroft Rock. «Es freut mich, daß Sie es in dieser Stimmung sehen – im Herbst und im Winter sind die Farben am schönsten.»
Sie nickte, ohne etwas zu sagen. Ein paar Minuten lang standen sie schweigend Seite an Seite und sahen zum tiefblauen Wasser hinunter, das sich weiß schäumend an den Felsen brach. Über ihnen rief ein Brachhuhn, und ein zarter Vanilleduft von einem spätblühenden Ginsterbusch zog durch die Luft.
«Als ich zum erstenmal hierher kam, war ich gerade zehn», sagte Quin. «Ich war von Bowmont aus geradelt. Mit meinem Hammer und meinem Fossilienbuch für Jungen. Ich fing an, ein bißchen am Stein herumzuklopfen – und plötzlich war sie da, eine vollkommene Zikade, so klar und unverwechselbar wie die Wahrheit selbst. Und da wußte ich plötzlich, daß ich unsterblich bin – daß ich, ich persönlich, das Rätsel des Universums lösen würde.»
«Ja, das kenne ich – dieses Gefühl, daß einem etwas bestimmt ist.»
«Bei Ihnen war das wohl die Musik», sagte er und wartete resigniert darauf, daß der allgegenwärtige Mozart mit Heini im Schlepptau wieder einmal seinen Auftritt machen würde.
«Ja. Das erstemal, als ich die Zillers spielen hörte. Aber ...» Sie schüttelte den Kopf. «Wissen Sie, den Grundlsee habe ich geliebt, wirklich geliebt, das Wasser, die Landschaft, die Beeren, die Blumen, aber wenn wir dorthin gefahren sind, war das immer noch Teil des Lebens, das ich gewöhnt war – mit denselben Menschen ... denselben Gesprächen ... über die Universität und die Psychoanalyse und so. Aber hier, dieser erste Morgen am Meer ... und jetzt auch noch ... ich weiß gar nicht, was geschehen ist.» Sie sah ihn an, und er gewahrte die Verwirrung in ihrem Gesicht. «Ich habe ein Gefühl, als würde ich mein Leben lang nach diesem Ort hier Heimweh haben ... nach dem Meer. Aber wie ist das möglich? Was hat dieser Platz hier mit mir zu tun? Nach Wien habe ich Heimweh. Muß ich Heimweh haben.»
Er schwieg so lange, daß sie den Kopf drehte. Ihr schien, daß sein Gesicht sich verändert hatte – er sah jünger aus, verletzlicher, und als er sprach, tat er es nicht so ruhig und gelassen wie sonst.
«Ruth, wenn Sie es sich anders wünschten ... Wenn ...» Er brach ab. Ein Schatten hatte sich zwischen sie gedrängt. Groß und nicht zu ignorieren stand Verena Plackett vor ihnen.
«Könnten Sie mir hier einmal helfen, Professor», sagte sie. «Meiner Ansicht nach muß dies ein Armfüßler sein, aber ich bin mir nicht ganz sicher.»
Danach sprachen Ruth und Quin nicht mehr miteinander. Aber als er nach ihrer Heimkehr den Felspfad zum Haus hinaufstieg, hörte er hinter sich Schritte, und als er sich umdrehte, sah er, daß sie ihm nachkam, mit dem Hündchen in den Armen.
«Entschuldigen Sie, aber könnten Sie den Hund mit nach oben nehmen? Pilly wollte es eigentlich tun, aber sie muß jetzt kochen, und ich habe Martha versprochen, daß er bestimmt zurückkommt.»
«Warum bringen Sie ihn nicht selbst hinauf? Sie haben sich ja offensichtlich schon mit Martha angefreundet.»
«Nein.»
Er erinnerte sich an ihre Weigerung, zum Mittagessen zu kommen, und in der Absicht, sie zu necken, sagte er: «Irgendwann werden Sie sich das Haus aber einmal ansehen müssen. Denn wenn ich fallen sollte, ehe Mr. Proudfoot uns scheiden kann, wird Bowmont Ihnen gehören.»
Ihre Reaktion verblüffte ihn. Sie war zornig; ihr Gesicht verzerrt – beinahe erwartete er, daß sie mit dem Fuß aufstampfen würde.
«Wie können Sie sich unterstehen, so zu reden! Wie können Sie es wagen? Mr. Chamberlain hat gesagt, daß es keinen Krieg geben wird, er hat es versprochen – und selbst wenn es Krieg geben sollte, brauchen Sie überhaupt nicht an die Front. Es war ganz und gar nicht nötig, daß Sie da zur Marine hinaufgefahren sind, das haben alle gesagt. Sie könnten mit Ihrer wissenschaftlichen Arbeit viel mehr nützen. Sich freiwillig zu melden, war nichts als falsches Heldentum. Und dumm dazu.»
«Aber Ruth. Ich habe doch nur einen Scherz gemacht.»
«Genau die Art von Scherz, die man von einem Engländer erwarten kann. Scherze über Tod und Sterben.»
Sie stieß ihm das Hündchen in die Arme, machte kehrt und rannte den Hang hinunter.
«Als Frau stand mir dieser Sport leider nicht offen», sagte Verena, die sich bemühte, Lord Rothley in ein Gespräch über die Sauhatz zu ziehen. «Aber ich habe mir das in Indien oft angesehen und fand es faszinierend.»
Lord Rothley murmelte etwas Unverständliches und hielt Turton sein Glas hin, der es bereitwillig mit Whisky auffüllte.
Es war eine kleine Gesellschaft: die Rothleys, die StantonDerbys und die verwitwete Bobo Bainbridge. Sie hatten sich eingefunden, um die Placketts willkommen zu heißen und die Pläne für Verenas Geburtstagsfeier zu besprechen. Selbstverständlich hatte Verena, die sich so gewissenhaft auf Sir Harold und seine Knochenfische vorbereitet hatte, die Northumberland Gazette gründlich studiert, um sich über die Interessen der Gäste zu informieren. Im Fall Lord Rothleys allerdings hatte ihr der kleine Druck einen Streich gespielt: Seine Lordschaft interessierte sich nämlich nicht für die Sauhatz, sondern für die Sauzucht.
Nachdem Verena sich ihrer Pflicht ihm gegenüber entledigt hatte, gesellte sie sich zu Hugo Stanton-Derby, der mit Lady Plackett am offenen Kamin stand. Das innige Einverständnis zwischen Mutter und Tochter hatte den beiden erlaubt, sich die Arbeit zu teilen: Verena hatte sich in der Bibliothek die Encyclopedia Britannica vorgenommen, um über georgianische Schnupftabaksdosen nachzulesen, die Stanton-Derby sammelte, und Lady Plakkett hatte sich todesmutig in die Financial Times vertieft, da der gute Hugo von Beruf Börsenmakler war.
Das Gespräch war demzufolge wohlinformiert und intelligent, und als Verena sich danach den Damen zuwandte, fanden auch diese in ihr eine verständnisvolle und teilnehmende Zuhörerin. Es ging, wie nicht anders zu erwarten, wieder einmal um die Flüchtlinge, die Quin ihnen aufgedrängt hatte. Sie waren schwierig und undankbar. Ann Rothleys entlassener Stallknecht war von der Northern Opera Company engagiert worden und hatte das gesamte Personal in Aufruhr gebracht.
«Sie wollen alle freihaben, um nach Newcastle zu fahren und ihn in dieser albernen Oper singen zu hören – ihr wißt schon, die, in der sie ein Manuskript verbrennen, um sich warmzuhalten. Diese Boheme-Geschichte.»
Und auch Helens Chauffeur machte Ärger: Er hatte damit gedroht, nach London zu gehen, um sich dort einem Streichquartett anzuschließen.
«Nun, wenn er das tut, dann brauchst du dir wenigstens nicht ständig diese Kammermusik anzuhören», meinte Frances.
Aber so einfach war es natürlich nicht.
«Nun ja, er macht seine Arbeit an sich sehr gut», entgegnete Helen, «und er ist viel billiger als ein Engländer.»
Nur mit Bobo Bainbridge versuchte Verena gar nicht erst ins Gespräch zu kommen. Bobo, deren geliebter Mann vor neun Monaten plötzlich gestorben war und deren Schwiegermutter von offen zur Schau getragenem Schmerz nichts hielt, lavierte sich jetzt mit Hilfe großzügiger Dosen vom Amontillado durch ihre gesellschaftlichen Verpflichtungen, und für Frauen, die sich auf solche Art gehenließen, hatte Verena nichts als Verachtung.
Um neun Uhr verschwand Quin mit den Männern zum Billardspiel in der Bibliothek, und die Frauen konnten sich den Planungen für Verenas Geburtstagsfeier widmen. Diese mauserte sich zu Frances' Bestürzung sehr schnell zu einer viel größeren Sache, als von ihr beabsichtigt. Ihr Vorschlag, ein kaltes Buffet richten zu lassen und ein Grammophon aufzustellen, damit die jungen Leute tanzen konnten, quittierte Lady Plackett mit schockiert hochgezogenen Brauen.
«Ein Grammophon?» sagte sie pikiert. «Wenn es eine Sache der Kosten ist ...»
«Aber nein, natürlich nicht», unterbrach Ann Rothley ziemlich verärgert über diesen Schnitzer. «Weißt du, Frances, drüben in Rothley fängt gerade eine sehr gute kleine Drei-Mann-Kapelle an – man täte noch ein gutes Werk, wenn man ihnen Arbeit gibt.»
Man einigte sich also auf die Drei-Mann-Kapelle, und Helen Stanton-Derby fegte Lady Placketts Vorschlag, vom Blumenhändler in Alnwick Lilien und Rosen kommen zu lassen, vom Tisch und sagte, den Blumenschmuck werde sie übernehmen. «In den Hekken wächst jetzt so vieles – Waldrebe und blauer Liguster und Hagebutten –, daß man da zusammen mit ein paar Blumen aus dem Garten die schönsten Arrangements machen kann.»
«Und als Getränk dachte ich an Glühwein», sagte Frances. «Die Köchin hat ein ganz ausgezeichnetes Rezept.»
Doch Glühwein fand Lady Plackett so schockierend wie das Grammophon, und sie fragte, ob sie eine Kiste Champagner beisteuern dürfte. Dieses Angebot jedoch lehnte Frances ab. «Ich werde mit Quin sprechen», sagte sie entschieden. «Er ist für den Keller zuständig.» Darauf ging man zur Diskussion über Speisenfolge und Gästeliste über.
Die Kommentare über Verena, als die Herrschaften nach Hause fuhren, waren nicht unfreundlich.
«Ein sehr vernünftiges Mädchen», stellte Ann Rothley fest, und ihr Mann brummte zustimmend, sagte jedoch, er sei überrascht, daß Quin, der immer so bildhübsche Freundinnen gehabt habe, eine Frau heiraten wolle, die, wenn man es einmal genau betrachtete, wie ein römischer Senator aussah.
Seine Frau war anderer Meinung. «Sie ist eine Persönlichkeit. Sie braucht nur ein wirklich hübsches Kleid für das Fest, dann ist sie so attraktiv, wie man es sich nur wünschen kann.»
Aus dem Fond des Wagens kam unerwartet die Stimme der vermeintlich schlafenden Bobo Bainbridge. «Das muß dann aber schon ein sehr hübsches Kleid sein», sagte sie und schloß wieder die Augen.
Frances war derweilen ihrem Neffen in den Turm hinauf gefolgt – etwas, das sie höchst selten tat –, um ihn wegen der Getränke zu konsultieren.
«Ach ja, Verenas Fest.» Quin hatte den Diskussionen über dieses Ereignis so wenig Beachtung gezollt, daß er Mühe hatte, sich zu erinnern. «Das steigt am Freitag in einer Woche, nicht? Möchte Verena, daß ich mich auch kurz sehen lasse, oder möchte sie lieber mit ihren Freunden allein feiern?»
Frances starrte ihn fassungslos an. «Aber natürlich möchte sie, daß du dabei bist. Es würde doch sehr eigenartig wirken, wenn du dich nicht blicken ließest.» Und dann sagte sie zaghaft: «Du magst Verena doch, nicht wahr?»
«Ja, ein ordentliches Mädchen», antwortete Quin zerstreut. «Wen habt ihr denn eingeladen?»
«Rollo kommt von Sandhurst herauf – er hat das Ehrenschwert bekommen, hat Ann dir das erzählt? Er bringt einen Freund mit, der in dasselbe Regiment eintreten möchte. Und die BainbridgeZwillinge haben Urlaub von der Air Force und ...»
«Von der Air Force? Mick und Leo? Aber sie sind doch höchstens sechzehn!»
«Sie sind achtzehn – sie sind als Kadetten eingetreten. Bobo hoffte, wenigstens einer von ihnen würde auf dem Boden bleiben, aber sie haben ja immer alles gemeinsam unternommen; sie sind jetzt beide voll ausgebildete Piloten.»
«Mein Gott!» Die Zwillinge hatten Bobo nach dem Tod ihres Mannes am Leben gehalten. Wenn sie nach Hause kamen, trank sie nicht, wurde wieder die liebenswürdige, lustige Person, die sie seine ganze Kindheit lang gewesen war.
«Und Helens Töchter kommen beide aus London herauf. Caroline heiratet übrigens bald diesen netten rothaarigen Jungen, der bei der Marineinfanterie ist – Dick Alleson.» Caroline hatte jahrelang nur für Quin Augen gehabt, und alle waren froh und erleichtert gewesen, als sie sich endlich doch noch mit einem so passenden jungen Mann verlobt hatte.
Frances fuhr fort, die Gäste aufzuzählen, und Quin sah zum silbern glänzenden Meer hinaus. Es würde vielleicht gar keinen Krieg geben, aber wenn doch, würde keiner dieser verwöhnten, lebenslustigen Jungen dem Gemetzel entgehen.
«Ich weiß, was wir trinken, Tante Frances», sagte er und faßte sie bei den Händen. «Den Veuve Clicquot 29. Ich habe zwei Kisten davon, die ich extra für einen besonderen Anlaß aufgehoben habe.»
Frances sah ihn erstaunt an. Sie war keine Weinkennerin, aber sie wußte, wie hoch Quin seinen exzellenten Champagner schätzte. «Ist das dein Ernst?»
«Aber ja. Es soll ein denkwürdiger Abend werden.»
Frances war glücklich, als sie sich an diesem Abend zu Bett legte. Was sonst konnte diese großzügige Geste bedeuten, als daß er Verena besonders ehren wollte? Aber am nächsten Morgen kam die Bemerkung, die sie gefürchtet hatte.
«Wenn wir hier ein Fest mit lauter jungen Leuten veranstalten, müssen wir die Studenten dazubitten.»
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