«Halten Sie das Boot genau so», befahl er Verena. «Tun Sie nichts anderes.» Sie nickte und übernahm das Steuer.
Jetzt konnte er schnell machen, aber als er das Seil nahm, das Elke ihm hinhielt, gingen wieder wertvolle Sekunden verloren: Sam hatte seine Jacke ausgezogen und kletterte zur Bootsseite hinauf. Quin stürzte sich auf ihn und riß ihn mit solcher Gewalt ins Boot zurück, daß der Junge wie betäubt liegenblieb. Dann endlich hatte er das Seil um seine Mitte, der Knoten war fest.
«Jetzt laßt mich hinunter», sagte er, und gleich darauf war er im Wasser.
Die Felsen waren seine einzige Chance. Wenn sie sich dort so lange festhalten konnte, bis er sie erreicht hatte; doch sie ragten glitschig und glattgeschliffen aus dem Wasser. Er sah, wie sie sich plagte, einen Halt zu finden, wie sie sich aus dem Wasser zog, dann den Halt verlor und versuchte, ihm entgegenzuschwimmen. Doch das war hoffnungslos. Niemand konnte gegen diese Strömung anschwimmen.
In der Peggoty drehte Huw plötzlich den Kopf und übergab sich. Doch das Seil hielt er ruhig und fest in seinen Händen.
Quin war es gelungen, näher heranzukommen – so nahe, daß sie nur den Arm auszustrecken brauchte, um ihn zu erreichen. Aber da schlug eine Welle über ihrem Kopf zusammen, und sie war verschwunden. Zweimal fand er sie und verlor sie wieder. Und dann, als er die Hoffnung beinahe aufgegeben hatte, bekam er etwas zu fassen, das er festhalten und um seine Hand wickeln konnte; das ihm nicht wieder entglitt: ihr Haar.
«Nein», sagte Elke Sonderstrom. «Laß sie jetzt. Du kannst später mit ihr sprechen.»
Quin schüttelte ihre Hand ab. Ohne seine nassen Sachen auszuziehen, hatte er mit klappernden Zähnen das Boot wieder gewendet und es in Richtung Hafen auf Kurs gebracht. Aber jetzt konnte und wollte er nicht länger warten. In ihm kochte ein Zorn, wie er ihn noch nie gekannt hatte; ein Zorn, in dem alles unterging, Kälte, Anstand, Mitleid.
Ruth lag nackt bis auf eine grobe graue Decke in der muffigen kleinen Kabine, in die er sie geschleift hatte. Es roch nach Fisch und nach Teer. Es war beinahe dunkel, aber nicht so dunkel, daß sie Quins Gesicht nicht gesehen hätte.
«Ich hoffe, Sie sind zufrieden. Sie sind jetzt eine Heldin – genau wie Grace Darling! Sie haben das Leben Ihrer Freunde aufs Spiel gesetzt – dieser Junge, der so vernarrt in Sie ist, wollte ihnen hinterherspringen, aber das spielt natürlich gar keine Rolle. Nichts spielt eine Rolle, wenn Sie nur im Mittelpunkt stehen können, Sie verwöhnter, geltungssüchtiger Fratz! Aber eines kann ich Ihnen sagen, Ruth. Niemand wird Sie je wieder auf eine Exkursion mitnehmen. Dafür werde ich sorgen. Sie sind für alle eine Gefahr. Ihnen fehlen nämlich die zwei Dinge, die nötig sind – Rücksicht auf andere und gesunder Menschenverstand. Lieber Himmel, Verena Plackett ist ein Musterexemplar im Vergleich zu Ihnen. Sobald der Arzt bei Ihnen war, schicke ich Sie nach Hause.»
Sie hatte die Augen geschlossen, aber seiner Stimme konnte sie nicht entkommen. «Ist er tot?» fragte sie leise.
«Wer?»
«Der Hund.»
«Vermutlich ja. Sie können froh und dankbar sein, daß er das einzige Opfer ist. Wir schippern hier nicht auf einem idyllischen österreichischen See herum, falls Sie das noch nicht bemerkt haben sollten. Das hier ist die Nordsee.» Und als sie den Kopf drehte, um ihre Tränen zu verbergen, flammte sein Zorn von neuem auf. «Hören Sie mir überhaupt zu? Sind Sie überhaupt fähig zu begreifen, was Sie getan haben?»
Ihre Stimme war fast unhörbar. «Könnte ich – bitte – einen Eimer haben? Ich – ich muß mich übergeben.»
Am späten Abend geschah ein kleines Wunder. Von der Wasserwacht kam eine Nachricht, die besagte, daß das Hündchen auf der Insel angespült worden war und lebte. Aber Ruth war nicht da, um sich mit ihnen zu freuen.
«Wir müssen es ihr sagen», rief Pilly. «Wir müssen ihr eine Nachricht zukommen lassen.»
«Der Professor wird es ihr sagen», meinte Elke Sonderstrom. «Nein, bestimmt nicht.» Pillys runde blaue Augen waren tief bekümmert. «Der will sie doch nur bestrafen. Er haßt sie.»
Elke sagte nichts. Sie, die höchst glücklich und zufrieden ohne Männer lebte, sah manchmal tiefer, als sie es sich wünschte.
«Nein, Pilly», widersprach sie ruhig. «Er haßt sie nicht. So ist das nicht.»
20
Ruth erwachte verwirrt und benebelt aus dem Schlaf der Betäubung. Die Uhr auf dem Nachttisch neben dem Bett zeigte auf drei die Stunde vor Tagesanbruch, in der sich einem der Alp auf die Brust setzt, in der die Menschen sterben. Im ersten Moment wußte sie nicht, wo sie war. Sie sah nur, daß sie in einem großen Bett lag und mit irgendeinem Fell zugedeckt war – einem Bärenfell oder etwas noch Ausgefallenerem. Als sie es berührte, erinnerte sie sich.
Sie war in Quins Turm. Nachdem das Boot angelegt hatte, hatte er sie hier herauftragen lassen – immer noch böse und ohne von ihr Notiz zu nehmen, als sie sagte, ihr fehle nichts, sie wolle mit den anderen ins Bootshaus zurück. Er hatte den Studenten befohlen zu gehen und nach zwei Männern vom Hof geschickt, um sie ins Haus hinauftragen zu lassen.
«Solange der Arzt sie nicht gesehen hat, kann niemand zu ihr», hatte er gesagt. Es war nicht Fürsorge oder Besorgnis; das war Strafe.
«Aber mir fehlt doch gar nichts», hatte sie immer wieder beteuert, als später der Arzt gekommen war, ein alter Mann, und sie untersucht hatte.
«Ja, ja», hatte er nur gesagt und ihr ein Schlafmittel gegeben.
Aber ihr fehlte doch etwas. Selbst als Martha mit der Nachricht kam, daß das Hündchen gerettet war, konnte sie sich nicht richtig freuen. Quins Zurückweisung quälte sie, seine Grausamkeit. Sie war in Ungnade; sie sollte nach Hause geschickt werden.
Sie setzte sich auf und ließ die nackten Füße zu den Holzdielen hinunter. Ein so spartanisches Zimmer hatte sie nie gesehen; beinahe ganz ohne Mobiliar; Fenster ohne Vorhänge, durch die das Mondlicht hereinfiel; das Bärenfell achtlos über das Bett mit seinem einen Kopfkissen geworfen. Es war fast so, als schliefe man im Freien.
Das Nachthemd, das sie anhatte, mußte Frances Somerville gehören. Weit geschnitten, aus dickem weißen Flanell, fiel es ihr in losen Falten auf die Füße hinunter; ihr Kinn versank fast in den Rüschen am Hals. Als sie das Licht anknipste, sah sie auf einem kleinen Schreibpult, das an der Wand stand, die Fotografie einer jungen Frau, deren schmales dunkles Gesicht ihr überraschend vertraut war. Sie trat mit dem Bild ans Fenster, um es näher anzusehen.
«Was tun Sie da?»
Sie fuhr herum, wieder ertappt, wieder im Unrecht.
«Tut mir leid. Ich bin aufgewacht.»
Quins Gesicht wirkte immer noch grimmig und verschlossen, aber jetzt bemühte er sich. «Körperlich fehlt ihr nichts», hatte der Arzt zu ihm gesagt, «aber sie scheint einen seelischen Schock erlitten zu haben.»
«Das ist ja wohl verständlich», hatte Quin erwidert. «Schließlich wäre sie beinahe ertrunken.»
Aber der alte Dr. Williams hatte ihn nur angesehen und den Kopf geschüttelt. Er glaube nicht, daß es das sei, hatte er gesagt; sie sei ja jung und kräftig und auch nicht lange im Wasser gewesen. «Seien Sie nicht zu streng zu ihr», hatte er gesagt. «Gehen Sie sanft mit ihr um.»
Darum kam er jetzt zu ihr ans Fenster und sagte: «Fühlen Sie sich besser?»
«Ja, mir fehlt überhaupt nichts. Am liebsten würde ich jetzt gleich weggehen.»
«Das ist leider nicht möglich, armes Rapunzel; nicht vor morgen früh. Und Ihr schönes Haar ist auch nicht lang genug, um daran einen Prinzen heraufzuziehen, der Sie retten könnte.»
«Außerdem sind Prinzen knapp», entgegnete sie, um einen leichten Ton bemüht.
Quin sagte nichts. Früher am Abend hatte er Sam auf der Terrasse angetroffen, wie er zu Ruths Fenster hinaufsah, und hatte ihn weggeschickt.
«Das ist Ihre Mutter, nicht wahr?» fragte sie, den Blick auf die Fotografie gerichtet.
«Sind wir uns so ähnlich?»
«Ja. Sie hat ein sehr intelligentes Gesicht. Und so – lebendig.»
«Ja, ich denke, so war sie auch. Bis ich sie umgebracht habe.» Jetzt war es Ruth, die zornig wurde. «So ein Unsinn! Das ist doch absoluter Quatsch. Schmarrn!» rief sie echt wienerisch. «Sie reden wie ein Küchenmädchen.»
«Wie bitte?» sagte er verblüfft.
Sein Angriff auf dem Boot hatte Ruth befreit. Sie fühlte sich nicht mehr verpflichtet, ihm gefällig zu sein, auf ihn Rücksicht zu nehmen; und so nahm sie jetzt kein Blatt vor den Mund.
«Nein, das hätte ich nicht sagen sollen. Küchenmädchen sind oft sehr intelligent, wie Ihre Elsie zum Beispiel, die mir die Namen aller Pflanzen oben auf den Felsen gesagt hat. Aber Sie reden wie jemand aus einem drittklassigen Liebesroman – Sie, als Mörder Ihrer Mutter! Na ja, was kann man schon von einem Mann erwarten, der sich mit toten Tieren zudeckt ... dem das ganze Meer gehört.»
Besser als gehofft, war es ihr gelungen, ihn aus der Reserve zu locken.
«Das Meer gehört niemandem», entgegnete er heftig. «Und falls es Sie interessieren sollte, das, was mir gehört, werde ich weggeben. Übernächstes Jahr geht Bowmont in den Besitz des National Trust über.»
Sie schnappte nach Luft. Sie war völlig verwirrt und, schlimmer noch, zutiefst bestürzt; sie hatte das Gefühl, einen Schlag in den Magen bekommen zu haben.
«Den ganzen Besitz?» stammelte sie. «Das Haus und den Park und den Garten und den Hof?»
«Ja.» Er hatte seinen Gleichmut wiedergefunden. «Sie als gute Sozialdemokratin wird das doch sicher freuen.»
Sie nickte. «Ja», antwortete sie mühsam. «Es ist bestimmt das richtige. Es ist nur ...»
Aber was es «nur» war, konnte sie nicht in Worte fassen. Daß sie tief getroffen war vom Verlust eines Orts, der mit ihr nichts zu tun hatte, den sie nie wiedersehen würde. Daß sie sich Bowmont anverwandelt hatte, seine Felsen und Blumen, seinen Duft und seine hellen Strände ... In ihrem Leben mit Heini würde sie viel Zeit mit Warten zubringen müssen; in muffigen Zimmern, in überfüllten Zügen. Wie die Nonnen in mittelalterlichen Klöstern, die goldene Bäume und kristallene Flüsse in ihre Gobelins woben, hatte sie sich einen Traum von Bowmont gesponnen: von Pfaden, auf denen sie wandern konnte, von einer verblichenen blauen Tür in einer hohen Mauer. Und der Traum meinte Bowmont so, wie es war – als Quins Reich, als einen Ort, an dem eine gallige alte Frau Blumen mit Zärtlichkeit pflegte.
«Tun Sie es zum Nutzen der Allgemeinheit?» fragte sie.
Quin zuckte die Achseln. «Ich bezweifle, ob die Allgemeinheit wer auch immer sie ist – großes Interesse an Bowmont hat; das Haus ist nichts Besonderes. Den Leuten liegt vor allem am Zugang zum Meer, vermute ich, und das ließe sich mit ein paar zusätzlichen Wegerechten arrangieren. Ich kann leider Ihre Leidenschaft für <die Allgemeinheit> nicht teilen. Man weiß ja nie genau, wer sie eigentlich ist.»
«Warum tun Sie es dann?»
Quin nahm ihr die Fotografie seiner Mutter aus den Händen. «Sie haben sich über mich mokiert, als ich sagte, ich hätte sie umgebracht. Aber es ist wahr. Mein Vater wußte, daß sie keine Kinder bekommen sollte. Sie war sehr krank gewesen – sie lernten sich in der Schweiz kennen, als er dort im diplomatischen Dienst war. Sie war in einem Sanatorium, sie hatte Tuberkulose gehabt. Er wollte ein Kind. Er wollte einen Erben für Bowmont. Um jeden Preis.»
«Ja, und?» Ruth zuckte die Achseln. Sie erschien ihm plötzlich erbarmungslos; erwachsen, nicht länger seine Studentin, sein Schützling. «Das wollten Männer doch immer schon. Der Tabakhändler möchte einen Erben für seinen Laden ... der ärmste Rabbi möchte einen Sohn, der für ihn den Kaddisch betet, wenn er tot ist. Warum bauschen Sie das so auf?»
«Wenn ein Mann eine Frau zur Schwangerschaft zwingt ... wenn er ihr Leben aufs Spiel setzt, nur damit er vor seinen eigenen Vater –, den Vater, mit dem er sich entzweit hatte und den er haßte – hintreten und sagen kann: <Hier ist ein Erbe> – dann macht er sich schuldig.»
Aber das akzeptierte sie nicht. «Und sie? Glauben Sie, daß sie so schwach war? Glauben Sie, daß sie es nicht wollte? Sie war tapfer und mutig – sehen Sie ihr doch ins Gesicht. Sie hat sich ein Kind gewünscht. Nicht für Bowmont und nicht für Ihren Vater. Sie wollte ein Kind haben, weil es wunderbar ist, ein Kind zu haben. Warum billigen Sie Frauen nicht zu, daß sie ihre eigenen Entscheidungen treffen können? Warum dürfen sie nicht genau wie die Männer ihr Leben riskieren? Sie haben das gleiche Recht dazu.»
«Zum Beispiel, um eine Promenadenmischung aus dem Wasser zu retten?» fragte er spöttisch.
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