«Ja. Für alles, was sie für richtig halten.» Dennoch senkte sie den Kopf; sie wußte, daß sie nicht nur ihr eigenes Leben aufs Spiel gesetzt hatte, sondern auch seines und vielleicht Sams – daß seine Grausamkeit unten auf dem Boot eine Ursache gehabt hatte. «Ich bin auch ein Mischling», sagte sie leise. «Und außerdem hat Ihre Tante ihn sehr lieb.»

«Was? Das Hündchen? Wie kommen Sie denn auf diese Idee? Sie bemüht sich doch ständig nur, es loszuwerden.»

Wieder zuckte Ruth die Achseln. «Mein Vater sagt immer: <Höre nicht darauf, was die Leute sagen, sieh dir an, was sie tun.> Warum hat sich Ihre Tante ausgerechnet den Zimmermann ausgewählt – jeder weiß doch, daß seine Frau Asthma hat und keine Tiere ins Haus dürfen? Warum ausgerechnet den Wirt vom Black Bull, dessen Mutter als kleines Mädchen von einem Schäferhund angefallen wurde und seither vor Hunden Todesangst hat?»

«Woher wissen Sie das alles?» fragte er gereizt. Woher wußte sie nach einer Woche Aufenthalt in Bowmont, daß Elsie sich für Heilpflanzen interessierte, daß Mrs. Ridleys Großmutter die Darlings gekannt hatte? Dieser Drang, alles ganz genau wissen, den Dingen auf den Grund gehen zu wollen, war ja zum Wahnsinnig werden! Der Mann, der sie einmal heiratete, würde die Wände hochgehen. Heini würde die Wände hochgehen. «Na ja, wie dem auch sei, mein Vater hat sich davon nie erholt. Er hat das Gefühl seiner Schuld sein Leben lang mit sich herumgeschleppt. Wahrscheinlich hat es ihn auch umgebracht – er meldete sich 1916 freiwillig, obwohl dazu überhaupt keine Notwendigkeit bestand.»

«Jetzt fangen Sie schon wieder an! Ihr Engländer seid unglaublich melodramatisch! Eine Kugel hat ihn umgebracht.»

«Was ist eigentlich los mit Ihnen?» fragte Quin, der es nicht gewöhnt war, melodramatischer Neigungen beschuldigt zu werden, noch dazu von einem jungen Ding, das stark zu Gefühlsausbrüchen neigte. Und dennoch ging er, völlig perplex über seine eigene Reaktion, zu dem kleinen Schreibpult an der Wand, sperrte eine Schublade auf und nahm ein altes Heft mit blau marmoriertem Einband heraus.

«Lesen Sie es», sagte er. «Das ist das Tagebuch meines Vaters.»

Das Heft fiel von selbst bei jener Seite auseinander, die er hundertmal gelesen und niemals einer Menschenseele gezeigt hatte. Ruth nahm es und trat näher an die Lampe.


«Eben bin ich von Claires Beerdigung zurückgekommen», las sie, «und Marie brachte mir das Baby, als könnte sein Anblick mich trösten, der Anblick dieses zerknitterten kleinen Geschöpfs mit seiner unersättlichen Lebensgier. Das Kind hat sie umgebracht – nein, ich habe sie umgebracht. Ich war klüger als die Ärzte, die mir gesagt hatten, daß sie kein Kind haben darf. Ich wußte es besser, ich wollte einen Sohn. Ich wollte den Jungen nach Bowmont bringen und meinem Vater zeigen, daß ich einen Erben hervorgebracht habe – daß er mich nicht länger zu verachten braucht. Ja, ausgerechnet ich, der ihn gehaßt hat, der aus Bowmont floh und Reichtum und Erbe den Rücken kehrte, war genauso verdorben von dem Verlangen nach Macht wie er. Claire wollte ein Kind; ich versuche, das nicht zu vergessen, aber es war meine Aufgabe, bedachter zu sein als sie.

Jetzt muß ich versuchen, dieses Kind zu lieben, ihm keinen Vorwurf zu machen; aber ohne sie fehlt mir die Lust am Leben, und ich habe keine Liebe mehr zu geben. Wenn ich einen Wunsch habe, so den, daß dieses Kind wenigstens sich von seinem Erbe befreien und ein freier Mensch unter gleichen werden wird.»


Ruth klappte das Tagebuch zu. «Der arme Mann», sagte sie leise. «Aber warum balsamieren Sie ihn ein? Sie sollten Radieschen ziehen, wie mein Onkel Mishak.»

«Was?» Einen Moment lang fürchtete er, ihr Verstand hätte unter dem Unfall gelitten.

«Marianne mochte keine Radieschen. Seine Frau. Solange sie lebte, hat er nie welche gezogen. Als sie gestorben war, sagte er, <Jetzt muß ich Radieschen ziehen, sonst bleibt sie für immer unter der Erde.> Er meinte, daß es den Toten gestattet sein muß, sich in uns frei zu bewegen, daß man sie nicht einkapseln und in die Form ihrer Vorurteile pressen darf.» Sie schwieg einen Moment und strich sich das Haar aus den Augen. Es war eine Geste, die ihm mittlerweile sehr vertraut war. «Seitdem zieht er mit Begeisterung Radieschen, und ich mag sie nicht besonders, aber ich esse sie. Wir alle essen sie.» Wieder machte sie eine Pause. «Vielleicht ist es richtig, Bowmont wegzugeben; ich weiß es nicht, und es geht mich auch nichts an – aber ganz bestimmt sollte doch Ihr eigener Wunsch dahinterstehen, und nicht der vermeintliche Wunsch Ihres Vaters. Er hätte sich entwickelt und verändert und die Dinge vielleicht ganz anders gesehen, wenn er älter geworden wäre. Überlegen Sie doch nur, wie wütend Sie heute nachmittag auf mich waren – aber das war nicht immer so, und vielleicht wird es eines Tages wieder vergehen.»

Quin sah sie an und wollte etwas sagen. Aber dann nahm er nur das Tagebuch und schloß es wieder im Schreibpult ein. «Kommen Sie», sagte er, «ich glaube, es ist Zeit, daß Sie den Basher kennenlernen.»

Er nahm sein altes Tweedjackett vom Haken hinter der Tür und legte es ihr um die Schultern. Dann führte er sie nach unten, und sie gingen durch den Korridor, der den Turm mit dem Haus verband. Behutsam berührte sie dies und jenes, den schäbigen schwarzen Ledersessel, die Platte eines vielbenützten, vielpolierten Tischs, während er sie, die Hand leicht auf ihrem Rücken, durch die Räume führte. Was sie sah, gefiel ihr. Im Inneren der Festung war ein schlichtes Heim ganz ohne Prätentionen, in dem alles den Stempel jener Frau trug, die seit Jahren die Hüterin des Hauses war. Frances Somerville, die Quin in Ruhe gelassen hatte, hatte auch dieses Haus in Ruhe gelassen.

In der Bibliothek blieb Quin stehen, und Ruth, in Frances' voluminösem Flanellnachthemd, Quins Jackett lose um die Schultern, sah vor sich in schwerem goldenen Rahmen das Bildnis des Konteradmirals Quinton Henry Somerville.

Der Basher war siebzig Jahre alt gewesen, als das Porträt in Auftrag gegeben worden war, und der Maler, ein verdienstvoller Einheimischer, hatte sich offensichtlich alle Mühe gegeben, seinem Modell zu schmeicheln, doch der Erfolg war bescheiden geblieben. In den roten Wangen des Basher sah man die infolge von Wetter und Whisky geplatzten Äderchen; seine kurze, stark aufgeworfene Nase hatte an der Spitze einen bläulichen Schimmer. Trotz der prächtigen Uniform, trotz des bulligen Nackens, der aus dem goldbetreßten Kragen emporstieg, ähnelte Quins Großvater mit seinem schmalen Mund, dem kahlen Kopf und den eigensinnigen blauen Augen vor allem einem schlechtgelaunten Säugling.

«Und trotzdem», sagte Ruth, «da ist irgend etwas ...»

«Oh ja, da ist eine ganze Menge. Sturheit, Gewalt ... in der Marine hat er seine Offiziere tyrannisiert, und den einfachen Matrosen, meinte er, könnten Hiebe nur guttun. Er hat des Geldes wegen geheiratet – es war eine Menge Geld – und hat seine Frau abscheulich behandelt. Und als er starb, hat sich ganz Northumberland zu seiner Beerdigung eingefunden, und alle schüttelten sie die Köpfe und sagten, die guten Zeiten seien vorbei und England würde nie wieder das werden, was es einmal gewesen war.»

«Ja, das kann ich mir vorstellen.»

«Er hat meinen Vater verachtet, weil der Gedichte liebte – weil er gern mit seiner Mutter im Garten war. Er hatte eine Todesangst, er könnte einen Feigling großgezogen haben. Das war das einzige, was ihm je Angst gemacht hat – daß sein Sohn ein Schwächling sein könnte. Mein Vater war todunglücklich auf dem Internat – er kam hin, als er sieben war, und weinte sich jahrelang jeden Abend in den Schlaf. Er haßte das Meer und er haßte das Segeln. Er war ein sanfter Mensch, und der Basher verachtete ihn dafür aus tiefstem Herzen. Er wollte meinen Vater zwingen, zur Marine zu gehen, aber mein Vater weigerte sich. Und er gab auch nicht klein bei. Als er fünfzehn war, lief er von zu Hause weg. Zu einer Verwandten seiner Mutter. Sie nahm ihn mit ins Ausland, und er trat in den diplomatischen Dienst ein. Er machte eine anständige Karriere, aber nach Bowmont ist er nie zurückgekehrt. Er verabscheute alles, wofür es stand – Macht, Privilegien, Philistertum, Geringschätzung all der Dinge, die er hochschätzte. Und dennoch hat er am Ende das Leben meiner Mutter aufs Spiel gesetzt, damit eben das alles weiterbestehen konnte.»

Ruth sagte nichts. Sie betrachtete das Porträt und fragte sich, wieso dieser grimmige Engländer eine Nase wie Beethoven hatte, wunderte sich, daß ihr dieses harte alte Gesicht nicht unsympathisch war.

«Aber Sie haben ihn gemocht?»

«Nein.» Quin zögerte. «Ich war acht, als ich nach Bowmont kam. Ich hatte nur Schlimmes von ihm gehört, und er entsprach allem, was ich gehört hatte. Er verfrachtete mich in den Turm, packte mich unter das Eisbärenfell und fertig. Ich war vollkommen allein dort oben, ein Kind von acht Jahren, dessen Vater gerade im Krieg gefallen war. Ich hatte Angst im Dunklen, jeder Abend, wenn ich zu Bett mußte, war die Hölle. Es gefiel mir im Turm, aber ich wollte ein Nachtlicht – ich bettelte darum, aber er sagte nein. Draußen, im Freien, hatte ich vor nichts Angst; ich kletterte, ich segelte, ich liebte das Meer genau wie er. Er sah das auch, aber er war stur. Eines Tages sagte ich: <Wenn ich ganz allein bis Harcar Rock und wieder zurück segle, kann ich dann ein Nachtlicht haben?> Er sagte: <Wenn du allein nach Harcar Rock segelst, vertrimm ich dich, daß dir Hören und Sehen vergeht.> So hat er immer geredet, wie in einem Abenteuerroman für Jungen.»

«Harcar? Das ist doch die Stelle, wo die Forfarshire gesunken ist? Wohin Grace Darling gerudert ist?»

«Ja. Jedenfalls – ich tat es. Bei Tagesanbruch bin ich losgesegelt – ich war klein, aber kräftig; segeln ist nur Geschicklichkeit, sonst nichts. Trotzdem ist mir unbegreiflich, wie ich das geschafft habe, ohne umzukommen; es gibt dort schreckliche Strömungen. Als ich zurückkam, stand er am Strand. Er sagte kein Wort. Er nahm mich nur am Arm und führte mich mit eiserner Hand zum Haus hinauf. Dort schlug er mich mit solcher Gewalt, daß ich eine Woche lang nicht sitzen konnte. Aber am Abend, als ich zu Bett ging, war es da – mein Nachtlicht.»

«Ja», sagte Ruth nach einer Pause. «Ich verstehe.»

«Es wäre kein Problem für mich, Bowmont zu übernehmen, Ruth. Ich kann mir eine Frau suchen ...» Er unterbrach sich – «eine neue Frau –, ich kann Söhne in die Welt setzen. Das ist keine Sache. Aber ich kann nicht vergessen, was Bowmont und alles, was es verkörpert, aus meinem Vater gemacht hat. Ich kann nicht vergessen, daß meine Mutter für seinen Familienstolz sterben mußte. Sollen andere es haben. Ich werde sowieso bald wieder auf Reisen gehen. Es sei denn ...» Aber es war überflüssig, ihr von dem Krieg zu sprechen, der seiner Überzeugung nach kommen würde.

Wieder zurück im Turm, nahm er ihr das Jackett ab. «Morgen können Sie zu Ihren Freunden zurückkehren, Rapunzel», sagte er. «Jetzt schlafen Sie sich erst einmal richtig aus.»

Die plötzliche Sanftheit warf sie fast um. «Dann kann ich also bleiben?» fragte sie, den Tränen nahe.

«Ja, Sie können bleiben.»


«Liebling! Kind!» rief Lady Plackett, als sie ihre Tochter am Abend der Geburtstagsfeier in großer Toilette sah. «Er wird hingerissen sein.!»

Verena lächelte. Sie konnte nicht umhin, mit ihrer Mutter einer Meinung zu sein. Gleich nachdem beschlossen worden war, ihren Geburtstag mit einem kleinen Fest zu feiern, war Verena auf der Suche nach einem passenden Abendkleid zu Fortnum geeilt. Die Direktrice hatte ein schmales, fließendes Kleid aus weißem Georgette im Stil einer römischen Tunika vorgeschlagen, um, wie sie meinte, Verenas klassische Schönheit zu unterstreichen.

Aber damit war Verena nicht einverstanden gewesen. Gerade an dem Abend, an dem, wie sie hoffte, ihr Schifflein in den Hafen einlaufen würde, wollte sie von Kopf bis Fuß feminin wirken, und so hatte sie sich gegen den Rat der Verkäuferin für ein erdbeerrotes Taftkleid mit Stufenrock entschieden, dessen einzelne Volants genau wie die Puffärmel und das herzförmige Dekolleté mit Rüschen gesäumt waren. Um die jugendliche Frische ihrer Erscheinung zu betonen, die, wie sie wußte, manchmal hinter ihrer hohen Intelligenz zurücktrat, trug sie im Haar einen Kranz aus Rosenknospen.

Für eine kleine Feier, wie sie ursprünglich geplant gewesen war, wäre ihre Toilette zweifellos viel zu aufwendig gewesen, aber die Planungen hatten, genau wie die Placketts gehofft hatte, ihre eigene Dynamik entwickelt, so daß auf das bevorstehende Fest das Wort «klein» längst nicht mehr anzuwenden war. Etwa zur gleichen Zeit, als Verena in ihre Satinschuhe schlüpfte – mit flachem Absatz natürlich, da nicht zu erwarten war, daß Quin, der inzwischen seinen einunddreißigsten Geburtstag hinter sich hatte, noch wachsen würde –, warfen junge Mädchen in allen Teilen Northumberlands letzte prüfende Blicke in den Spiegel, banden junge Männer ihre schwarzen Smokingschleifen oder zogen die Jacken ihrer Ausgehuniformen über, um sich auf den Weg nach Bowmont zu machen. Diese meerumschlungene Festung nämlich, die, während ihr Herr meist durch Abwesenheit glänzte, von einer strengen Hüterin verwaltet wurde, war immer etwas Besonderes gewesen – und vielleicht wußten sie, was Quin wußte: daß das Schicksal an die Tür klopfte und Vergnügen jetzt Pflicht war.