Der Abend war nach dem gewohnten Muster abgelaufen: Abendessen bei Rules, Tanzen im Domino und dann nach Hause zu den Wohltaten ihres intimen Himmelbetts.
Wenn man überhaupt jemandem schuld geben konnte, dann ihm, das wußte er, und er konnte nur hoffen, daß Claudine nichts gemerkt hatte. Die Wahrheit war, daß alles, was ihn zu ihr hingezogen hatte, ihre Erfahrung, ihre innere Distanziertheit, die Tatsache, daß sie die Liebe nicht allzu ernst nahm, jetzt seinen Zauber verloren hatte. Plötzlich hatte er das Zusammensein mit ihr als seelenlos empfunden und sich unglaublich einsam gefühlt.
Ruth, die sein verschlossenes Gesicht sah, machte sich auf das Schlimmste gefaßt.
«Was kann ich für Sie tun?»
Ruth holte tief Atem. «Sie können mir verzeihen», sagte sie. Quin zog die Augenbrauen hoch. «Du lieber Gott! Ist es so schlimm? Was soll ich Ihnen denn verzeihen?»
«Ich sage es Ihnen gleich – nur versprechen Sie mir bitte, nicht von Freud zu reden, denn das macht mich schrecklich wütend.»
«Das wird mir wahrscheinlich ganz leichtfallen», erwiderte er. «Ich schaffe es häufig, ihn monatelang nicht zu erwähnen. Aber was hat er Ihnen Schlimmes angetan?»
«Er selbst war es eigentlich gar nicht», antwortete Ruth. «Es war Fräulein Lutzenholler.» Und als Quin sie verständnislos ansah, erklärte sie: «Sie ist Psychoanalytikerin. Sie kommt aus Breslau, und sie macht nichts als Ärger. Sie läßt alles anbrennen – sogar harte Eier, und das ist doch wirklich schwierig –, und dauernd kocht ihre Suppe über und überschwemmt den ganzen Herd, und meine Mutter ist überzeugt, daß wir nur ihretwegen Mäuse im Haus haben. Und jeden Abend um halb zehn steigt sie auf einen Stuhl und klopft an die Zimmerdecke, damit Heini zu üben aufhört. Und dann wagt sie es noch ...» Ruth konnte vor Entrüstung nicht weitersprechen.
«Was wagt sie?»
«Sie wagt es, mich darüber aufzuklären, was Freud über das Verlieren von Dingen gesagt hat.»
«Was hat er denn gesagt?»
«Daß wir das verlieren, was wir verlieren möchten, und das vergessen, was wir vergessen möchten. Es steht alles in seiner Traumdeutung. Ich hätte ihr ja gar nicht erzählt, daß ich die Papiere im Bus liegengelassen habe, aber es war sonst niemand zu Hause, und ich war total außer mir, weil ich schon überall gewesen war, im Depot und beim Fundbüro. Ich habe ihr natürlich nicht gesagt, was ich im Bus liegengelassen hatte, nur daß es etwas Wichtiges war – und da untersteht sie sich, mir mit meinem Unbewußten zu kommen – eine Frau, die nicht mal Suppe kochen kann!»
Quin beugte sich über seinen Schreibtisch. «Ruth, würden Sie mir jetzt einfach mal in aller Ruhe sagen, worum es eigentlich geht? Was haben Sie im Bus liegengelassen?»
Sie strich sich das Haar aus dem Gesicht. «Die Papiere für die Nichtigkeitserklärung. Den ganzen Packen, den Mr. Proudfoot mir gegeben hatte. Sie waren alle in einer großen Pappröhre.»
Quin war aufgestanden und zum Fenster gegangen. Er stand mit dem Rücken zu ihr. Seine Schultern zuckten. Er mußte wirklich zornig sein.
«Es tut mir so leid. Es tut mir wirklich schrecklich leid.»
Quin drehte sich um, und sie sah, daß er sich bemühte, nicht zu lachen.
«Sie finden das komisch?» fragte sie perplex.
«Ja, ich muß es gestehen», antwortete er entschuldigend. Dann ging er zu ihr und blieb neben ihr stehen. «Jetzt erzählen Sie mir mal genau, wie es passiert ist. Möglichst in chronologischer Reihenfolge.»
«Also, ich war bei Mr. Proudfoot, und er hat mir diese Rolle mit den Dokumenten gegeben, und ich wollte gleich nach Hampstead fahren, mit dem Bus, um die Papiere bei einem Notar zu unterschreiben. Ich weiß, daß in der High Street einer ist. Ich hab einen von diesen altmodischen Bussen genommen, die oben offen sind, Sie wissen schon, und bin hinaufgegangen, weil es in Wien solche Doppeldecker überhaupt nicht gibt. Ich habe mich ganz vorn hingesetzt und mir einfach alles angesehen, woran wir vorüberkamen. Es war schön, so hoch oben zu sitzen und ganz im Freien. Und als wir nach Hampstead Heath kamen, habe ich plötzlich unten am Rand des Parks eine ganze Gruppe Steinpilze gesehen, Sie wissen schon, diese großen Pilze, die wir auch am Grundlsee gefunden haben. Sie standen gleich hinter der Damentoilette, und ich wußte genau, daß sie da nicht mehr lange sein würden, weil die Flüchtlinge ja immer auf der Suche sind; deshalb bin ich die Treppe hinuntergerannt, um an der nächsten Haltestelle auszusteigen und sie zu pflücken. Bei uns ist es nämlich mit dem Essen ein bißchen knapp, seit Heini gekommen ist – ich meine, meine Mutter ist immer froh, wenn jemand etwas mitbringt. Ja, und als ich dann im Park war, merkte ich, daß ich die Papiere vergessen hatte. Aber ich habe mich eigentlich nicht weiter aufgeregt, weil ich ganz sicher war, daß ich sie im Depot wiederbekommen würde. Aber da waren sie nicht, und beim Fundbüro auch nicht. Ich war in den letzten zwei Tagen mehrmals dort, aber es ist hoffnungslos. Ich weiß nicht, wie ich das Mr. Proudfoot erklären soll. Er war doch so nett und hat sich so bemüht.»
«Machen Sie sich keine Sorgen, ich spreche mit ihm. Aber etwas anderes, Ruth. Meinen Sie nicht, es wäre jetzt an der Zeit, Heini und Ihren Eltern von unserer Heirat zu erzählen? Wir haben schließlich nichts getan, dessen wir uns schämen müssen. Ich bin überzeugt, sie würden ...»
«Nein, nein, bitte!» Ruth umklammerte seinen Arm und sah ihn flehend an. «Ich bitte Sie ... meine Mutter hat viel Verständnis, sie macht Heinis ganze Wäsche, und sie verköstigt ihn mit, und sie beklagt sich auch nicht, wenn er immer so lange im Bad bleibt ... aber was es bedeutet, ein Konzertpianist zu sein, hat sie irgendwie doch nicht ganz begriffen. Als zum Beispiel Paul Ziller für Heini diese Arbeit fand – er hätte zwei Abende in der Woche im Lyons Corner House Klavier spielen sollen –, da hat sie tatsächlich erwartet, daß er sie annimmt.»
«Aber er hat es nicht getan?»
«Nein. Er hat gesagt, wenn man diesen Weg einmal einschlägt, wird man als Musiker nie wieder ernstgenommen; aber Paul Ziller tut es natürlich auch, und meine Mutter ... sie ist Ihnen sowieso schon so dankbar dafür, daß Sie meinem Vater die Arbeit besorgt haben, und sie würde Sie bestimmt aufsuchen, um Ihnen zu danken, und Sie würden das fürchterlich lästig finden.»
«Ach ja, würde ich das?» fragte Quin in einem Ton, den sie bei ihm nie vorher gehört hatte. «Na ja, kann sein. Wie dem auch sei, ich werde Dick anrufen, damit er die Papiere noch einmal aufsetzen läßt. Machen Sie sich keine Vorwürfe, wir haben wahrscheinlich nur einen oder zwei Monate verloren.»
Sie lächelte. «Vielen Dank. Ich bin so erleichtert. Jetzt kann ich mich in Ruhe über meine Hausarbeit setzen.»
Erst am Ende des Tages kam Quin, der auf geheimnisvolle Weise seine gute Laune wiedergefunden hatte, dazu, seinen Anwalt anzurufen.
«Was hat sie getan?» fragte Proudfoot ungläubig.
«Das hab ich dir doch eben gesagt. Sie hat die Papiere im Bus liegengelassen .»
«Das ist doch nicht zu fassen! Ich hatte sie ihr extra in eine Riesenpappröhre gesteckt, die mit rotem Band zugeknotet war.»
«Aber sie hat sie nun mal verloren», sagte Quin und wiederholte in aller Kürze die Geschichte von den heißumkämpften Pilzen. «Du wirst das Ganze also noch einmal schreiben lassen müssen.»
«Ja, gut, aber diese Woche geht das nicht mehr – meine Sekretärin ist krank. Und nächste Woche reise ich für vierzehn Tage nach Madeira, du kannst also die nächste Sitzungsperiode des Gerichts vergessen.»
«Tja, das läßt sich nicht ändern», sagte Quin, und Dick Proudfoot dachte sich im stillen, wenn er wirklich Verena Plackett heiraten wollte, so schien es kein sonderlich dringender Wunsch zu sein. «Was tust du denn in Madeira?»
«Ich mache Urlaub», antwortete Proudfoot. «Und ich werde ein bißchen malen. Deine Frau meinte, ich sollte wieder anfangen.»
«Meine ...» Quin brach ab. Es wäre ihm nie eingefallen, Ruth so zu bezeichnen.
«Na ja, sie ist doch deine Frau, oder etwa nicht? Ich versteh sowieso nicht, wieso du sie unbedingt loswerden möchtest – du mußt wirklich verrückt sein. Aber mich geht das ja nichts an.»
«Ganz recht», bestätigte Quin freundlich. «Und ich warne dich, wenn sie wieder zu dir in die Kanzlei kommt, dann sprich ja nicht von Sigmund Freud, sonst bekommt sie einen Tobsuchtsanfall.»
«Auf die Idee käme ich gar nicht. Ich versteh überhaupt nichts von diesem Zeug.»
«Na, dann ist es ja gut. Ich wollte dich nur warnen.»
23
Paul Ziller machte Heini mit Mantella bekannt. «Er ist ein sehr guter Agent. Ein bißchen aggressiv in seiner Art, aber das müssen diese Leute sein. Warum gehen Sie nicht einmal zu ihm?»
«Arbeiten Sie auch mit ihm?»
Ziller schüttelte den Kopf. «Er ist nur an Solisten und berühmten Musikern interessiert.»
«Aber Sie könnten doch als Solist auftreten.»
«Nein. Ich bin ein Ensemble-Musiker.» Ziller schwieg, in seine eigenen Gedanken vertieft. Bei seiner Rückkehr ins Jewish Day Center hatte er dort zwischen den Waschbecken einen ausgezehrten und heruntergekommenen Mann angetroffen, der Cello spielte, und er spielte sehr gut. Er entpuppte sich als Milan Karvitz vom Prager Kammerorchester, soeben aus Spanien zurückgekehrt, wo er mit den Internationalen Brigaden gekämpft hatte ... und Karvitz seinerseits hatte den Bratschisten vom aufgelösten Berliner Ensemble mitgebracht. Von da an musizierten die drei zusammen, und es ging gut, auch wenn es im Garderobenraum ein bißchen eng war. Allerdings war das Repertoire für Streichtrios begrenzt, und nun hatte ein Mann aus Northumberland geschrieben, der dort als Chauffeur arbeitete. Ziller kannte ihn dem Ruf nach – ein hervorragender Geiger, ein Musiker, der sich nie in den Vordergrund drängte –, aber es kam nicht in Frage. Niemals konnte er Biberstein ersetzen; niemals. «Auf jeden Fall», fuhr er fort, sich aus seinen Gedanken reißend, «habe ich ihm von Ihnen erzählt. Suchen Sie ihn doch einfach einmal auf.»
Mantella war zwar in Hamburg aufgewachsen, doch von Geburt war er Südamerikaner, ein Mann mit olivfarbener Haut, einem schwarzen Spitzbart und einem ausgeprägten Riecher für Begabungen. Heini, das sah er sofort, als dieser sich am folgenden Tag in dem eleganten Büro in der Bond Street bei ihm vorstellte, hatte Möglichkeiten. An seiner musikalischen Begabung gab es keinen Zweifel; noch wichtiger war jedoch die Ausstrahlung des Jungen. Er rührte einen. Doch selbst Mantella konnte für einen Pianisten, der in England unbekannt und auf dem Kontinent noch nicht etabliert war, kein Konzert aus dem Boden stampfen. Immerhin hatte er einen Vorschlag für Heini.
«Ende Mai findet hier ein wichtiger Klavierwettbewerb statt. Unter der Schirmherrschaft von Boothebys – dem Musikverlag. Nein, machen Sie nicht gleich so ein Gesicht. Da mag der Kommerz dahinterstecken, aber die Preisrichter sind ausgezeichnete Leute. Kousselowski und Arthur Hanneman und der Direktor des Amsterdamer Konservatoriums. Die Russen schicken zwei Bewerber., und Leblanc aus Paris nimmt ebenfalls am Wettbewerb teil.»
«Der ist sehr gut», sagte Heini.
«Ich sag Ihnen ja, es ist eine ganz große Sache. Die Preise sind dank der kommerziellen Beteiligung beachtlich, und die Presse interessiert sich auch schon für den Wettbewerb. Die Endausscheidung findet in der Albert Hall statt – das BBC-Symphonieorchester hat sich bereit erklärt, bei den Konzerten zu begleiten, aber das ist noch nicht alles!» Er legte der Wirkung halber eine kurze Pause ein. «Jacques Fleury kommt extra aus den Staaten herüber!»
Das gab den Ausschlag. Fleury war einer der einflußreichsten Konzertagenten überhaupt, mit Häusern in Paris, London und New York. «Was für Konzerte werden verlangt? Ich könnte ein neues einstudieren, aber ich habe nur ein ziemlich mieses kleines Klavier, und ich würde lieber etwas spielen, das ich bereits studiert habe.»
Mantella zog den Ausschreibungsprospekt heraus. «Beethovens drittes, das erste von Tschaikowsky ... Rachmaninow Nummer zwei ... und Mozarts G-Dur-Konzert, Köchelverzeichnis 453.»
Heini lächelte. «Wirklich? Das G-Dur-Konzert? Mit dem Starenlied? Das ist gut.»
Mantella warf ihm einen scharfen Blick zu. «Was meinen Sie, mit dem Starenlied?»
«Dem Rondo im letzten Satz liegt angeblich der Gesang eines Stars zugrunde, den Mozart besaß. Meine Freundin würde sicher wollen, daß ich dieses Konzert spiele – ich habe sie immer so genannt, meinen kleinen Star –, aber brillieren kann man damit nicht. Ich werde den Tschaikowsky spielen.»
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