Eine Stunde, zwei wanderte Ruth durch die Straßen, dann machte sie sich, unnormal oder nicht, auf den Heimweg. Früher oder später würde sie Heini gegenübertreten müssen, Feigheit löste gar nichts.


«Herein!»

Fräulein Lutzenholler saß im Morgenrock in ihrem Zimmer und trank eine Tasse Kakao mit runzliger Haut. Über ihr hing ein Bild der Couch, auf der sie ihre Patienten in Breslau therapiert hatte, in der Gasheizung zischte ein kleines blaues Flämmchen, und sie war nicht im geringsten erfreut, Ruth zu sehen.

«Ich wollte gerade zu Bett gehen», erklärte sie.

Ruth trat ein, das Haar zerzaust, die Augen verschwollen. «Ich weiß. Entschuldigen Sie. Und ich weiß auch, daß Sie mir nicht helfen können, weil ich Sie ja nicht bezahlen kann, und Psychoanalyse wirkt nur, wenn man dafür bezahlt.»

«Außerdem darf ich in England gar nicht praktizieren», sagte Fräulein Lutzenholler abschließend.

«Aber ich dachte, Sie wüßten vielleicht, ob ich irgend etwas tun kann.» Es war Ruth schwergefallen, die Analytikerin in ihrem ungastlichen Zimmer aufzusuchen, zumal sie sich nach ihren Bemerkungen über die im Bus verlorenen Papiere geschworen hatte, ihr nie wieder etwas zu erzählen. Aber man konnte anscheinend seinem Schicksal nicht entkommen. «Ich bin so unglücklich, wissen Sie, und ich dachte, es gibt vielleicht in meiner Kindheit irgend etwas, das ich nicht verstanden habe. Etwas, das ich verdrängt habe.»

Fräulein Lutzenholler stellte seufzend ihre Tasse nieder. «Ist es wahr, daß Heini auszieht?» fragte sie.

Ruth nickte, und etwas wie ein Lächeln flog über das Gesicht der Analytikerin und erhellte den Schnurrbart auf ihrer Oberlippe.

«Mit der Verdrängung ist das nicht so einfach», sagte sie.

«Nein, sicher nicht. Aber ich weiß, wenn man irgend etwas Schlimmes mitansieht, solange man noch klein ist ... wenn man die eigenen Eltern – ach, Sie wissen schon, wenn man sie beim Liebesakt überrascht. Aber das war bei mir nie der Fall. Wenn mein Vater seinen Mittagsschlaf hielt, sind alle auf Zehenspitzen herum geschlichen, und meine Mutter saß mit ihrer Stickerei im Salon wie ein Wachposten und ermahnte dauernd alle zur Ruhe. Und sowieso hatte unsere Wohnung Doppeltüren, da konnte man gar nichts hören. Und am Grundlsee bin ich nach der vielen frischen Luft immer sofort eingeschlafen. Ich glaube deshalb nicht, daß ich ein Trauma habe, und ich kann nicht verstehen, was los ist.»

Fräulein Lutzenholler runzelte die Stirn. Die gute Laune, die die Nachricht von Heinis beabsichtigtem Auszug hervorgerufen hatte, war schon wieder vergangen, und sie sorgte sich jetzt um ihre Wärmflasche. Sie hatte sie vor einer halben Stunde gefüllt und stieg gern in ihr Bett, solange sie noch richtig heiß war.

«Wovon sprechen Sie eigentlich?» fragte sie, während sie die Haut mit dem Löffel vom Kakao schöpfte und in den Mund schob. «Ich verstehe Sie nicht.»

Ruth, die den ganzen Tag vor dem Wort zurückgeschreckt war, sprach es jetzt aus.

Es folgte eine Pause. Fräulein Lutzenholler sah auf die Uhr. «Ruth, es ist Viertel vor elf. Ich kann das jetzt nicht mit Ihnen diskutieren. Es ist ein technisches Problem, das viele Ursachen haben kann; physiologische, psychologische ...»

«Ach, bitte, bitte helfen Sie mir doch!»

Fräulein Lutzenholler unterdrückte ein Gähnen.

«Also gut, dann erzählen Sie mir, was geschehen ist.»

Ruth begann zu sprechen. Ihre Worte überschlugen sich, Tränen schossen ihr in die Augen, das Haar fiel ihr ins Gesicht und wurde ungeduldig zurückgestrichen.

Fräulein Lutzenholler hörte sich diese Ergüsse einer gequälten Seele mit wachsendem und unverhohlenem Mißvergnügen an. Sie stellte ihre schmutzige Tasse wieder auf die Untertasse.

«Ich glaube, Sie müssen erst einmal begreifen, Ruth, daß Fachausdrücke keine Spielzeuge für Amateure sind. Ich kann Ihnen leider nicht helfen, und ich möchte jetzt zu Bett gehen.»

«Ja, natürlich ... entschuldigen Sie vielmals.»

Ruth wischte sich die Augen und stand auf. Sie war schon an der Tür, als Fräulein Lutzenholler einen einzigen Satz sagte. «Vielleicht», sagte sie, «lieben Sie ihn nicht.»


Ein paar Tage später gab Heini bekannt, daß er nun doch bleiben werde. Seine Bemühungen, ein Zimmer zu finden, hatten ihn tief erschüttert: Die Mieten waren unerschwinglich, üben durfte man praktisch überhaupt nicht, und natürlich gab es niemanden, der für einen kochte. Da der erste Durchgang des Klavierwettbewerbs nur noch sechs Wochen entfernt war, schuldete er es allen, sich die besten Arbeitsbedingungen zu sichern. Und auf Mantella mußte man ja auch noch Rücksicht nehmen. Heinis Agent hatte ein Presseinterview geplant, bei dem Ruth zugegen sein sollte. Wenn Heini ihr auch nicht ganz vergeben konnte, so war er doch entschlossen, ihr nichts nachzutragen, und so wurde dann in Belsize Park, während sich das Osterfest näherte, eine Art stillschweigender Waffenstillstand geschlossen.


Zu Verenas vielen ausgezeichneten Eigenschaften gehörte eine leidenschaftliche Begierde, an den Zusammenkünften gelehrter Geister teilzunehmen, insbesondere an solchen mit nachfolgenden Empfängen, bei denen sie, als Tochter des Vizekanzlers der Universität Thameside, mit den Teilnehmern bekannt gemacht wurde. Den Vortrag in der Geophysikalischen Gesellschaft jedoch besuchte sie aus persönlichen Gründen. Das Thema, «Vulkane der Kreidezeit», glaubte sie, würde Quin interessieren, und es war jetzt ihr vordringlichstes Ziel, außerhalb des schulischen Rahmens mit ihm zusammenzutreffen.

Als sie im Vortragssaal ihren Platz einnahm, konnte sie Quin jedoch nirgends entdecken. Statt dessen saß zu ihrer Linken ein kleiner, adretter Mann mit einem gepflegten Oberlippenbärtchen und etwas ordinären zweifarbigen Schuhen, der sich ihr als Dr. Brille-Lamartaine vorstellte und eine Neigung zeigte, nicht von ihrer Seite zu weichen, als sie nach dem Vortrag in den Gesellschaftsraum ging, wo Getränke und Kanapees warteten.

«Ein ausgezeichneter Vortrag, nicht wahr?» sagte Brille-Lamartaine, der, wie sich herausstellte, ein belgischer Geologe war. «Ich hatte eigentlich erwartet, Professor Somerville hier zu sehen, aber er scheint nicht gekommen zu sein.»

Verena stimmte zu und fragte, woher er den Professor kenne.

«Ich war mit ihm in Indien. Auf seiner letzten Expedition», antwortete Brille-Lamartaine. Er nahm sich ein Glas Wein, verzichtete jedoch auf die Kanapees, denn in diesem Land Garnelen zu essen, war immer ein Risiko. «Ich hatte großen Anteil daran, daß wir die Höhlen entdeckten, wo wir unsere bedeutendsten Funde gemacht haben.» Er seufzte, denn Milner hatte ihm an diesem Morgen etwas erzählt, das ihn tief bekümmerte.

«Wie interessant», sagte Verena, die wirklich begierig war, mehr zu hören. «Und hat Ihnen die Reise gefallen?»

«Ja, ja, sehr. Natürlich hat es Zwischenfälle gegeben ... meine Brille ging zu Bruch ... und der Proviant war nicht das, was man hätte erwarten können. Aber Professor Somerville ist ein großartiger Mann – eigensinnig natürlich, auf vieles, was ich ihm sagte, wollte er einfach nicht hören, aber er ist ein großer Mann. Jetzt allerdings wird es ihm wohl das Genick brechen.»

«Das Genick brechen?» fragte Verena entsetzt. «Wie meinen Sie das?»

«Auf seine nächste Expedition nimmt er eine Frau mit. Eine Frau zur Kulamali-Schlucht! Eine seiner Studentinnen, in die er sich verliebt hat, anscheinend. Ich sage Ihnen, das ist das Ende. Ich werde selbstverständlich nicht mit ihm reisen – ich weiß genau, was geschehen wird.» Er nahm sich ein zweites Glas Wein und wischte sich, von gräßlichen Bildern verfolgt, die schweißnasse Stirn. Eine nackte Frau, die mit lang herabwallendem Haar, das ihren Körper nur notdürftig verdeckte, ins Zelt kroch; die ihre Unterwäsche auf einer zwischen Dornenbäumen gespannten Leine aufhängte. Bald würde sie von seinem Privatvermögen hören und Andeutungen machen. Von Somerville war ja bekannt, daß er die Ehe scheute. «Ich habe großen Respekt für den Professor», bemerkte er und rückte näher an Verena heran, die so gar keine Ähnlichkeit mit der Lilith seiner Phantasie hatte, sondern eher an seine unverheiratete Tante erinnerte, «aber das ist das Ende!»

«Wirklich, Dr. Brille-Lamartaine, sind Sie sicher, daß er eine seiner Studentinnen mitnehmen will?»

Der Belgier nickte. «Absolut. Sein Assistent hat es mir gestern erzählt – er genießt das volle Vertrauen des Professors. Der Professor hat sich in eine seiner Studentinnen verliebt, die aus sehr guter Familie kommt und angeblich eine brillante Wissenschaftlerin ist. Es ist noch ein Geheimnis, weil nicht der Anschein erweckt werden soll, daß er sie bevorzugt, aber im Juni will er sich ihr erklären. Ich sage Ihnen, Frauen darf man auf diese Expeditionen nicht mitnehmen, das ist immer eine Katastrophe, ich habe es erlebt. Da gibt es endlose Eifersüchteleien, Intrigen – und sie tragen keine Unterwäsche.» Er leerte sein Glas und wischte sich erneut die Stirn. «Ich bitte Sie, nichts zu sagen», fügte er hinzu. «Oh, da ist Sir Neville Willington – würden Sie mich entschuldigen?»

«Aber natürlich», sagte Verena. «Selbstverständlich.»

Sie konnte es kaum erwarten, allein zu sein. Wenn sie überhaupt noch eine Bestätigung gebraucht hatte, so hatte sie sie jetzt bekommen. Sie hatte ja eigentlich nie an Quin gezweifelt, aber sein fortgesetztes Schweigen hatte sie manchmal irre gemacht. Dabei hatte er so recht –wie konnte er sich erklären, solange sie noch seine Studentin war? Erst in der vergangenen Woche war in Cambridge ein Professor vor die Tür gesetzt worden, weil er sich mit einer seiner Studentinnen eingelassen hatte. Es war töricht von ihr gewesen, sich einzubilden, daß Quin sich in diesem Stadium öffentlich erklären würde. Und sie würde nicht einmal verlangen, daß er sie heiratete, bevor sie in See stachen. Die Eheschließung würde selbstverständlich von selbst folgen, wenn er sah, wie ideal sie zusammenpaßten, aber sie würde sie nicht zur Bedingung machen.


Frances kam im allgemeinen nur zweimal im Jahr nach London; im November, um Weihnachtseinkäufe zu machen, und im Mai zur Blumenschau in Chelsea. In diesem Jahr jedoch führte die Hochzeit ihrer Patentochter sie Ende März schon nach London. Sie reiste unter Protest, nur weil Martha nicht lockerließ und behauptete, sie brauche dringend ein neues Kleid und ganz besonders neue Schuhe.

«Unsinn», versetzte Frances. «Ich habe erst für die Taufe bei den Godchesters neue Schuhe gekauft.»

«Das war vor zwölf Jahren», sagte Martha.

Frances haßte es, für sich einzukaufen, aber wenn es denn sein mußte, dann ging sie zu Fortnum's beim Piccadilly Circus. Mürrisch packte sie Marthas Einkaufsliste ein und machte sich mit Harris am Steuer in dem alten Buick auf die Fahrt nach Süden. Neben ihr auf dem Rücksitz stand ein Karton, in dem in Holzwolle eingebettet ein Dutzend Blumenzwiebeln lagen, die sie nach einigem Zögern am Vortag in ihrem Garten ausgegraben hatte.

Wenn Frances in London war, wohnte sie niemals bei Quin, dessen Wohnung für sie etwas leicht Anrüchiges hatte und wo man, wie sie meinte, stets darauf gefaßt sein mußte, französischen Schauspielerinnen oder Tänzerinnen zu begegnen. Sie pflegte mit ihm zu essen, aber sie wohnte im Brown's Hotel, wo immer alles gleichblieb. Harris schickte sie zu seiner verheirateten Schwester nach Peckham.

Sie hatte ihren Tag sorgfältig geplant, doch als sie am nächsten Morgen zu Harris in den Wagen stieg, war sie selbst überrascht von den Anweisungen, die sie ihm gab.

«Fahren Sie mich nach Belsize Close Nummer 27», sagte sie. Harris zog die Augenbrauen hoch. «Das ist in Hampstead, nicht wahr?»

«Beinahe. Es ist in der Nähe von Haverstock Hill.»

Wieso das? dachte Frances, die ihren Impuls bereits bereute. Heute abend würde sie Quin sehen – warum ließ sie die Zwiebeln nicht einfach über ihn an Ruth weiterleiten?

Je weiter sie nach Norden kamen, desto schäbiger und ärmlicher wurden die Straßen, und als Harris anhielt, um nach dem Weg zu fragen, erhielten sie ihre Anweisungen von einem wild gestikulierenden Ausländer mit einem großen schwarzen Hut, dessen Englisch kaum zu verstehen war. Das Haus Nummer 27 war alles, was sie befürchtet hatte: ein heruntergekommenes Mietshaus mit ungestrichener Haustür und morschen Fensterrahmen. Eine Katze war dabei, die Mülltonnen zu plündern; die Pflastersteine des Bürgersteigs waren gesprungen.

«Ich bin gleich wieder da», sagte sie zu Harris und ging die kurze Treppe hinauf.

Leonie, die die Ruhe ihres Wohnzimmers genoß, da Heini ausnahmsweise außer Haus war, hörte die Glocke, ging nach unten und sah eine ihr unbekannte, hagere Frau im burgunderroten Tweedkostüm und hinter ihr eine unverkennbar teure, wenn auch sehr alte Limousine mit uniformiertem Chauffeur.