Sie schüttelte den Kopf. «Nein, das glaube ich nicht.» Die Worte waren fast nicht zu hören. «Ich glaube, für mein Volk ist es Nacht geworden.»

«Unsinn.» Er sprach betont munter. «Wir werden schon Mittel und Wege finden, um Sie hier herauszubekommen. Ich gehe gleich morgen früh zum britischen Konsulat.»

Wieder dieses Kopfschütteln, bei dem das blonde Haar ihr um die Schultern tanzte. «Ich habe alles versucht. Hier sitzt ein Mann im Amt, der den Leuten bei der Ausreise helfen soll, aber in Wirklichkeit sorgt er nur dafür, daß ihnen alles abgenommen wird, was sie besitzen. Sie haben keine Ahnung, was hier los ist – die Leute weinen und schreien ...»

Er war aufgestanden und ging langsam durch das Zimmer, während er überlegte. «Die Wohnung ist wirklich sehr groß.»

«Ja.» Sie nickte. «Zwölf Zimmer. Zwei davon hat meine Großmutter bewohnt, aber sie ist letztes Jahr gestorben. Als ich klein war, bin ich hier mit meinem Dreirad in sämtlichen Korridoren herumgefahren.» Sie folgte ihm. «Das ist mein Vater in der Uniform des 14. Ulanenregiments. Er wurde zweimal wegen Tapferkeit ausgezeichnet – er konnte nicht glauben, daß das alles nicht zählt.»

«Ist er Jude?»

«Ja, der Geburt nach. Ich glaube aber nicht, daß er sich je darüber Gedanken gemacht hat. Seine Religion ist die Menschlichkeit ... er glaubt, daß jeder sich bemühen sollte, das Beste aus sich herauszuholen. Er glaubt an einen Gott, der allen gehört – daß man den göttlichen Funken, der in einem ist, hüten und zur Flamme anfachen muß. Und meine Mutter ist katholisch erzogen worden, für sie ist es doppelt schlimm. Sie ist nur Halbjüdin – vielleicht auch Vierteljüdin, wir wissen es nicht genau. Sie hatte eine sehr arische Mutter – so eine Art Ziegenhirtin.»

«Dann sind Sie also – was? Drei Viertel? Fünf Achtel? Es ist schwer zu glauben.»

Sie lächelte. «Meine Stupsnase, meinen Sie – und mein helles Haar. Meine Großmutter kam vom Land – die Ziegenhirtin, meine ich. Mein Großvater entdeckte sie wirklich beim Ziegenhüten – oder jedenfalls beinahe. Sie stammte von einem Bauernhof. Wir haben sie manchmal ausgelacht und sie Heidi genannt; sie hat in ihrem ganzen Leben kein Buch gelesen, aber heute bin ich ihr dankbar, weil ich ihr ähnlich sehe und mich nie jemand belästigt.»

Sie hatten die Glasveranda mit Blick in den Hof erreicht. In der Ecke neben einem Oleander stand eine mit Rosen und Lilien bemalte Wiege. Auf dem Kopfbrett stand in verschnörkelter Schrift «Ruthchens Wiege».

Quirl stieß sie mit der Fußspitze an. Ruth schwieg. Unten im Hof breitete die blühende Kastanie ihre ausladenden Äste aus. An einem von ihnen hing eine Schaukel; an einer Wäscheleine, die zwischen zwei Pfosten gespannt war, flatterten eine Reihe rotweiß karierter Geschirrtücher und ein Babyhemdchen, das nicht größer war als ein Taschentuch.

«Da unten habe ich immer gespielt», sagte sie. «Als ich noch klein war. Ich fühlte mich dort so geborgen. Der Hof war für mich der sicherste Platz der Welt.»

Er hatte nichts gesagt, sich nicht gerührt, dennoch veranlaßte irgend etwas sie, sich umzudrehen. Sie hatte von ihm das Bild eines gütigen, kultivierten Menschen; aber jetzt wirkte das zerfurchte Gesicht wie eine Teufelsmaske: der Mund verzerrt, die Haut über den Knochen straff gespannt. Die Verwandlung hielt nur einen Moment an. Dann legte er leicht die Hand auf ihren Arm.

«Wir können bestimmt etwas tun. Warten Sie nur.»


Ruth hatte nicht übertrieben. Das Chaos und die Verzweiflung, die der Anschluß hervorgerufen hatte, waren unbeschreiblich. Er war früh ins britische Konsulat gekommen, aber in den Gängen hatten sich bereits Warteschlangen gebildet. Die Menschen bettelten um Papiere – Visa, Pässe, Genehmigungen – wie Verhungernde um Brot.

«Tut mir wirklich leid, Sir, aber da kann ich Ihnen nicht weiterhelfen», sagte der Beamte, nachdem er sich Ruths Unterlagen angesehen hatte. «Wir würden die Dame ja ins Land lassen, aber die Österreicher lassen sie hier nicht heraus. Sie müßte einen neuen Auswanderungsantrag stellen, und die Bearbeitung kann Monate oder Jahre dauern. Die Quote ist voll, wissen Sie.»

«Und wenn ich für sie bürgen würde – garantieren, daß sie dem Staat nicht zur Last fallen wird? Oder wenn ich ihr eine Arbeitsgenehmigung als Haushaltshilfe besorgen würde? Meine Familie könnte ihr eine Anstellung geben.»

«Das müßten Sie von England aus arrangieren, Sir. Hier geht alles drunter und drüber, seit Österreich kein unabhängiger Staat mehr ist. Die Botschaft soll geschlossen werden, und unser Personal wird schon laufend heimgeschickt.»

«Lieber Gott, das Mädchen ist zwanzig Jahre alt. Ihre ganze Familie ist in England – sie steht völlig allein da.»

«Es tut mir leid, Sir», wiederholte der junge Mann müde. «Glauben Sie mir, was ich hier in den letzten Wochen erlebt habe ... aber von hier aus läßt sich nichts tun. Jedenfalls nichts, was für Sie in Frage käme.»

«Und was ist das, was für mich nicht in Frage käme?»

Der junge Mann sagte es ihm.

Ach, zum Teufel mit dem Mädchen, dachte Quin. Er hatte im Nachtzug ein Schlafwagenabteil reserviert; die Examen begannen in weniger als einer Woche. Bei Antritt seines Forschungsurlaubs hatte er versprochen, zum Ende des Semesters zurückzusein. Er hatte nicht vor, die Benotung der Arbeiten seinem Stellvertreter zu überlassen.

Er trat in das Haus in der Rauhensteingasse und ging in den ersten Stock hinauf. Die Wohnungstür stand weit offen. Im Flur war der Spiegel zerschlagen, der Schirmständer war umgekippt. Das Wort «Jude» war mit gelber Farbe quer über die Fotografie geschmiert, die Kurt Berger mit dem Kaiser zeigte. Im Salon hatte man die Bilder von den Wänden gerissen; die Palme lag entwurzelt auf dem Teppich. Im Eßzimmer waren die Türen der Vitrine gesprengt, das Meißner Porzellan war verschwunden.

Ruths Wiege auf der Veranda war in Stücke geschlagen.

Er hatte vergessen, was für eine heftige körperliche Wirkung der Zorn hatte. Er mußte mehrmals tief Atem holen, ehe das Schwindelgefühl sich legte und er die Treppe hinuntersteigen konnte.

Diesmal war die Hausmeisterin in ihrer Loge.

«Was ist in Professor Bergers Wohnung passiert?»

Sie warf einen nervösen Blick zur offenen Tür, hinter der er einen alten Mann sehen konnte, der mit ausgestreckten Beinen in einem Sessel saß und Zeitung las.

«Sie sind plötzlich hier erschienen – so ein paar Braune – eine richtige Schlägerbande, anders kann man's nicht nennen. Das tun sie immer, wenn Wohnungen leerstehen. Offiziell ist es nicht erlaubt, aber keiner unternimmt was gegen sie.» Sie zog die Nase hoch. «Ich weiß nicht, was ich tun soll. Der Professor hat mich gebeten, mich um die Wohnung zu kümmern, aber wie soll ich das machen? Nächste Woche zieht da ein deutscher Diplomat ein.»

«Und Fräulein Berger? Was ist mit ihr?»

«Keine Ahnung.» Wieder ein ängstlicher Blick zur offenen Tür. «Ich kann Ihnen nichts sagen.»

Er war schon auf der Straße, als er ihre heisere alte Stimme hörte. Sie rief ihn, und als er sich umdrehte, rannte sie ihm nach, immer noch in ihrer Kittelschürze.

«Ich soll Ihnen das von ihr geben. Von Fräulein Berger. Aber Sie sagen bittschön nichts, Herr Doktor? Mein Mann ist schon seit Jahren bei den Nazis, er würde es mir nie verzeihen. Ich könnte die größten Scherereien kriegen.»

Sie reichte ihm einen weißen Umschlag, aus dem, als er ihn öffnete, zwei Schlüssel herausfielen.

2

Ruth hatte das Standbild der Kaiserin Maria Theresia auf ihrem Marmorsockel immer besonders gern gehabt. Von ihren Feldherren, mehreren Pferden und Buchsbaumhecken umgeben, sah sie mit dem selbstzufriedenen Blick der guten Hausfrau, die eine volle Speisekammer und ordentliche Schränke hinterlassen hat, auf die flanierenden Wiener hinunter. Jedes Schulkind wußte, daß sie Österreich groß gemacht hatte, daß der sechsjährige Mozart auf ihrem Schoß gesessen, daß ihre Tochter Marie-Antoinette den König von Frankreich geheiratet und unter der Guillotine geendet hatte.

Für Ruth besaß die rundliche, hausbackene Kaiserin noch eine zusätzliche Bedeutung: Sie war die Hüterin der beiden großen Museen zu beiden Seiten des Platzes, der ihren Namen trug. Auf der Südseite stand das Kunsthistorische Museum, ein majestätischer Pseudo-Renaissancepalast, in dem die berühmten Gemälde Tizians und Holbeins hingen und die schönsten Brueghels der Welt. Und im Norden – sein Pendant bis auf die letzte kannelierte Säule und gezierte Kuppel – war das Naturhistorische Museum. Als Kind hatte sie beide Museen geliebt. Das Kunsthistorische Museum gehörte zu ihrer Mutter, angefüllt mit Erbauung, Leiden und Liebe – etwas sehr viel Liebe. Die Madonnen liebten ihre Kindlein, Jesus liebte die armen Sünder, und der heilige Franz liebte die Vögel.

Im Naturhistorischen Museum gab es keine Liebe, sondern nur Fortpflanzung. Dafür aber gab es dort Geschichten und Phantasiereisen und viel Arbeit. Dies war die Welt ihres Vaters, und wenn Ruth ihn dort besuchte, dann war sie nicht ein Kind wie alle anderen. Wenn sie sich nämlich an dem Helmkasuar in seinem Nest, dem See-Elefanten mit seinem gewaltigen Brustkasten und an den schimmernden Bändern der Schlangen in ihren mit farbiger Flüssigkeit gefüllten Behältern sattgesehen hatte, konnte sie durch eine Zaubertür gehen und wie Alice im Wunderland in eine geheime Welt eintreten.

Hier, hinter den vergoldeten, stillen Galerien mit ihren grauuniformierten Wächtern, befand sich ein Labyrinth von Präparierräumen und Labors, von Werkstätten und Büros. Hier wurde die wahre Arbeit des Museums geleistet. Hier war das Zentrum wissenschaftlicher Arbeit und fachlichen Wissens, dessen Wirken bis in die fernsten Länder reichte. Seit ihrer frühen Kindheit hatte Ruth bei dieser Arbeit zusehen und helfen dürfen. Manchmal galt es das Skelett eines Dinosauriers zusammenzusetzen; manchmal durfte sie Konservierungsmittel auf eine ausgespannte Tierhaut sprühen. Das Zimmer ihres Vaters war ihr so vertraut wie sein Arbeitszimmer in der Rauhensteingasse. Jetzt flüchtete sie sich, der Heimat und der Hoffnung beraubt, an diesen Ort.


Es war Dienstag, der Tag, an dem das Museum für die Öffentlichkeit geschlossen war. Leise öffnete Ruth die Seitentür und huschte die Treppe hinauf.

Im Zimmer ihres Vaters war alles so wie immer. Sein Labormantel hing hinter der Tür; seine Aufzeichnungen lagen neben einem Stapel Zeitschriften auf dem Schreibtisch. Auf dem Arbeitstisch am Fenster stand das Brett mit den fossilen Skeletteilen, die er zu sortieren begonnen hatte, als er das letzte Mal hiergewesen war. Noch hatte man das Schild mit seinem Namen nicht von der Tür genommen; noch hatte man die beiden Schlüsselringe, von denen sie einen bei der Hausmeisterin zurückgelassen hatte, nicht beschlagnahmt.

Sie stellte ihren Koffer neben den Aktenschrank und ging hinüber in den kleinen Garderobenraum, in dem es auch einen Gasring und einen Wasserkessel gab. Nebenan war ein Präparierzimmer mit Borden voller Flaschen und einem Feldbett, auf dem manchmal Wissenschaftler oder Laboranten ein Nickerchen machten, wenn sie sehr lange arbeiten mußten.

«Lieber Gott, mach, daß er kommt», betete Ruth laut.

Aber weshalb sollte er kommen, dieser Engländer, der ihr nichts schuldete? Wer wußte, ob er überhaupt die Schlüssel bekommen hatte, die sie bei der Hausmeisterin für ihn hinterlassen hatte. Ohne zu überlegen, was sie tat, zog sie einen Hocker an den Arbeitstisch, auf dem das Brett mit den Skeletteilen stand, und begann mit geübten Händen, die Wirbelknochen herauszusuchen und sie von Erde und kleinen Steinchen zu reinigen. Das Haar fiel ihr ins Gesicht, als sie sich vorbeugte; sie faßte es, drehte es im Nacken zusammen und stieß den Stiel eines Pinsels durch die Nackenrolle. Das hatte sie von einer japanischen Kommilitonin gelernt.

Die Stille war greifbar. Es war früher Abend geworden; die Museumsangestellten waren alle nach Hause gegangen. Nicht einmal die Wasserleitungen und der Aufzug machten die üblichen Geräusche. Gewissenhaft und völlig sinnlos fuhr Ruth fort, die Knochen des urzeitlichen Höhlenbären zu ordnen, und wartete ohne Hoffnung auf den Engländer.


Als sie das Knirschen des Schlüssels im Türschloß hörte, wagte sie nicht, den Kopf zu drehen. Sie hörte die Schritte, deren Klang erstaunlicherweise schon vertraut war, dann schob sich ein Arm über ihre Schulter, und flüchtig fühlte sie den Stoff seines Jacketts an ihrer Wange.

«Nein, der ist es nicht», sagte er ruhig. «Der paßt nicht, das werden Sie gleich sehen. Sie brauchen sich nur die Größe des Wirbellochs anzuschauen.»

Sie lehnte sich auf ihrem Hocker zurück und fühlte sich mit einemmal so sicher wie früher, wenn ihr Klavierlehrer seine Hand auf die ihre gelegt und ihr bei einer schwierigen Passage die Finger geführt hatte.