Ruth wurde wieder übel. Bitte, lieber Gott, ich werde alles tun, was du von mir verlangst, aber laß Heini den ersten Preis gewinnen!


Das Abendessen war ausgezeichnet gewesen, wie immer bei Rules; sie hatten einen erlesenen Chablis getrunken, und Claudine Fleury, in einem kleinen schwarzen Kleid, das bemerkenswerte Ähnlichkeit mit einem raffinierten Hemdchen hatte, hatte Quin zu einem vielbeneideten Mann gemacht.

Jetzt gähnte sie verhalten. «Das war ein wunderschöner Abend, Darling. Ich wünschte, wir könnten jetzt zu mir fahren, aber Jacques ist noch eine ganze Woche hier.»

«Natürlich, das verstehe ich», sagte Quin, und es gelang ihm, gerade das richtige Maß an Bedauern in seine Worte zu legen. Claudine hatte ihn einige Tage zuvor angerufen, weil sie ihn noch einmal sehen wollte, ehe er nach Afrika abreiste, und er war bereit gewesen, den Abend so zu nehmen, wie sie ihn gestalten wollte. Er schuldete ihr viele vergnügliche Stunden; dennoch kam ihm die vorübergehende Heimkehr ihres Vaters nicht ungelegen.

«Wie geht es Jacques? Hat er wieder ein paar junge Genies aufgetrieben?»

«Du wirst lachen, das hat er tatsächlich. Er rief an, kurz bevor ich ging. Er hat einen jungen Österreicher unter Vertrag genommen, einen Pianisten, den er nach New York mitnehmen und dort groß herausbringen will. Heute hat irgendein Wettbewerb stattgefunden; er hatte mich aufgefordert mitzukommen, aber drei Klavierkonzerte an einem Nachmittag – nein, danke!»

«Dann hat dieser junge Österreicher gesiegt?»

«Nein. Er mußte sich den ersten Preis mit einem Russen teilen, und das scheint ihm gar nicht recht gewesen zu sein. Jacques hält den Russen für musikalischer, aber mit den Russen ist im Moment nichts anzufangen; sie werden ja so streng bewacht. Den Osterreicher, Heini Radek, hingegen kann er praktisch sofort in die Staaten mitnehmen. Und seine Freundin auch – ein sehr hübsches Mädchen offenbar, die Radek abgöttisch zu lieben scheint. Ich glaube, sie hat monatelang in einem Café als Bedienung gearbeitet, um Radeks Klavier zu bezahlen oder so was Ähnliches.» Sie gähnte wieder, legte dann ihre Hand auf die seine. «Wir werden uns wohl vor deiner Abreise nicht mehr sehen?»

«Nein, es sind ja nicht einmal mehr drei Wochen. Und Claudine – ich danke dir für alles.»

«Oh, das klingt aber sehr nach endgültigem Abschied, Darling!» Sie sah ihn forschend an. «Wir werden uns doch wiedersehen?»

«Ja, natürlich.»

Sie lächelte. «Du wirst mir fehlen, chéri. Du wirst mir sogar sehr fehlen, aber ich glaube, du brauchst diese Reise», sagte sie. «Ja, ich glaube, du brauchst sie ganz dringend.»


Die Nachricht von Quins Entschluß, Thameside zu verlassen, die der Vizekanzler offiziell am ersten Tag des Sommersemesters erhielt, hatte Lady Plackett so mitgenommen, daß Verena sich gezwungen sah, unter vier Augen mit ihrer Mutter zu sprechen und sie in den wahren Stand der Dinge einzuweihen.

«Es gibt gar keinen Zweifel, Mama, daß er die Absicht hat, mich nach Afrika mitzunehmen, aber es muß vorläufig noch ein Geheimnis bleiben. Ich kann mich doch auf dich verlassen, nicht wahr?»

Lady Plackett war nicht so erfreut gewesen, wie Verena gehofft hatte. Sie wünschte einen Heiratsantrag von Quin, nicht daß er sich ihrer Tochter als unbezahlte Forschungsassistentin bediente. Doch sie mußte einsehen, daß Verena, die bisher immer nur getan hatte, was sie selber wollte, nun ihre eigenen Wege ging. Sie blieb daher Quin gegenüber freundlich und entgegenkommend und lud ihn weiterhin zu exklusiven kleinen Abendessen ein.

Verenas Reisevorbereitungen liefen derweilen auf vollen Touren. Sie hatte sich eine Höhensonne gekauft; sie hatte sich mit Netzhemden und Khakihosen eingedeckt; sie rieb sich ihre Füße allabendlich mit Franzbranntwein ein. Andere hätten sich vielleicht gewundert, weshalb der Professor so lange brauchte, um sie in seine Pläne einzuweihen, aber Verena kannte keine Minderwertigkeitsgefühle, und wenn sie doch irgendwelche Zweifel an sich gehabt hätte, so wären sie von Brille-Lamartaine ausgeräumt worden, dessen aufgeregte Beschreibungen der akademischen femme fatale, die Somerville in ihren Netzen gefangen hatte, genau auf sie paßten.

Doch nun, da die Abschlußexamen nur noch eine Woche entfernt waren, fand Verena, sie könnte dem Professor wenigstens einen Wink geben. Er hatte ihre letzte Arbeit so freundlich gelobt, daß ihr ganz warm geworden war, und die intime Diskussion über luftdurchlässige Unterwäsche, die sie mit ihm geführt hatte, schien ihr ein Hinweis darauf, daß die Zeit strenger Geheimhaltung nun vorüber sei.

Quin wurde also zum Tee eingeladen, und da er sich der Tatsache bewußt war, daß dies sein letztes gesellschaftliches Beisammensein mit der Familie Plackett sein würde, bemühte er sich, liebenswürdig zu sein.

Es war ein schöner Frühsornmertag, die Terrassentüren waren weit geöffnet, der Blick hinaus war Quin aus früheren Jahren vertraut, als Placketts Vorgänger noch gelebt hatte und die Gespräche zwanglos und amüsant gewesen waren.

«Wollen wir nicht einen Moment auf die Terrasse hinausgehen?» schlug Verena vor, und er nickte und folgte ihr, während Lady Plackett taktvoll zurückblieb. An die Brüstung gelehnt, ließ Quin seine Gedanken schweifen, während er zum träge dahinströmenden Fluß hinuntersah.

«Du lebst immer irgendwo am Wasser, nicht wahr?» hatte die törichte kleine Tansy Mallet gesagt, und es stimmte, er lebte immer am Wasser, wenn es irgend möglich war, und würde wahrscheinlich auf ihm sterben, denn er war immer noch entschlossen, im Kriegsfall zur Marine zu gehen.

Wasser, Flüsse verbanden auch ihn und Ruth: die Arve, die sie mit einem Rucksack auf dem Rücken hatte durchschwimmen wollen ... die Donau, die Mishak seinen Herzenswunsch erfüllt hatte ... und die Themse, an der sie in jener Nacht gestanden hatten, die, wie er geglaubt hatte, ihre Liebe besiegelte. Plötzlich wurde Quin von einer so qualvollen Sehnsucht nach Ruth erfaßt, daß er meinte, er müßte daran sterben. Und noch während er versuchte, sich gegen diesen Schmerz, der ihn zu Boden zu werfen drohte, zu wehren, begann Verena, die neben ihm stand, zu sprechen. Im ersten Moment konnte er ihre Worte gar nicht hören. Erst als sie sie wiederholte und dabei eine Hand auf seinen Arm legte, gelang es ihm, den Sinn ihrer Worte zu erfassen.

«Ist es nicht Zeit, daß wir es publik machen, Quin?» fragte sie, und er fuhr zurück vor der Vertraulichkeit, dem Unterton in ihrer Stimme.

«Daß wir was publik machen?»

«Daß Sie mich nach Afrika mitnehmen werden. Sie sehen, ich weiß es schon. Brille-Lamartaine hat mir erzählt, daß Sie die Absicht haben, eine Ihrer Studentinnen, die jetzt Examen machen, mitzunehmen, und Milner hat es bestätigt. Sie hätten mir vertrauen können.»

Quin war entsetzt. Zu spät sah er den Pfad von Mißverständnissen, der zu diesem Augenblick geführt hatte. Aber Ruths Bild war noch so frisch in seinem Herzen, der Schmerz um sie noch zu bitter, als daß er hätte höflich sein können. Was er sagte, war grausam, doch er konnte nicht anders.

«Um Gottes willen, Verena», sagte er, «Sie glauben doch nicht etwa, ich hätte Sie mitnehmen wollen!»


Die Abschlußexamen fanden in der King's Hall statt, einem großen roten Backsteinbau, häßlich und abschreckend, dessen Mauern von der Furcht von Generationen von Prüflingen getränkt zu sein schienen. Dunkle Holzbänke standen in angemessenem Abstand voneinander zu Füßen eines hohen Podiums, auf dem die Aufsichtspersonen saßen. Große Schilder verboten das Rauchen, das Essen, das Sprechen. Eine Uhr, die zwischen Porträts rotgesichtiger Vizekanzler hing, tickte erbarmungslos, und auf dem fleckigen Holzboden lag kein Teppich.

Tag für Tag hatten sich Ruth und ihre Freunde mit flatternden Mägen zu diesem schrecklichen, kargen Ort begeben, hatten bleich vor Furcht und Schlaflosigkeit vor der Tür gewartet, versucht, sich die Zeit mit Witzen zu vertreiben, bis es läutete und sie hineingelassen und mit Nummern versehen wurden wie Sträflinge, um dann zu den häßlichen Pulten mit den blauen Mappen und den weißen Löschblättern zu gehen, die sie noch Jahre später im Traum sehen würden.

Aber heute war die letzte Prüfung, wenn auch die wichtigste. In drei Stunden würden sie frei sein! Die paläontologische Prüfung war heute an der Reihe, die, in der Ruth ganz besonders zu glänzen gehofft hatte. Jetzt hoffte sie nur noch, irgendwie durchzukommen.

«Du schaffst es schon, Pilly.» So schlecht es ihr selbst ging, schaffte es Ruth doch, der Freundin ermutigend zuzulächeln. «Mach als erstes die Kurzfragen, da kannst du dir immer ein paar Punkte holen.»

Es läutete. Die Tür wurde geöffnet. Selbst an diesem strahlenden Junimorgen war es kalt im Saal. Die beiden Aufsichtspersonen auf dem Podium waren ihnen fremd; Dozenten einer anderen Fakultät: eine Frau mit einem strengen Knoten und einer dunkelroten Strickjacke; ein grauhaariger Mann. Nicht Quin, der in einer Woche abreisen würde, und Ruth war froh.

«Sie können jetzt Ihre Blätter umdrehen und anfangen», sagte die Frau mit dem Knoten mit klarer, heller Stimme.

Papier raschelte. «Lesen Sie die Fragen mindestens zweimal durch», hatte Dr. Felton gesagt. «Hetzen Sie nicht. Wählen Sie aus. Überlegen Sie genau.»

Aber es war besser, nicht zu lange auszuwählen und zu überlegen. Jedenfalls an diesem Morgen ...

«Was versteht man unter der Theorie des allometrischen Wachstums?» Das konnte sie; das war eine Frage, die sie unter anderen Umständen mit Vergnügen in Angriff genommen hätte – eine Frage, bei der man ein bißchen brillieren konnte. «Diskutieren Sie Osborns Konzept der <Aristogenese> bei der Entwicklung fossiler Wirbeltiere.» Das war auch interessant, aber vielleicht war es besser, wenn sie sich zuerst die Frage für die geistig Minderbemittelten vornahm – Frage Nummer 4. «Schreiben Sie kurz, was Sie zu folgenden Begriffen wissen: a) Die Funde von Piltdown; b) Archäopterix ...»

Verena hatte schon zu schreiben begonnen; Ruth konnte das Kratzen ihrer Goldfeder hören. Verena machte ihr in letzter Zeit richtig angst. Ihre Augen schienen sie zu durchbohren. Aber Verena war nicht wichtig. Nichts war wichtig außer die nächsten drei Stunden, von denen sieben Minuten bereits verstrichen waren, hinter sich zu bringen.

«Die Theorie des allometrischen Wachstums zur Quantifizierung des Verhältnisses kleiner Tiere zu großen», begann Ruth zu schreiben, die sich entschlossen hatte, das Risiko einzugehen.

Pilly, die schon dabei war, niederzuschreiben, was sie über die Funde von Piltdown wußte, blickte kurz auf, sah Ruth über ihr Blatt gebeugt und tauschte einen erleichterten Blick mit Janet.

Die Uhrzeiger rückten vor, die erste halbe Stunde war um. Eine Frage beantwortet, dachte Ruth; noch vier ... Dann also die Kurzfragen, weil es jetzt wieder anfing; es war sogar ziemlich schlimm, aber sie würde sich dagegen wehren; sie würde tief durchatmen, und es würde vergehen. Mein Gott, ich habe so hart gearbeitet, dachte sie, plötzlich von Selbstmitleid überschwemmt. Das kann doch nicht alles vergeudet sein.

Wieder beugte sie sich über ihr Blatt und begann zu schreiben. Sie schrieb sehr schnell, weil sie unbedingt etwas zu Papier bringen mußte, wofür man ihr eine Note geben konnte. Wenn sie in dieser Prüfung versagte, würde sie ihren Magister nicht bekommen. Sie konnte es nicht im Dezember noch einmal versuchen; sie nicht.

Aber sie konnte nicht schnell genug schreiben. Sie merkte, wie ihr der Schweiß aus allen Poren brach. Sie konnte kaum noch etwas sehen vor Schwindel ... wieder holte sie tief Atem.

Sie hob die Hand.

Die Frau mit dem Knoten, die auf dem Podium saß, sah auf. Sie sagte etwas zu dem Mann neben ihr und ging dann langsam, entsetzlich langsam zwischen den Bänken hindurch.

«Ja?»

«Ich möchte gern zur Toilette.»

«So bald schon?» Die Frau war verstimmt. «Muß das sein?» Wieder sah sie Ruth an, sah den Schweiß auf ihrer Stirn. «Also gut. Kommen Sie mit.»

Alle sahen auf, als Ruth hinausgeführt wurde. Es war ein umständliches Verfahren, niemand durfte allein hinausgehen. Die Prüflinge wurden wie Gefängnisinsassen behandelt, man mußte doch darauf achten, daß nicht etwa ein Spickzettel hinter der Toilette versteckt war.

Pilly biß sich auf die Lippe. Sie und Sam tauschten besorgte Blicke. So früh hatte Ruth sonst nie hinaus gemußt.

Dann hob auch Verena die Hand. Das war nicht nur ungelegen; das war schon eine kleinere Krise. Kein Prüfling konnte den Saal ohne Begleitung verlassen – andererseits mußte wenigstens eine Aufsichtsperson jederzeit im Saal sein. Der grauhaarige Mann oben auf dem Podium runzelte die Stirn und drückte auf einen Klingelknopf unter seinem Pult. Eine Sekretärin aus dem Prüfungsbüro erschien an der Tür und wurde zu dem Pult gewiesen, an dem Verena, mit der rechten Hand immer noch schreibend, den linken Arm in die Höhe hielt.