»Ich möchte einen Moment hinaus», sagte Verena.

Die Sekretärin nickte. Verena stand auf, und die ungläubigen Blicke sämtlicher Prüflinge folgten ihr zur Tür. Es war schwer zu glauben, daß Verena überhaupt körperliche Funktionen besaß.

Der goldene Zeiger der Uhr rückte vor. Drei Minuten – vier ...

Dann kam Verena zurück. Sie sah wohl und zufrieden aus und griff sofort wieder zu ihrem Füllfederhalter. Von Ruth war nichts zu sehen.

Es wird schon alles in Ordnung sein, dachte Pilly verzweifelt. Während der Physiologieprüfung und beim Parasitologie-Praktikum hatte Ruth auch hinaus gemußt; aber niemals so lange wie diesmal. Niemals gleich zwanzig Minuten lang ... eine halbe Stunde ... vierzig Minuten. Ruth war gescheit, aber selbst sie konnte es sich nicht leisten, bei der Prüfung so viel Zeit zu versäumen.

Die Frau mit dem Knoten war schon lange wieder im Saal; sie sprach leise mit dem grauhaarigen Mann, beide sahen zu Ruths leerer Bank hinüber.

Eine Dreiviertelstunde – eine Stunde ...

Dann war die Zeit abgelaufen, und sie war noch immer nicht zurück.

28

Sie war das berühmteste Schiff auf der Atlantikroute; die Mauretania, immer noch Königin der Meere mit ihren luxuriösen Salons und den glitzernden Läden. Filmstars reisten mit ihr und arabische Prinzen und Industriemagnaten. Gerade jetzt kam eine Frau in einem phantastischen Pelzmantel die Gangway herauf, von Fotografen verfolgt, nach denen sie sich mit einem strahlenden Lächeln umdrehte. Auch Heini war fotografiert worden, als er mit dem Zug aus London abgereist war; sein Leben hatte sich seit dem Wettbewerb völlig verändert. Selbst mit der Hälfte des Preisgeldes hatte er es sich leisten können, von Belsize Park in ein kleines Hotel umzuziehen. Er hätte erster Klasse reisen können, aber Fleury wollte, daß Ruth mitkam, und das hieß Touristenklasse reisen. Heini fühlte sich sehr edel, daß er dieses Opfer gebracht hatte, aber selbst in der Touristenklasse ging es auf diesem Schiff luxuriös zu. An die Reling gelehnt, hielt Heini nach Ruth Ausschau, die eigentlich inzwischen hätte dasein müssen.

Nun begann es, sein neues Leben, das Leben, das er sich seit seiner Kindheit ausgemalt hatte. Amerika und der Ruhm! Und er würde dies alles mit Ruth teilen. Viele Frauen würden ihn begehren – Heini wußte das und bildete sich nichts darauf ein –, aber ein Musiker brauchte Wurzeln und eine Frau. Horowitz' Spiel hatte an Tiefe gewonnen, als er Toscaninis Tochter heiratete; Rubinsteins Frau schirmte ihren Mann von allen Störungen ab. Ruth würde das gleiche für ihn tun, das wußte er.

Nur, wo blieb Ruth? Er sah auf seine Uhr, zum erstenmal ein wenig besorgt. Er hatte ihren Wunsch, allein zum Pier zu kommen, respektiert, ja, er war in dem Monat seit ihrem Schlußexamen überhaupt sehr geduldig und nachsichtig mit Ruth gewesen. Die Prüfungsergebnisse waren noch nicht bekanntgegeben worden, aber er hatte volles Verständnis für ihre Enttäuschung. Ausgerechnet während der Abschlußprüfungen an einer Magen- und Darmgrippe zu leiden, war wirklich Pech, und für eine Frau, die so ehrgeizig war wie Ruth, mußte es ein schlimmer Schlag gewesen sein, die letzte Prüfung praktisch verpaßt zu haben. Doch im Grunde war das alles halb so schlimm, da ja ihr Leben jetzt fest mit dem seinen verbunden war.

Noch eine Stunde jetzt bis zur Abfahrt. Einige der Freunde und Verwandten, die mit Reisenden an Bord gekommen waren, verabschiedeten sich. Vielleicht hatte er Ruth zuviel Freiheit gelassen? Sie hatte darauf bestanden, sich ihr Visum selbst zu besorgen, und er hatte auch da nachgegeben; er konnte nur hoffen, daß sie in Zukunft nicht störrisch sein würde.

Eine ärmliche Familie, offensichtlich Einwanderer aus dem Osten – die Männer mit breitkrempigen schwarzen Hüten, die Frauen in Tücher gehüllt, mit Kindern an den Händen – kam jetzt auf dem Weg zum Zwischendeck die Gangway herauf. Zwei alte Frauen, die zu ihnen gehörten, blieben winkend und klagend unten am Kai zurück; Zwischendeckpassagiere durften keine Freunde oder Verwandten mit an Bord bringen. Ruths Abschied in Belsize Park war gewiß geräuschvoll und tränenreich gewesen. Er war froh, daß er das alles verpaßt hatte. Ruths Entschlossenheit, ihre Familie nachzuholen, machte ihm etwas Sorge. Er hatte ihr versprochen, es zu tun, und er würde es auch tun, aber zunächst einmal gab es andere Prioritäten: eine anständige Wohnung, einen Steinway-Flügel, die Versicherung für seine Hände ...

Ah, Gott sei Dank, da kam sie. Sie trug ihr Lodencape, selbst an diesem warmen Tag zugeknöpft bis oben hin, und am Arm hatte sie ihren Korb, so daß sie noch mehr wie eine Gänsemagd auf der Alm aussah, und einen Moment lang fragte er sich, ob er vielleicht einen Fehler gemacht hatte, ob sie in dieses weltmännische Leben, das er von nun an führen würde, überhaupt hineinpaßte. Aber Mantella war hingerissen von ihr, und Fleury hätte sie jederzeit um den Finger wickeln können. Er hatte noch keinen Mann kennengelernt, der Ruth nicht mochte, und als sie jetzt die Gangway heraufkam, drehte sich ein Matrose, der gerade hinunterging, interessiert nach ihr um.

«Ruth!»

«Heini!»

Sie lagen einander in den Armen. Er fühlte ihr Haar an seiner Wange, die Wärme, die Vertrautheit.

«Du hast ja geweint, Liebling.» Er war fürsorglich, wischte ihr die Tränen mit den Fingern ab.

«Ja, aber das macht nichts. Es ist schon wieder gut. Ich hab uns auch was mitgebracht. Eine herrliche Überraschung. Es war der reine Zufall, daß ich sie mitten im Sommer gefunden hab, aber schau mal!»

Sie beugte sich zu ihrem Korb hinunter und nahm eine braune Tüte heraus, die sie ihm in die Hände legte. Heini spürte die Wärme, noch ehe er die Tüte aufmachte, und lächelte. «Maroni! Ach Ruth, das erinnert mich an so vieles.»

Er nahm eine Kastanie heraus, beinahe war sie zu heiß, um in der Hand gehalten zu werden, betrachtete die aufgesprungene Schale, das runzlige, geröstete Fruchtfleisch, atmete den köstlichen Duft. Beide waren sie jetzt wieder in der Stadt, in der sie aufgewachsen waren, im Winter in der Kärntner Straße, die warme Tüte in der Hand ... Ruth hatte sie oft in ihren Muff gesteckt, um sie warm zu halten, wenn sie ihn vom Konservatorium abholte. Einmal hatten sie drei Tüten vertilgt, während sie in einem Schlitten durch den verschneiten Prater gefahren waren.

«Ich schäl dir eine», sagte Ruth. Geschickt löste sie die Kastanie aus ihrer Schale und hielt sie ihm hin, wie sie ihm früher am Grundlsee die Walderdbeeren hingehalten hatte oder ein aus der Speisekammer ihrer Mutter stibitztes Stück Marzipan.

«Wollen wir sie mit hinunternehmen?» meinte er.

«Nein, essen wir sie hier, Heini. Bleiben wir oben am Wasser.» Und so blieben sie nebeneinander an der Reling stehen und leerten die Tüte.

«Ist dein Gepäck schon an Bord?» fragte Heini. «Wir fahren in weniger als einer Stunde ab.»

«Es ist alles erledigt», sagte Ruth. Sie schloß ihn in die Arme, und wieder fühlte er ihre Tränen. «Aber ich muß dir noch etwas sagen, Liebster.»


Keiner vergaß jemals, wo er sich am Morgen des dritten September aufgehalten hatte.

Pilly, die ohne auf die Prüfungsergebnisse zu warten zum Frauencorps der Royal Navy gegangen war, hörte Chamberlains quäkende Stimme in der Marinekaserne in Portsmouth. Janet hörte sie im Pfarrhaus ihres Vaters an dem Tag, an dem sie sich zum Erstaunen aller mit seinem Hilfspfarrer verlobt hatte.

Die Bewohner von Nummer 27 hörten die Nachricht, daß Großbritannien sich mit Deutschland im Krieg befand, am Radio in Zillers Zimmer, und ihre Gesichter drückten alle das gleiche aus: Erleichterung, daß die faulen Kompromisse endlich ein Ende hatten und sogleich das Begreifen, daß sie nun endgültig von den Verwandten und Freunden abgeschnitten waren, die sie auf dem Kontinent zurückgelassen hatten.

Auch von Ruth. Von Ruth, die seit fünf Wochen in Amerika war und sich noch nicht gemeldet hatte. Aber wahrscheinlich hatte sie geschrieben, und der Brief war infolge der unsicheren Zeiten nur noch nicht angekommen. Und nun würde jedes Postschiff von den U-Booten bedroht werden, die Telefonleitungen würden vom Militär requiriert werden.

«Ach, Kurt», sagte Leonie leise zu ihrem Mann.

«Denk daran, daß sie in Sicherheit ist. Das ist das Wichtigste. Daß sie in Sicherheit ist.»

Beinahe noch ehe Chamberlain zum Ende gekommen war, gab es den ersten Fliegeralarm, und sie bekamen einen Vorgeschmack auf das, was kommen würde, als Fräulein Lutzenholler mit einem Sprung unter den Tisch tauchte und Mishak in den Garten hinausrannte, um im Freien zu sterben. Es war falscher Alarm, aber er machte es Leonie leichter, sich die Worte ihres Mannes zu Herzen zu nehmen. Ruth war in Sicherheit – die Mauretania war wohlbehalten in New York eingelaufen; sie hatten sich bei der Schiffahrtsgesellschaft erkundigt. Sie selbst hatte gesagt, es könne eine Weile dauern, ehe sie einen Brief bekämen, aber nun betete sie darum, daß Ruth bald von sich hören lassen würde. Sie wußte, wie enttäuscht Kurt über Ruths Prüfungsergebnisse gewesen war und über die Art, wie sie vor ihrer Abreise ihnen beiden gegenüber auf Distanz gegangen war. Deswegen litt er jedoch kaum weniger als sie über diese Trennung von der Tochter, die er so sehr liebte.


Quin hörte die Nachricht erst drei Tage später unter geradezu abenteuerlichen Umständen. Ein Reiter, der in einer Staubwolke über die Ebene gefegt kam, zügelte vor ihm sein Pferd und reichte ihm einen Brief.

«Es ist also passiert», sagte Quin, und der Afrikaner nickte. Die Männer, die in den Felsen gearbeitet hatten, legten einer nach dem anderen ihre Werkzeuge nieder. Sie brauchten nicht zu fragen, was geschehen war. Der Commissioner in Lindi hatte versprochen, sie unverzüglich zu informieren, und er hatte Wort gehalten.

«Wir fahren also wieder nach Hause?» fragte Sam und trank sich noch einmal an der blauen Unermeßlichkeit des Himmels und der braunen Weite der Ebenen satt.

Quin legte ihm einen Arm um die Schultern. «Ja», antwortete er. «Unverzüglich.»


In den ersten Kriegswochen gab es diverse Krisen in Belsize Park, keine jedoch war feindlichen Angriffen zuzuschreiben. Die alte Dame von nebenan stieß bei der Verdunkelung mit einem Laternenpfahl zusammen und wurde zu Dr. Levy gebracht, der jetzt wieder praktizieren durfte. Ein wichtigtuerischer Luftschutzwart trieb Miss Violet in einen hysterischen Anfall, indem er sie beschuldigte, eine deutsche Spionin zu sein, weil zwischen den Vorhängen ihres Schlafzimmers Licht hindurchschimmerte. Leonie, die jetzt in einer Militärkantine arbeitete, bekam einen Rüffel, weil sie die Margarine auf den Broten der Soldaten nicht dünn genug strich.

Als endlich ein Brief aus Amerika kam, war er nicht von Ruth, sondern von Heini, und als Leonie ihn gelesen hatte, war sie nur noch ein zitterndes Nervenbündel. Heini bedankte sich bei ihnen für ihre Gastfreundschaft in den vergangenen Jahren und schloß eine Nachricht für Ruth ein.

«Ich möchte ihr keine Vorwürfe machen», schrieb er, «denn es war im Grunde nur anständig von ihr, mir zu sagen, daß sie mich nicht liebt und nicht mit mir zusammenleben möchte. Aber Ihr könnt Euch sicher vorstellen, wie mir zumute war, ganz allein auf der Überfahrt in ein unbekanntes Land. Zum Glück wurde ich hier sehr herzlich aufgenommen. Die Amerikaner sind so warmherzig, wie man das immer hört, und mein Debüt in der Carnegie Hall war ein Triumph. Bitte sagt das Ruth, und sagt ihr auch, daß nun eine andere Frau in mein Leben getreten ist, eine sehr musikalische Frau, die etwas älter ist als ich und ihren Einfluß geltend macht, um mich zu fördern. Ich lebe mittlerweile mit ihr zusammen in einer herrlichen Wohnung direkt am Central Park. Ruth braucht sich also keine Vorwürfe zu machen – sie darf aber auch nicht glauben, daß sie zu mir zurückkehren kann. Ich werde mich ihrer immer mit Wärme erinnern, aber das alles gehört nun der Vergangenheit an.»

Leonie kauerte zitternd in einem Sessel. «Mein Gott, Kurt, was ist da geschehen? Wo ist sie? Warum hat sie uns nichts gesagt?»

«Beruhige dich, Leonie. Es gibt bestimmt eine Erklärung.» Aber während Kurt Berger seiner Frau über den Rücken strich, hatte er selbst größte Mühe, ruhig zu bleiben.

«Wir müssen zur Polizei gehen. Sie müssen sie finden», sagte Leonie.

«Erst sehen wir mal, was wir auf eigene Faust herausfinden.»

Aber sie fanden nichts heraus. Pilly, der sie telegrafierten, hatte nicht von Ruth gehört; ebensowenig Janet. Alle in Thameside glaubten, Ruth sei in Amerika. Schluchzend flehte Leonie Gott um Hilfe an und versprach ihm wieder einmal, immer ein guter Mensch zu sein, und tatsächlich kam eines Nachmittags ein Brief, mit dem Hilda sofort ins Willow eilte.