Wieder läutete es, und nun hörten sie, wie Fräulein Lutzenholler ihre Tür öffnete und empörten Schrittes die Treppe hinuntermarschierte.

Wenig später kam sie zurück, so verdrossen, wie Leonie es erwartet hatte, in Begleitung eines rotgesichtigen Mannes, der eine Art Uniform trug.

«Das ist der Mann von der Desinfektionsanstalt», sagte Fräulein Lutzenholler. Als Leonie diesen Mann, den sie Wochen und Monate verzweifelt herbeigewünscht hatte, verständnislos ansah, fügte sie hinzu: «Er ist wegen der Mäuse gekommen.»

«Ach ja, vielen Dank.» Leonie stand auf, versuchte sich zu fassen. «Bitte, lassen Sie sich nicht stören. Sie sind überall. Am schlimmsten ist es in der Küche – und im hinteren Zimmer.»

«In Ordnung, Madam. Ich fang gleich an. Scheint ja eine rechte Plage zu sein. Kann sein, daß ich ein paar Bodendielen rausreißen muß.»

Er ging aus dem Zimmer. Sie hörten ihn umhergehen, die Wände abklopfen, Schränke öffnen.

«Ich sage dir, was ich tun werde», wiederholte Leonie, sich wieder ihrem Mann zuwendend. «Ich gehe mit Ruths Brief zur Post und lasse mir sagen, woher er kommt, und dann fahre ich dorthin und suche sie. Und wenn ich sie gefunden habe, bringe ich sie hierher und kümmere mich um sie und mein Enkelkind. Es ist mir egal, wer der Vater ist. Wenn Ruth sich ihm hingegeben hat, dann weil sie ihn geliebt hat, und sie ist mein Blut und deines auch, und deshalb wirst du jetzt nicht ...»

Es klopfte, und der Kammerjäger trat wieder ein.

«Das hier habe ich unter den Dielen im hinteren Zimmer gefunden», sagte er und stellte eine große Keksdose auf den Tisch. Sie war mit Mäusekot gesprenkelt und einem Bild der Prinzessinnen Elizabeth und Margaret Rose dekoriert.


Sie war mit dem Bus bis Alnwick gekommen, aber bis Bowmont waren es immer noch acht Meilen. Normalerweise hätte sie das leicht zu Fuß gehen können, aber nicht in ihrem jetzigen Zustand. Darum leistete sie sich, obwohl sie kaum Geld hatte, ein Taxi bis zum Dorf. Es wäre vernünftiger gewesen, sich direkt vor dem Haus absetzen zu lassen, aber das schaffte sie nicht. Sie wollte dort nicht als jemand erscheinen, der Ansprüche erhob und auf seine Rechte pochte; sie suchte Trost und Zuflucht in Bowmont, sonst nichts.

«Ich hoffe, du bist zufrieden», sagte sie bitter zu ihrem ungeborenen Kind. Sie hatte einen langen Kampf ausgetragen, ihren Stolz und ihre Selbständigkeit gegen den Eigensinn und die Halsstarrigkeit dieses Geschöpfs ins Gefecht geführt, und sie hatte verloren. Als sie jetzt schwerfällig den Hügel hinaufging, versuchte sie, den Konsequenzen einer Zurückweisung ins Auge zu sehen. Wohin würde sie sich wenden, wenn sie abgewiesen wurde? Es begann schon dunkel zu werden; sie konnte kaum zu Penelope zurückkehren, deren Ratschläge sie in den Wind geschlagen – die sie in gewisser Weise im Stich gelassen hatte. Sie mußte verrückt gewesen sein, hierherzukommen, jetzt, in der elften Stunde.

Die Tränen schossen ihr in die Augen, als sie vor sich, scharf umrissen vor dem Hintergrund eines stürmischen violetten Himmels, den Turm von Bowmont auftauchen sah, das Rauschen der windgepeitschten Bäume hörte und das Tosen der Brandung an den Felsen. Erinnerungen überfielen sie: an den unglaublich klaren Sternenhimmel; an den blendenden Glanz des Meeres in der Morgensonne; an die warme Geborgenheit und den Duft des Gartens. Wenn man sie wiederum fortschicken sollte, dachte sie, würde sie es nicht ertragen.

Sie ging jetzt auf der gekiesten Auffahrt und war noch immer keiner Menschenseele begegnet. Als sie die Treppe erreichte und ihren Koffer niederstellte, wußte sie mit Gewißheit, daß ihr Bemühen scheitern würde. Frances Somerville hatte für Flüchtlinge und für Ausländer nichts übrig; sie gehörte einer längst vergangenen Zeit an. Es gab keine Zuflucht hier, keine Geborgenheit und keine Hoffnung.

Sie konnte das Bimmeln der Glocke im Inneren des Hauses hören. Würde Turton sie überhaupt melden, wenn er ihren Zustand sah? Sie gehörte an die Hintertür oder in eines dieser düsteren Gemälde, auf denen des Hauses verwiesene Frauen in die Nacht hinausstolperten.

Der Riegel wurde langsam zurückgezogen – so langsam, daß Ruth Zeit gehabt hätte, umzukehren und die Treppe hinunterzulaufen.

«Ja? Was gibt es?»

Es war nicht Turton, es war niemand vom Personal. Es war Frances Somerville selbst, die ihr den Weg versperrte und auch, als sie sah, wer vor ihr stand, keine Neigung zeigte, sie hereinzubitten.

«Wie um alles in der Welt kommen Sie denn hierher?» rief sie entrüstet. «Was wollen Sie? Sie gehören doch jetzt nicht hierher!»

Ruth holte tief Atem und hob den Kopf. Sie mußte kämpfen. Für ihr Kind. Aber als sie sprach, kamen ihr die Worte nur stockend über die Lippen; sie war plötzlich so erschöpft, daß sie sich kaum noch auf den Beinen halten konnte.

«Bitte ... ich bitte Sie ... Darf ich bleiben?»

«Hierbleiben? Hier? In Ihrem Zustand? Wirklich, Ruth, ich weiß ja, daß ihr Ausländer alle verrückt seid, aber das geht wirklich zu weit. Selbstverständlich können Sie nicht bleiben.»

«Ich kann es Ihnen erklären ... Es hat seine Gründe.»

«Es geht hier nicht um Erklärungen. Sie können ganz einfach nicht hierbleiben, und fertig.»

Ruth sah in das entsetzte Gesicht der Frau, von der sie trotz allem gehofft hatte, sie sei ihre Freundin. Als sie von einer tödlichen Kälte erfaßt ihr Cape fest um sich zog, begannen die ersten Flocken zu fallen.

29

Als Pilly sich zur Navy gemeldet hatte, war es ihr Bestreben gewesen, als Köchin eingestellt zu werden; die Tatsache jedoch, daß sie studiert hatte, wenn auch nicht mit spektakulärem Erfolg, verlieh ihr automatisch einen Status, den sie eigentlich gar nicht haben wollte. Sie wurde Fahrerin, und ab Ende November beförderte sie Nachrichten von und zu den Docks sowie höhere Offiziere der Navy in mehr oder weniger wichtiger Mission.

Der Offizier, den sie an diesem Dezembernachmittag von dem Zerstörer Vigilantes etwa zehn Meilen außerhalb des Stützpunkts abholen sollte, war allerdings nur ein kleiner Leutnant, aber es fiel Pilly nicht ein, danach zu fragen, womit er diese Sonderbehandlung verdiente. Sie tat ihren Dienst und basta. Doch als er kam, erlebte sie eine Überraschung.

«Du meine Güte, Pilly!» Quin spähte ungläubig durch das winterliche Grau. «Sind Sie es wirklich?»

«Ja, Sir.»

«Na, das ist aber eine Überraschung!» Er warf seinen Seesack hinten in den Wagen und setzte sich nach vorn zu ihr. «Ich hatte keine Ahnung, daß Sie bei der Navy sind. Wie gefällt es Ihnen?»

«Ich find's ganz toll.»

Quin lächelte über ihren Enthusiasmus. «Wissen Sie, was die anderen machen?»

«Janet ist beim Roten Kreuz», antwortete Pilly. «Sie heiratet bald. Huw ist bei der Army, und Sam geht zur Air Force.»

Quin drehte mit einer heftigen Bewegung den Kopf. «Er hätte sich aufgrund seines Studiums zurückstellen lassen können. Das habe ich ihm extra gesagt.»

«Ja – aber er möchte dabeisein. Er haßt die Nazis, und nicht nur, weil er Ruth so gern hatte.»

Unvermeidlich, daß das Mädchen, das Ruth wie ein Schatten gefolgt war, ihren Namen erwähnen würde. Er mußte darauf reagieren.

«Haben Sie von Ruth gehört?»

«Ja. Vor zwei Wochen.»

«Und wie gefällt es ihr in Amerika?»

Keine Antwort. Sie fuhren unter Bäumen einen steilen Hang hinauf. Er glaubte, sie müßte sich auf das dunkle Stück Straße konzentrieren und wartete. Aber als sie weiterhin stumm blieb, wiederholte er seine Frage.

«Sie ist nicht in Amerika», antwortete Pilly.

«Wieso? Sie müssen sich täuschen.» Sein Bemühen, in neutralem Ton zu sprechen, war nur teilweise erfolgreich. «Sie ist doch Ende Juli mit Heini auf der Mauretania hinübergefahren.»

«Nein. Heini ist gefahren, Ruth nicht. Das hat sie mir in ihrem Brief geschrieben.»

«Wo ist sie dann?»

«Irgendwo in Nordengland. Sie arbeitet als Kindermädchen.»

«Was? Das muß ein Irrtum sein!»

Pilly schüttelte energisch den Kopf. «Nein. Und ich mache mir große Sorgen um sie. Ich verstehe nicht, was los ist. Sie behauptet, es sei alles in Ordnung, aber das stimmt nicht, ich fühle es. Sie ist unglücklich und meiner Ansicht nach völlig durcheinander. Und außerdem verhält sie sich wieder mal total weltfremd, finde ich.»

«Wie meinen Sie das?»

Pilly, die an einer Kreuzung warten mußte, versuchte zu erklären. «Ich habe Ruth wahnsinnig gern. Wirklich. Ihr allein habe ich meine bestandene Prüfung zu verdanken. Aber das ist nicht der Grund. Sie hat mir gezeigt, wie schön das Leben sein kann. Uns allen hat sie das gezeigt. Aber manchmal bekam sie plötzlich einen Rappel und benahm sich wie eine Heldin aus einem Buch oder aus einer Oper. Wie damals mit Heini, da redete sie dauernd von La Traviata und von dieser Mimi aus der Boheme. Aber Liebe hat doch mit Oper nichts zu tun», sagte Pilly und lächelte, denn sie hatte einen Offizier kennengelernt, der sie heiraten wollte.

Sie waren schon wieder ein ganzes Stück gefahren, ehe Quin etwas sagte. «Haben Sie ihre Adresse?»

«Nein. Sie hat sie mir nicht mitgeteilt. Darum glaube ich ja, daß sie wieder mal eine Romanheldin ist. So eine viktorianische Jungfrau, die im Schneetreiben herumirrt.» Sie warf einen Seitenblick auf ihren Fahrgast. Er war ein berühmter Wissenschaftler und würde, wenn er überlebte, vermutlich ein gefeierter Held werden, aber er war auch ein Mann, und den Verdacht, den sie und Janet hegten, konnte man ihm nicht mitteilen. «Ich sorge mich nicht um sie, weil sie nicht mit Heini nach Amerika gegangen ist. Es war ja offensichtlich, daß sie ihn gar nicht geliebt hat und ...»

«Tatsächlich? Diesen Eindruck hatte ich aber nicht.»

Laß es nicht von neuem beginnen, Gott! dachte er und sah zu den winterlichen Bäumen hinaus. Von der Wut, in die er sich früher hatte retten können, war nichts geblieben. Nur Trauer empfand er und ein tiefes, quälendes Gefühl schmerzlichen Verlusts.

«Ich habe mir vorgenommen, sie zu suchen, und ich werde sie finden», erklärte Pilly. «Der Haken ist nur, daß ich erst in drei Monaten wieder Urlaub habe.»

«Wie wollen Sie sie ohne Adresse finden?»

«Ich glaube, sie ist in Cumberland – dem Poststempel nach könnte es Keswick sein.» An einer roten Ampel bremste sie ab und sah ihn an. «Ich habe den Brief in meinem Zimmer. Wenn Sie Zeit hätten, ihn sich anzusehen – Sie haben doch Übung darin, Dinge zu entschlüsseln. Und wenn es wirklich Keswick sein sollte – das ist doch gar nicht so weit von Bowmont, nicht wahr? Wenn Sie nach Hause fahren, könnten Sie vielleicht ...»

«Ich fahre aber nicht nach Hause. Ich habe nur achtundvierzig Stunden, und bis dort hinauf braucht man, wie Sie wissen, einen ganzen Tag.»

Pilly seufzte. Dr. Sonderstrom hatte sich wahrscheinlich doch getäuscht. Wahrscheinlich hatte auch sie selbst sich getäuscht.»Wenn sie ein Dinosaurierzahn wäre, dann würden Sie nach ihr suchen», sagte sie. «Aber sie ist keiner. Sie ist Ruth!»

Sie hielt den Wagen vor der Kaserne an. Quin griff nach seinem Seesack und ließ ihn wieder fallen. «Also gut, Pilly. Zeigen Sie mir den Brief.»

Aber als Pilly wenig später mit dem Brief in der Hand in die Offiziersmesse kam, sah sie, daß Ruth verloren hatte. Quins Gesicht war bleich. Er starrte auf ein Telegramm in seiner Hand.

«Gott sei Dank, daß wir hier vorbeigeschaut haben», sagte er. «Meine Tante ist plötzlich erkrankt. Ich muß sofort zu ihr fahren.»

Er reichte ihr die Nachricht, die mit der Post für die Vigilantes auf ihn gewartet hatte:

Bitte umgehend Station drei Städtisches Krankenhaus Newcastle kommen. Dringend. Somerville.


Es war unmöglich, in dem überfüllten Zug zu schlafen; es gab nichts zu essen und nichts zu trinken. In den sich endlos dahinschleppenden Stunden konnte er nichts tun, als sich daran erinnern, was seine Tante zu ihren Lebzeiten alles für ihn und Bowmont getan hatte; sich klarzumachen, wie sehr ihr Tod ihn treffen würde.

Um zehn Uhr morgens trafen sie in Newcastle ein, und er fuhr mit einem Taxi direkt zum Krankenhaus. Als er am Empfang das Telegramm vorzeigte, wies man ihn in den ersten Stock hinauf. Eine Schwester kam ihm oben entgegen. «Ah, ja, wir haben Sie schon erwartet. Jetzt ist zwar keine Besuchszeit, aber ich weiß, es liegen besondere Umstände vor. Kommen Sie, ich bringe Sie ins Zimmer.»

Quin versuchte, sich zu wappnen, als er ihr zur Tür eines Wartezimmers folgte, die sie öffnete. Aber Tante Frances war nicht krank, und sie war ganz eindeutig quicklebendig. Als sie ihn sah, stand sie auf und eilte ihm entgegen – und sie lachte. Das war nicht das stets etwas widerstrebende Lächeln, das er von ihr kannte, das war ein strahlendes Lachen der Heiterkeit und der Belustigung.