«Gott sei Dank, daß du da bist!» Sie umarmte ihn. «Aber mach dir keine Sorgen», sagte sie. «In ein paar Tagen verliert es sich. Nicht wahr, Schwester?»

Die Schwester stimmte zu.

«Was soll das heißen? Was verliert sich?» fragte Quin verwirrt. «Die Ähnlichkeit. Sie ist unglaublich. Geh und sieh es dir selbst an. Sie liegt im letzten Bett links.»

Wie im Traum ging Quin durch das Krankenzimmer. Frauen saßen aufrecht in den Betten, manche unterhielten sich, andere strickten, aber alle waren guter Dinge und beobachteten ihn, als er an ihnen vorüberging.

Dann sah er plötzlich Ruth – so wie er sie in Erinnerung hatte, warm und weiblich, irgendwie zugleich stolz und unsicher. Aber er ging nicht gleich zu ihr. Am Fuß ihres Betts stand, wie vor allen anderen Betten, ein Kinderbettchen. Und darin lag – Konteradmiral Basher Somerville.


Das Baby sah tatsächlich aus wie der Basher; der Basher en miniature, noch ein wenig verschrumpelter, aber sonst genau gleich. Die Beethoven-Nase, das volle, krebsrote Gesicht, das Doppelkinn, das aufgeworfene Mündchen.

Quin konnte nichts sagen, nur schauen. Sein Sohn bewegte das verrunzelte kleine Köpfchen, öffnete ein Auge – ein unergründliches, tiefblaues, wimpernloses Auge –, und der Mund zuckte in der Vorahnung eines Lächelns. Und da war Quin verloren. Mit einem Augenblick hatte dieses Wesen, von dessen Existenz er noch fünf Minuten zuvor keine Ahnung gehabt hatte, von ihm Besitz ergriffen. Gleichzeitig wußte er, daß er jetzt sterben konnte und es nichts machte, weil das Kind da war und lebte.

Nur zurückhalten darf ich ihn niemals, dachte er. Er ist er selbst. Ich gelobe, daß ich ihn gehen lassen werde.

Dann sah er Ruth an, die ihn schweigend beobachtete. Aber sie nicht, dachte er glücklich. Sie nicht! Niemals werde ich sie hergeben. Er trat zum Kopf des Betts und nahm sie in die Arme.


Die Schwester hatte gesagt: «Eine halbe Stunde, aber nicht länger, und nur, weil Sie auf Urlaub sind.» Sie hatte die kalten blauen Vorhänge um das Bett herum zugezogen, doch die wäßrige Dezembersonne setzte ihnen goldene Lichter auf.

«Ich kann es nicht glauben», sagte Quin immer wieder, während er Ruths Gesicht berührte, ihre Augen, ihren Mund, ihr Haar. «Ich kann nicht glauben, daß du so dumm sein konntest. Ich wollte dir doch nur etwas Schönes und Kostbares schenken.»

«Ich weiß – ich war eine Gans. Wahrscheinlich dachte ich, ich dürfte nicht glücklich sein, wenn es auf der Welt soviel Leid gibt. Und außerdem erzählte Verena allen, die es hören wollten, du würdest sie nach Afrika mitnehmen.»

«Ja, eine unangenehme Person. Sie wird Kenneth Easton heiraten und ihm beibringen, wie man Cholmondely richtig ausspricht.»

Das gefiel Ruth. Das gefiel ihr sehr. Doch Quin war immer noch erschüttert von den Entwicklungen der vergangenen Monate. «Wenn ich denke, daß du das alles allein durchgestanden hast.»

«Hab ich ja gar nicht», widersprach Ruth ein klein wenig bitter. «Jedenfalls am Schluß nicht. Ich kann nur sagen, dich hat deine Tante vielleicht in Ruhe gelassen. Mich bestimmt nicht.»

Sie schilderte den Moment, als Frances an der Tür des Hauses erschienen war und ihr, wie es schien, den Weg versperrte. «Sie sagte, ich könne nicht bleiben. Ich war völlig verzweifelt, aber sie meinte nur, ich könne nicht in Bowmont bleiben, weil wir da womöglich einschneien würden und der Krankenwagen dann nicht durchkäme. Sie packte mich einfach ins Auto und fuhr mit mir zu Mrs. Bainbridge in Newcastle. Und nicht einmal, als meine Eltern kamen, hat sie mich aus den Augen gelassen. Ich glaube, sie hatte Angst, es könnte so gehen wie mit deiner Mutter.»

Quin nahm ihre Hand und hielt sie fest. «Gott sei Dank, daß es Tante Frances gibt.»

«Quin», sagte Ruth ein wenig zaghaft, «wenn du Bowmont dem Trust überschreibst, könntest du dann nicht ein ganz kleines ...»

«Wenn ich was tue?» unterbrach Quin verblüfft.

«Wenn du Bowmont dem Trust überschreibst. Ich meine ...»

«Aber Ruth! Was glaubst du denn? Du hast doch das Kind gesehen – du hast seine Fäuste gesehen. Glaubst du im Ernst, ich würde es wagen, sein Heim einfach wegzugeben?»

Ruth schien das komisch zu finden, sehr komisch, und ihre Bemerkungen über die englische upper dass waren so wenig schmeichelhaft, daß Quin ihr, leicht gekränkt, den Mund mit einem Kuß verschloß. Er zog sie fester an sich. Er wußte, er würde niemals genug von ihr bekommen, und in diesem Moment begann das Baby zu weinen. Augenblicklich ließ er sie los, nahm sich zurück. Er mußte sie lassen, obwohl er sie schon bald würde verlassen müssen, für immer vielleicht. Er mußte zurückstehen, das verlangte das Gesetz des Lebens.

Aber ihr Gesetz war ein anderes. Er fühlte, wie sie auf das Wimmern des Kindes reagierte, meinte zu spüren, wie das Band zwischen Mutter und Kind sich straffte. Sie streckte den Arm aus, jedoch nur, um auf den Klingelknopf neben ihrem Bett zu drücken.

«Ach, würden Sie ihn bitte ein Weilchen hinausbringen?» bat sie, als die Schwester kam. «Er kann noch nicht hungrig sein, und mein Mann kann nicht – lange bleiben.»

Er nahm es als ein Zeichen ihrer Liebe, dessen er sich würdig erweisen mußte, solange sie beide lebten. Als er sein Gesicht an ihre Wange drückte, fühlte er ihre Tränen.

«Quin, du kannst doch schwimmen, nicht?»

«Ja.»

«Du kannst es wirklich gut, ja? Dann versprich mir, ganz gleich, was passiert, selbst wenn ... ich meine, es ist ja nur der Atlantik oder der Pazifik. Es ist nur ein Ozean. Versprich mir, daß du einfach immer weiterschwimmst, immer weiter. Denn ganz gleich, wo du an Land kommst, ob auf einem Kontinent, einer Insel oder einem Korallenriff, ich warte dort auf dich. Ich schwöre es, Quin. Ich schwöre es bei Mozarts Kopf.»

Er mußte mit seiner Antwort einen Moment warten, weil er seiner Stimme nicht traute. Dann sagte er: «Natürlich. Du kannst dich fest darauf verlassen.»

Danach hielten sie einander schweigend umschlungen, bis es Zeit für ihn war zu gehen.

Epilog

Es war ein unglaublich schöner Tag; ein Tag, der zur Stimmung der Engländer paßte, die das Ende des Krieges in Europa feierten. Der blaue Himmel war wolkenlos, die Bäume leuchteten in hellem Maigrün. Fremde umarmten einander auf den Straßen; Kinder sprangen ausgelassen herum; Freudenfeuer wurden angezündet – auf den ausgebombten Plätzen rund um die St.-Paul's-Kathedrale wurde getanzt.

Es gab natürlich auch solche, die lieber ohne großes öffentliches Spektakel feierten. Frances Somerville und Mishak arbeiteten den ganzen Tag im Garten von Bowmont und stritten wegen des Spargelbeets. Die Notwendigkeit, für Nahrung zu sorgen, hatte Mishak erlaubt, an einer Stelle an der Südwand Spargel zu pflanzen; jetzt wollte Frances das Fleckchen für ihre Lilien zurückhaben. Der Ausgang des Streits stand keinen Moment in Zweifel; alle in Bowmont wußten, daß der wortkarge alte Herr Miss Somerville um den Finger wickeln konnte.

Im Willow jedoch war alles Freude und Überschwang. Ruth hatte eigentlich in Bowmont feiern wollen, doch ihr Sohn hatte andere Vorstellungen gehabt.

«Ich möchte nach London und den König und die Königin sehen», sagte er.

Auf weitere Fragen erklärte der fünfjährige Jamie, er fände, sie hätten recht daran getan, auch während der Bombenangriffe im Buckingham-Palast auszuharren und ihre Truppenbesuche fortzusetzen, und das wollte er ihnen sagen.

«Aber Jamie, da werden Tausende von Menschen stehen und darauf warten, daß sie auf den Balkon herauskommen. Du kannst sie nicht allein sprechen.»

Jamie sagte, das mache ihm nichts aus. Er war ein hübscher Junge geworden, mit dunklen Augen und dem lohfarbenen Haar seiner Mutter; von seinem Ururgroßvater, dem Basher, waren ihm nur die Ironie und der eiserne Wille geblieben.

Sie reisten also nach London, und wo James hinging, da ging auch seine kleine Schwester Kate hin – und als einmal feststand, daß dies eine große Wiedersehensfeier werden würde, nahm Ruth das Angebot der Damen Harper an, im Willow zu feiern. Mrs. Burtt, die es mittlerweile zur Vorarbeiterin in der Munitionsfabrik gebracht hatte, hatte sich anerboten, mit ihrem Sohn Trevor zu kommen und zu helfen.

Dennoch war Mrs. Weiss, als sie im Café ankam, keineswegs erfreut. «Du lieber Gott!» sagte sie unmutig. «So viele Kinder!»

Es waren wirklich viele Kinder. Sechs Jahre Krieg hatten eine erstaunliche Wirkung auf die Geburtenrate gehabt. Roger Felton und seine Zwillinge waren mit Kurt Berger und Jamie zum Bukkingham-Palast gezogen, aber Janet, die extra nach London gekommen war, hatte ihren quirligen Zweijährigen hier abgesetzt, um sich das Spektakel in den Straßen ansehen zu können. Dr. Levy, jetzt Facharzt am Hampstead Hospital, hatte Dienst, aber seine junge Frau war mit dem Baby gekommen, und Thisbe, die aus Cumberland zurück war, wich Ruth nicht von der Seite. Auf Leonies Schoß saß, das ausgelassene Treiben aufmerksam beobachtend, Katy Somerville.

«Deshalb ist die Lutzenholler nicht gekommen», stellte Mrs. Weiss grimmig fest, während sie sich auf zwei Stöcken zu ihrem Stammplatz beim Garderobenständer manövrierte.

Doch sie tat der Psychoanalytikerin unrecht. Daß es tatsächlich Leute gab, die gutes Geld dafür bezahlten, dem Küchenschreck von Belsize Park ihr Herz auszuschütten, erstaunte sie immer noch alle, aber es war so. Fräulein Lutzenholler, die jetzt eine Praxis im vornehmen St. John's Wood hatte, bot selbst an diesem historischen Tag ihren Patienten Zuflucht auf der Couch.

Auch andere fehlten. Von Hofmann hatte so effektvoll «Schweinehund» gesagt, daß er es jetzt in Hollywood sagte, und die Dame mit dem Pudel hielt ein zitterndes Chihuahua-Hündchen im Arm, Ersatz für den Pudel, der in hohem Alter das Zeitliche gesegnet hatte. Aber sonst waren fast alle da, und Ruth hatte in ihrer Rolle als Kellnerin alle Hände voll zu tun.

«Und Pilly?» fragte Leonie, als ihre Tochter mit Janets Kleinem auf der Hüfte und einer Platte Gebäck in der Hand vorüberkam. «Kommt sie auch?»

«Sie hat gesagt, sie würde es versuchen. Sam holt sie in Portsmouth ab. Aber bitte, Mama, hör auf zu kuppeln.»

«Warum denn?» fragte Leonie, die überzeugt war, daß sie an der wachsenden Zuneigung zwischen Sam und Pilly großen Anteil hatte. Sie hatte während des Krieges für alle Freunde Ruths ein offenes Haus gehabt. Das Jahr, in dem Pillys Offizier auf See vermißt worden und Huw bei El Alamein gefallen war, war schlimm gewesen, und da hatte sie gesehen, wie gut diese beiden, Sam und Pilly, zusammenpassen würden. Sie nahm einen Keks von Ruths Platte und drückte ihn ihrem Enkelkind in die Hand.

Doch um drei Uhr gab Ruth Janets Kleinen an Miss Maud weiter und ging nach oben zum geheimen Stelldichein mit den vier Männern, die den ganzen Krieg hindurch in der Uniform der Pioniere herumgereist waren, um die Frontsoldaten ebenso wie die vom Krieg erschöpften Daheimgebliebenen mit ihrer Musik zu trösten und zu erfreuen und die diesen Tag in einer zerstörten Kirche im Herzen Englands feierten.

Sie schaltete das Radio ein und hörte das Schubert-Quartett, das sie an jenem Abend in Thameside gehört und geglaubt hatte, ein Wunder sei geschehen und Biberstein sei doch am Leben. Aber vielleicht war dieses Wunder wirklich geschehen. Der Chauffeur aus Northumberland war es, der jetzt das Thema von Ziller übernahm, doch während die wunderbare, klare Musik das Zimmer erfüllte, war es Ruth, als sähe sie eine rundliche, kraushaarige Gestalt, die sich vom Himmel herabneigte und grüßend den Bogen ihrer Amati hob – und lächelte.

Als sie durch die Küche wieder ins Café zurückging, blieb sie wie angewurzelt auf der Türschwelle stehen. Unwillkürlich griff sie sich ans Herz. Er kam. Er war nicht sicher gewesen, ob er weg konnte, aber hier kam er mit großen Schritten über den Platz, und sie wußte, daß es kein größeres Glück auf der Welt für sie gab, als ihn so auf sich zukommen zu sehen.

Aber auch andere hatten die Ankunft Commander Somervilles bemerkt. Katy rutschte vom Schoß ihrer Großmutter und lief zu ihrer Mutter; sogar die anderen Kinder wurden still. Ruth hatte es nicht für nötig gehalten, die Heldentaten ihres Mannes für sich zu behalten. Alle wußten, was die goldenen Tressen an seinem Ärmel zu bedeuten hatten. Zweimal war sein Schiff von Torpedos getroffen worden; zwölf Juden und ein Versuchsschaf hatte er in Bowmont aufgenommen und hatte für seine Verdienste um das Vaterland hohe Auszeichnungen bekommen.

So ein Held mußte gebührend empfangen werden, und Mrs. Weiss war gegen die tränenreichen Umarmungen, die sie kommen sah. Mit einer Handbewegung gebot sie Ruth, sich zurückzuhalten, stemmte sich mühsam in die Höhe, und als Quin eintrat, richtete sie ihren Spazierstock mit der Gummispitze auf ihn: