In meiner Handfläche schimmerte das Gold.

Ein Tudor.

Ich war einer von ihnen, geboren von der jüngsten Schwester des letzten Königs, Henrys VIII.; Bruder der bestialischen Herzogin von Suffolk, Onkel von Jane Grey und Cousin von Königin Mary.

Und von Elizabeth! Sie und ich waren Blutsverwandte …

Tränen brannten mir in den Augen. Wie mochte sie ausgesehen haben, diese Mutter, die ich nicht mehr kennengelernt hatte? War sie schön gewesen? Hatte ich ihre Augen, ihre Nase, ihren Mund? Warum hatte sie mich heimlich auf die Welt gebracht? Wovor hatte sie sich gefürchtet, dass sie ihre Schwangerschaft vor allen verborgen hatte?

Und wie wäre mein Leben verlaufen, wenn sie nicht gestorben wäre?

Die Tudor-Rose … das Zeichen der Rose.

Ich hob den Arm. Ich sollte wirklich mit keiner Menschenseele darüber sprechen. Besser ein gewöhnlicher Stallknecht, ein Bastard und Findelkind, als jemand, der in aller Heimlichkeit ausgetragen und dann dem Vergessen anheimgegeben worden war – für immer verdammt zu einem Dasein im Schatten, zu Furcht vor der Enttarnung, zu einem Leben im Verborgenen, geprägt von dem ständigen Bemühen, den anderen die Wahrheit vorzuenthalten.

Doch meine Finger weigerten sich, das Kleinod loszulassen. Dieses Schmuckstück barg seine eigene Wahrheit, und die war unauflöslich mit meiner verbunden. So wahr mir Gott helfe, es war ein Teil meiner selbst, den ich nicht einfach preisgeben konnte, nicht, solange ich nicht die ganze Wahrheit aufgedeckt hatte.

Ich wickelte es wieder in Kates parfümiertes Tuch und verstaute es erneut in der Satteltasche. Dabei streiften meine Finger über das dünne Bändchen mit den Psalmen, das ich aus der Bibliothek der Dudleys mitgenommen hatte. Für einen Moment zauberte es ein Lächeln auf mein Gesicht. Ich trug also noch eine Erinnerung an Mistress Alice bei mir, eine, die sie mir so vor Augen führte, wie sie gewesen war.

Nachdem ich die letzte Krume des alten Brots und den mitgebrachten Käse verzehrt hatte, legte ich mich auf die Erde und schloss die Augen. Doch der Schlaf wollte nicht kommen. Unablässig sah ich eine verschrumpelte Hand nach meiner fassen und ein Geschenk von unermesslicher Bedeutung hineinlegen.

Als schließlich der Morgen über dem Horizont graute, sattelte ich mein Pferd und brach auf zu einem Ritt über Felder voller verblühender goldener Schwertlilien. Ich versuchte, an nichts zu denken.

Dann erreichte ich den Fluss Orr. Dort erhob sich auf der Kuppe eines Hügels über dem anderen Ufer Framlingham Castle. Seine dreizehn Türme und mächtigen Befestigungswälle überschatteten insgesamt drei Burggräben. Dahinter lag ein riesiges Jagdrevier. Als ich den Bach durchquert hatte, erspähte ich im Näherkommen Hunderte von Männern, die damit beschäftigt waren, Kanonen und Gewehre heranzuschaffen, Felsbrocken aufeinanderzuschichten, Bäume zu fällen und die Rinde von den Stämmen zu schälen. Ich lockerte die Zügel und ließ Cinnabar, der schon die Stallungen witterte, munter drauflosgaloppieren.

Wachmänner stellten sich mir in den Weg. Wütende Fragen prasselten auf mich herab, und mir blieb nichts anderes übrig als abzusteigen, mich auszuweisen und unter strenger Bewachung zu warten, bis die Nachricht eintraf, dass Rochester mich in die Burg bat. Ich schulterte meine Satteltasche und führte Cinnabar an den Zügeln neben mir her, dem über mir aufragenden Gebäude entgegen, das den halben Himmel zu verschlucken schien. Kaum jemand nahm mich wahr. Die meisten waren zu sehr in ihre Arbeit vertieft, was die Männer freilich nicht daran hinderte, untereinander derbe Bemerkungen auszutauschen. Darein mischten sich das Bellen von Hunden, das Muhen von Kühen und die Rufe von Frauen und Kindern, die die Tiere versorgten.

Trotz aller Belastungen wurde mir leichter zumute. Um Framlingham herum war praktisch über Nacht eine Zeltstadt aus dem Boden geschossen. Deren Bewohner waren einfache Leuten sowie Soldaten örtlicher Lords, die zusammengeströmt waren, um ihre rechtmäßige Monarchin zu verteidigen. In weniger als zweiundsiebzig Stunden hatte Königin Mary ihre Armee aufgestellt. Zumindest hier war alles so, wie es sein sollte.

Der große Burghof war gedrängt voll mit Menschen und Tieren. Rochester kam sogleich auf mich zugeschritten. Er schwitzte am ganzen Körper, wirkte aber ansonsten entspannt, ja erleichtert. Er packte meine Hand mit festem Griff.

»Master Beecham! Fast hätte ich Euren Namen nicht wiedererkannt. Ihr habt Glück, dass meine Freunde mich daran erinnert haben. Überlasst Euer Pferd den Stallburschen, und folgt mir. Ihre Majestät möchte Euch sehen.«

Als ich an Rochester vorbei zu den Arbeitern blickte, lachte ich befreit. Dort waren auch Barnaby und Peregrine, beide mit nacktem Oberkörper und völlig verdreckt. Sie winkten mir zu, ehe sie sich wieder der kräftezehrenden Aufgabe zuwandten, eine Kanone zur Reparatur in eine Schmiede zu schieben. Ich wandte mich wieder Rochester zu.

»Ich bin froh, Euch alle wohlbehalten anzutreffen!«, rief dieser aufrichtig erleichtert. »Wir schulden Euch so viel. Nachdem wir uns aufgeteilt hatten, haben Robert Dudleys Männer die anderen meilenweit verfolgt, bis er schließlich seinen Fehler bemerkt hat und uns hinterhergeritten ist. Gott sei’s gepriesen, dass er inzwischen gefasst worden ist.«

Ich erstarrte. »Gefasst?«

»Ja. Aber das könnt Ihr natürlich nicht wissen.« Rochester lotste mich zu einem nicht zu seiner Umgebung passenden Ziegelhaus im Schatten der Burg, das von zwei Holzhütten flankiert war. »Als ihm klar wurde, wohin wir unterwegs waren, hat Lord Robert offenbar beschlossen, Verstärkung zu holen. Er muss angenommen haben, dass wir keine Möglichkeit haben würden, die Burg zu verteidigen, wenn er zurückkehrte, um sie zu belagern.« Er lachte. »Wir hatten ehrlich gesagt nicht gedacht, dass der Sohn des alten Norfolk hier mit seinen Soldaten auf uns warten würde. Aber er war tatsächlich schon da, und bis Einbruch der Nacht sind noch einmal fünftausend Männer eingetroffen. Die Nachricht von der Notlage Ihrer Majestät hat sich wie ein Lauffeuer verbreitet, und es ist überall zu den Waffen gerufen worden. Aus ganz England strömen jetzt Männer herbei. Es ist, als würde Gott über sie wachen.«

»Allerdings«, bestätigte ich leise. »Und was sagtet Ihr über Lord Robert?« Während ich redete, dachte ich an Elizabeth, wie sie in jenem geheimen Zimmer gestanden hatte. Ich will nicht, dass ihm ein Leid geschieht, hatte sie gesagt. Und zu meinem größten Befremden stellte ich auf einmal fest, dass ich genauso empfand. Vielleicht, weil er einem Bruder, den ich nie gehabt hatte, noch am nächsten kam; oder vielleicht hatte sie recht damit, dass Robert, ein Dudley von Schrot und Korn, einfach ein Opfer seiner Erziehung war.

»Er hat es noch bis King’s Lynn geschafft«, erklärte Rochester. »Aber mittlerweile war schon eine Reihe seiner Begleiter von ihm abgefallen. Und dann sind auch noch seine Soldaten desertiert. So blieb ihm nur noch die Flucht. Er hat in Bury Saint Edmunds Unterschlupf gesucht und einen verzweifelten Hilferuf nach London geschickt. Sein Bote konnte entkommen, er nicht. Baron Derby hat ihn kurz danach im Namen der Königin verhaftet. Geschieht ihm recht, könnte man sagen. Er ist jetzt in der Ruine derjenigen Abtei eingesperrt worden, bei deren Zerstörung sein Vater geholfen hat.«

»Und was … wird nun aus ihm?«

Rochester schnaubte. »Über sein Schicksal wird Ihre Majestät entscheiden, sobald sie den Thron bestiegen hat. Beneidenswert wird es nicht gerade sein, denke ich. Im besten Fall eine Zelle im Tower für den Rest seiner Tage; im schlimmsten die Axt – zusammen mit dem Rest seiner verräterischen Sippe. Ich persönlich bin für die Axt. Ah, aber Ihre Majestät wird sich freuen, Euch zu sehen. Sie hat sich schon mehrfach nach Euch erkundigt.«

Mein kurzes Hochgefühl fiel in sich zusammen. Ich hätte wie Rochester über diesen Schlag gegen die Dudleys jubeln sollen, denn ohne Robert wurde es umso schwerer, Mary zu verhaften; doch stattdessen senkte sich bleierne Müdigkeit über mich. Nichts wünschte ich mir mehr als ein heißes Bad, eine Pritsche und völlige Abgeschiedenheit von der Welt – wenigstens für eine Weile.

Was ich mir nicht wünschte, war, mir überlegen zu müssen, wie ich Elizabeth davon in Kenntnis setzen sollte.

Wir traten in das Hauptgebäude und erklommen eine Treppe zu einem schlichten Saal. Dort erwartete uns Mary. Sie trug einen schwarzen Umhang und einen hohen Kopfschmuck, der für ihre schmalen Schultern viel zu schwer wirkte, sie jedoch nicht weiter zu stören schien. Bei unserem Eintreten schritt sie hin und her und diktierte mit strenger Stimme einem gehetzt wirkenden Sekretär, dessen Feder zwar über das Papier flog, der aber mit ihrem Wortschwall unmöglich mithalten konnte.

»Aus diesen Gründen, meine Fürsten, ersuchen und beauftragen Wir Euch als Eure rechtmäßige Herrscherin, um Eurer Ehre und persönlichen Unversehrtheit willen, Uns nach Erhalt dieses Briefs unverzüglich in Unserer Hauptstadt London zur Königin auszurufen. Denn weder sind Wir aus Unserem Reich geflohen, noch beabsichtigen Wir selbiges, sondern Wir sind bereit, für das zu kämpfen und zu sterben, zu dessen Verteidigung Gott Uns aufgerufen hat.«

Rochester räusperte sich. Ich verbeugte mich tief. »Eure Majestät.«

Sie wirbelte herum und starrte mich an. Offenbar war sie stark kurzsichtig, denn sie blinzelte mehrmals und runzelte verwirrt die Stirn, ehe sie schließlich rief: »Ah, mein geheimnisvoller Freund!« und mich mit einer entsprechenden Geste aufforderte: »Erhebt Euch, erhebt Euch. Ihr kommt gerade recht. Wir sind dabei, Northumberland den Krieg zu erklären.«

»Eure Majestät, das ist in der Tat eine gute Nachricht.« Während ich mich aufrichtete, fiel mir auf, dass Mary trotz ihres Elans und aller Euphorie über die vielen spontanen Treuebekundungen um die Augenpartie und die Mundwinkel angespannt und dass ihr Gesicht eingefallen wirkte. Sie erweckte den Eindruck, seit Wochen zu wenig gegessen und geschlafen zu haben.

»Gut? Die Nachricht ist mehr als gut!« Ihr Lachen war abgehackt, höhnisch. »Unser stolzer Herzog ist jetzt gar nicht mehr so stolz. Sagt es ihm, Waldegrave.«

Sie drehte sich zu ihrem Sekretär um, faltete die beringten Hände und lauschte mit einem seligen Lächeln wie eine stolze Lehrerin, während der Mann artig rezitierte: »Sechs Städte, in denen der Herzog Garnisonen unterhält, haben Ihrer Majestät den Treueeid geleistet und bieten ihr Artilleriewaffen, Nahrung und Soldaten an. Ihre Majestät hat den Ratsherren eine Proklamation gesandt, in der sie …«

Mary konnte sich nicht länger zurückhalten und fiel ihm ins Wort. »In der ich Auskunft darüber verlange, warum sie es bisher versäumt haben, mich als ihre rechtmäßige Herrscherin in London anzuerkennen. Ferner habe ich eine Erklärung dazu gefordert, warum sie es gewagt haben, meine Krone meiner Cousine zuzusprechen! Wisst Ihr, was sie mir geantwortet haben?« Sie schnappte sich ein auf dem Tisch liegendes Dokument. »Sie sagen, mein Bruder hätte vor seinem Tod wegen ernster Zweifel an meiner Legitimität eine Änderung in der Erbfolge angeordnet.«

Sie schleuderte das Papier auf den Boden. »Ernste Zweifel!« Diesmal mischte sich in ihr Lachen ein finsterer Ton, bei dem es mich eiskalt überlief. »Bald werden sie merken, wie sehr ich mich über solche Äußerungen freue. Häretiker und Verräter sind sie, und zwar ohne Ausnahme! Und als solche werde ich sie auch behandeln, wenn es so weit ist.«

Schweigen folgte ihrem Ausbruch. Ihre Augen wanderten von Gesicht zu Gesicht, bis sie schließlich auf meinem verharrten. »Und? Ihr seid doch der Kurier des Kronrats, richtig? Habt Ihr keine Meinung dazu?«

Diese Befragung ähnelte derjenigen bei Huddleston, nur war ich mir anders als damals sicher, dass Barnaby hier nicht mit hineingezogen würde. Wie um Marys Autorität zu bestätigen, trat Rochester wohlweislich einen Schritt zurück. Ich hatte das Gefühl, in ein Loch zu fallen. Das war doch nicht zu fassen, dass ich nach allem, was geschehen war, womöglich immer noch gezwungen werden sollte, meine Loyalität zu beweisen! Doch woher konnte sie andererseits wissen, wem meine Treue letztendlich galt? Wie konnte sie zu einem Fremden Vertrauen fassen, nachdem sie selbst so viel durchgemacht hatte?

»Eure Majestät«, begann ich, »dürfte ich mit Eurer Erlaubnis diesen Brief studieren?«

Auf ihre Geste hin hob ich das Dokument vom Boden auf und überflog es bis hinunter zur Unterschrift und den Siegeln. Dann hob ich den Blick zu ihr. »Die hohen Herren, deren Brief ich beim ersten Mal überbrachte, gehören sie hier auch zu den Unterzeichnern?«

»Sie sind nicht dabei, wie Ihr sehen könnt.« Auch wenn ihr Ton kurz angebunden wirkte, entspannte sie sich ein wenig. Sie kam näher und sagte zu den anderen: »Lasst uns. Ich möchte mit unserem Freund unter vier Augen sprechen.«