»Doch, ja, davon habe ich schon gehört. Aber ich muss hinein. Ich habe einen Brief zu überbringen.«

Peregrine ließ die Luft aus den Mundwinkeln entweichen. »Die mächtigste Festung von ganz England, und du musst einen Brief überbringen. Warum klopfen wir nicht einfach ans Tor? Das Ergebnis wird dasselbe sein. Oder hast du noch nie das geflügelte Wort gehört: ›Bist du einmal dort drin, kommt nur noch dein Kopf raus‹? So langsam glaube ich, dass du wirklich viel von einem Einhorn hast.«

Ich blieb stehen. »Einem was?«

»Ein Einhorn. Ein Fabeltier. Ein Hirngespinst.«

Ich warf den Kopf zurück und lachte, dass es mich förmlich schüttelte. Mit einem Schlag fühlte ich mich unendlich viel besser. »Den Witz habe ich noch nie gehört. Er gefällt mir.«

»Wetten, dass dir der Spaß vergeht, wenn du in einem Verlies in Ketten liegst und sie dir dein Horn abschneiden. Wir können nicht in den Tower und wieder ins Freie gelangen, ohne uns ordentlich auszuweisen. Vergiss, dass du das überhaupt versuchen wolltest. Weißt du irgendeinen anderen Ort, an dem du es stattdessen probieren könntest?«

»Nein. Aber du hast mich auf etwas gebracht.« Ich lächelte immer noch, als wir Cheapside erreichten. In den Straßen herrschte gespenstische Stille; die geschlossenen Fensterläden hatten die Tavernen überall in Bastionen verwandelt. Weit und breit war niemand zu sehen, bis auf eine einsame Bettlerin, die zu ausgemergelt war, um von der Haustür fortzukriechen, vor der sie sich niedergekauert hatte. Ganz London hockte hinter verschlossenen Türen, als wartete die Stadt auf einen Schicksalsschlag.

»Wir sollten die Pferde in einem Stall unterstellen und zum Fluss laufen«, schlug Peregrine vor. »So sind wir zu auffällig. Außer uns ist niemand unterwegs. Wenn uns eine Patrouille bemerkt, werden wir verhaftet.«

»Du wirst mir meine Abneigung gegen Wasser sicher verzeihen«, erwiderte ich, während wir einer hinter dem anderen den Uferweg entlangritten, wo es leichter war, den Abwasserrinnen und Abfallhaufen – wenn auch nicht der unvermeidlichen Jauche – auszuweichen.

Als ich in der Ferne die Türme von Whitehall erspähte, zügelte ich Cinnabar. »Wie komme ich zu Cecils Haus?«

Peregrine verzog argwöhnisch das Gesicht. »Glaubst du, dass er noch daheim ist?«

»O ja.« Meine Stimme wurde härter. »Und jetzt hör mir zu. Ich will, dass du dich von nun an genau an das hältst, was ich dir sage. Habe ich mich klar genug ausgedrückt? Wenn du mich ärgerst, binde ich dich fest. Das hier ist kein Spiel, Peregrine. Der kleinste Fehler könnte unseren Tod bedeuten.«

»Ich verstehe.« Er wedelte untertänig mit der Hand. »Hier entlang, mein Herr und Gebieter.«

Erneut führte er mich in das Labyrinth aus verwinkelten Gassen. Die Ahnung, dass eine Katastrophe bevorstand, war schier mit Händen zu greifen. Sie lauerte in den dunklen Nischen, wo sich die Häuser aneinanderlehnten wie Betrunkene. Ich atmete erleichtert auf, als wir eine breite Straße erreichten, die zum Palast führte. Aber auch hier war zu meiner Verblüffung alles verlassen. Ich kam mir vor wie in einem Märchen, in dem alles Leben durch einen Zauber erstarrt war.

Als wir uns unserem Ziel näherten, ließ ich Peregrine mit strengen Anweisungen bei den Pferden zurück und wanderte allein weiter. Da eine hohe Mauer das Haus umschloss, versuchte ich mein Glück am hinteren Tor. Es war nicht abgesperrt. Während ich die Eingangstür suchte, zückte ich meinen Dolch. In einem Duell Mann gegen Mann würde er mir nicht viel nützen, aber der Bogen, den Barnaby an Cinnabars Sattel geschnallt hatte, wäre bei einem Kampf auf engem Raum hinderlich gewesen.

Ich spähte zu den Fenstern hinauf. Das Haus wirkte so verlassen wie der Rest der Stadt. An der Seite befand sich ein kleines Tor. Ich sprang darüber und landete auf weicher Erde. Ich stand im Garten, der zu einem privaten Bootssteg im Schatten von Weiden führte. Wie ich vermutet hatte, war dort ein Ruderboot vertäut. Im Bug kauerte der Bootsmann und trank in tiefen Zügen aus einem Ale-Schlauch.

Ich wandte mich ab und schlich auf das Haus zu. Am hinteren Eingang entdeckte ich einen Kleidersack, der zwischen Schwelle und Tür geklemmt war, sodass sie nicht zufallen konnte. Anscheinend war jemand hastig hin und her gelaufen. Darüber erkannte ich das Butzenfenster von Cecils Kontor. Gegen die Wand gepresst, tastete ich mich weiter vor und reckte mich, um ins Innere spähen zu können.

Als ich die Gestalt im Innern Kassenbücher vom Tisch nehmen und in eine Tasche stecken sah, kehrte ich zur Tür zurück und schlüpfte ins Haus hinein.

Das Innere war in Düsternis gehüllt. Vorsichtig, immer wieder nach links und rechts schielend, näherte ich mich der offenen Tür am anderen Ende des Flurs. Plötzlich knarzte eine Bodendiele unter mir. Ich erstarrte. Würden sich jetzt gleich brutale Wächter auf mich stürzen? Doch nichts geschah, und ich schlich weiter, bis ich nahe genug war, um einen Blick in den Raum werfen zu können.

Cecil stand mit dem Rücken zur Tür. Bekleidet war er mit seiner schwarzen Reithose und einem Wams. Über der Stuhllehne hing ein Reiseumhang. Seine Tasche stand auf dem Pult. Er war gerade im Begriff, sie zu schließen, als er plötzlich verharrte. Ohne sich umzusehen, sagte er: »Das ist aber eine Überraschung.«

Ich trat über die Schwelle.

Er wandte sich zu mir um und bemerkte den Dolch in meiner Faust. »Seid Ihr gekommen, um mich zu töten, Junker Prescott?«

»Das sollte ich eigentlich«, knurrte ich. Jetzt, da ich dem Mann von Angesicht zu Angesicht gegenüberstand, der geschickt wie ein begnadeter Puppenspieler mit allen anderen gespielt und sie nach Belieben ausmanövriert hatte, dröhnte mir das Herz laut in den Ohren. Ich blickte mich im Zimmer um. »Seid Ihr allein? Oder muss ich erst Euren Totschläger aus dem Weg räumen?«

Er bedachte mich mit einem dünnen Lächeln. »Wenn Ihr damit Walsingham meint, kann ich Euch versichern, dass die Lage für einen wie ihn mit seinen festen Überzeugungen zu gefährlich geworden ist. Ich könnte mir vorstellen, dass er inzwischen auf dem Weg nach Dover ist, um dort eine Überfahrt zum Festland zu buchen. Ich hätte ihn ja begleitet, müsste ich nicht auch an das Wohlergehen meiner Familie denken.«

»Was? Rückt Euch Königin Mary zu nahe für Euer Wohlbehagen?«

Sein Lächeln flackerte nicht. »Allerdings. Mehr noch, ich wollte gerade mit meinem Boot zur Brücke fahren und dort ein Pferd für den Ritt nach Hertfordshire mieten. Das ist nicht weit entfernt vom Gut Ihrer Hoheit in Hatfield.« Er hielt inne. »Hättet Ihr nicht Lust, mich zu begleiten? Sie wird Euch nach allem, was Ihr für sie getan habt, mit Freuden empfangen, habe ich mir sagen lassen.«

Jetzt flammte mein lange unterdrückter Zorn auf. »Wagt es bloß nicht, mit mir zu spielen! Nicht nach allem, was Ihr getan habt!«

Er musterte mich, ohne irgendwie zu erkennen zu geben, dass ich ihn verwirrt hatte. »Ihr habt offenbar ein Hühnchen mit mir zu rupfen. Kommt, setzen wir uns und sprechen miteinander wie Gentlemen.« Er beugte sich über seine Tasche, als wollte er sie zur Seite schieben.

Ohne zu zögern sprang ich nach vorn und presste ihm die Spitze meines Dolchs so fest gegen die Brust, dass ich die Rippen durch das Wams spüren konnte. »An Eurer Stelle wäre ich vorsichtig. Ich brauche keinen weiteren Grund, um Euch bedauern zu lassen, dass Ihr mir über den Weg gelaufen seid.«

Er erstarrte. »Das würde ich nie bedauern. Darf wenigstens ich mich setzen? Die Gicht macht mir gelegentlich zu schaffen; das Bein bereitet mir heute Schmerzen.«

Trotz allem musste ich seine Ruhe bewundern. Ja, fast hoffte ich, ich wäre nicht zum Handeln gezwungen. Um die Wahrheit zu sagen, war ich mir gar nicht sicher, ob ich meine Drohung würde ausführen können, zumal jetzt auch noch mein anfänglich rasender Zorn allmählich verebbte und sich gut beherrschen ließ. Ich war nicht wie Cecil. Es bereitete mir keinerlei Freude, Ausflüchte, verschachtelte Pläne und einen Winkelzug nach dem anderen zu ersinnen. Doch ich war auf eine Zusammenarbeit mit ihm angewiesen, falls ich jemals den letzten Grund dafür entdecken wollte, warum wir beide uns in dieser Situation wiederfanden.

»Mir ist nicht klar, was ich getan habe, um Euch so zu kränken«, begann er, die Hände auf die Armlehnen gestützt, als spräche er mit einem Gast. »Ich bin genauso wenig ein Verräter wie alle anderen Ratgeber, die gezwungen wurden, den Herzog gegen die Königin zu unterstützen.«

Ich blickte ihm in die kühl abschätzenden Augen. »Mein Geschäft mit Euch ist rein privater Natur. Ich werde es Ihrer Majestät überlassen, jedwede Strafe zu verhängen, die ihr angemessen erscheint.«

»Ah! Dann muss ich sagen, Ihr bleibt Eurem Charakter erstaunlich treu. Ihr glaubt, dass Mary Unrecht getan wurde und dass ich dabei die Hände im Spiel hatte.«

»Würdet Ihr denn leugnen, dass Ihr dem Herzog die Information geliefert habt, die er benötigte, um sie verfolgen zu können? Oder war es purer Zufall, dass Lord Robert auf derselben Straße geritten ist wie ich und dann auch noch zur selben Zeit?«

Cecil lehnte sich zurück und schlug die mit der schmucken schwarzen Hose bekleideten Beine übereinander. »Ich leugne nicht, dass ich ihn in die richtige Richtung geschoben habe. Andererseits habe ich kein Sterbenswörtchen von mir gegeben, als ich hörte, wie Lord Arundel Durot – oder vielmehr unseren tapferen Fitzpatrick – damit beauftragte, Lord Roberts Begleitung zu infiltrieren, obwohl ich wusste, dass er die Jagd hintertreiben konnte. Ihr seht also, ich bin nicht zur Gänze Marys Feind.«

In meinen Ohren klang seine Stimme wie Sirenengesang – beruhigend, melodisch und nur allzu überzeugend. Noch vor wenigen Tagen hätte ich mich davon betören lassen.

»Ihr lügt! Mary ist die Letzte, die Ihr auf dem Thron sehen wollt. Gegen sie habt Ihr ebenso emsig wie gegen den Herzog gearbeitet. Wäre es nach Euch gegangen, wäre sie auf der Straße verhaftet oder, besser noch, auf der Flucht getötet worden. Das sah Euer Plan vor. Zu ihrem Glück war sie nicht so leichtgläubig, wie Ihr dachtet.«

»Ich habe nie verhehlt, wem meine eigentliche und höchste Treue gilt.« Sein Blick ruhte auf meiner Hand, die sich immer fester um das Schwert schloss. »Ihr müsst wissen, dass Ihre Hoheit unabhängig von dem, was Ihr vielleicht glaubt, meiner nun mehr bedürfen wird als bisher. Sie und Mary stehen sich nicht so nahe, wie Schwestern das sollten.«

Erneut griff er nach seiner Tasche. »Finger weg!«, blaffte ich.

Er verharrte. »Ich werde meine Brille und das Zifferrad brauchen. Ich nehme an, dass der Brief, den Ihr überbringt, in ihrem üblichen Code verfasst ist? Ihr müsst sie sehr beeindruckt haben, denn sie vertraut ihre private Korrespondenz niemals Fremden an.«

Er wusste, dass ich einen Brief für ihn dabeihatte! Mich beschlich das beunruhigende Gefühl, dass ich mich mit jemandem duellierte, der mir in jeder Hinsicht überlegen war und jedes Manöver, seine Pläne zu durchkreuzen, abwehrte. Verwirrt versuchte ich, aus all dem, was ich empfand, sah und hörte, schlau zu werden, die Einzelteile herauszunehmen und auf eine unausgesprochene Botschaft hin zu analysieren. Als mir das schließlich gelang, hätte ich beinahe über meine eigene Naivität laut aufgelacht: dass ich jemals hatte glauben können, ich hätte alles herausgefunden, was es über diesen hintergründigen, undurchschaubaren Mann zu wissen gab!

»Das wart Ihr! Ich habe zufällig belauscht, wie Lady Dudley Robert erzählte, dass irgendjemand am Hof Mary Informationen zukommen ließ; Walsingham hat dasselbe vermutet. Und Ihr habt Mary mit Eurer Warnung die Flucht ermöglicht. Und dann habt Ihr Robert auf ihre Fährte gesetzt. Aber mit der Warnung an Mary hattet Ihr schon vorher für Euren eigenen Schutz gesorgt. Auf Framlingham hat sie mir gesagt, Ihr würdet schon wissen, was getan werden müsse. Damals hielt ich das für eine Drohung, aber es war keine, nicht wahr? Sie wird Euch verschonen, weil sie glaubt, Ihr hättet sie vor dem Herzog gerettet.«

In Cecils Stimme klang Belustigung durch. »Ich kann wohl kaum den Ruhm ganz allein beanspruchen. Soviel ich weiß, hat ihre Cousine, die Herzogin von Suffolk, ihr ebenfalls eine Verlautbarung gesandt, in der sie ihr alle möglichen Arten von schmutzigen Vorgängen am Hof schilderte. Allem Anschein nach hat Madame Suffolk offene Rechnungen mit den Dudleys zu begleichen.«

Es überraschte mich keineswegs, von den Machenschaften der Herzogin zu erfahren. Sie hatte schließlich Rache geschworen. Wie konnte sie diese besser üben, als Übereinstimmung mit den Dudleys vorzugeben, während sie heimlich ihre königliche Cousine zu Gegenmaßnahmen anstachelte?