Er zuckte mit keinem Muskel. »Schlagt mich, wenn Ihr müsst, aber es wird Euch nicht das zurückbringen, was Euch genommen wurde. Ich mag vieler Dinge schuldig sein, aber das habe ich Euch nicht angetan. Ich habe Euch Euer Geburtsrecht nicht gestohlen. Das war Lady Dudley – sie hat es verborgen. Sie hat dafür Eure Mistress Alice benutzt und ermordet.«

Ich kannte mich selbst nicht mehr. Unter meinen Füßen öffnete sich ein Abgrund voller Schreckensbilder, die ich nicht sehen wollte. Sie zeigten Lady Dudley, aber ich konnte das einfach nicht glauben, nicht diese grauenhafte Tat. Und meine arme Alice … Wie hatte sie mich all die Jahre in Unwissenheit leben lassen können? Warum hatte sie nicht begriffen, dass am Ende das, wovon ich nichts ahnte, genau das sein würde, was man gegen mich verwenden würde?

»Alice hat mich versorgt«, hörte ich mich flüstern, als müsste ich mich selbst davon überzeugen. »Sie hat mir Sicherheit gegeben … Und sie haben sie verstümmelt, wie ein Tier angekettet, nur um sie am Ende abzuschlachten.«

»Ja«, sagte Cecil leise. »Das haben sie getan. Und sie hat es ertragen – aus Liebe zu Euch.«

Ich blickte ihn unverwandt an. »War es das? Liebe?«

»Zweifelt nie daran. Mistress Alice hat Euch ihr Leben geschenkt. Sie hat Euch von Eurer sterbenden Mutter weggeschafft, von der Schwester, die Euren Tod wollte, und hat Euch an den einzigen Ort gebracht, von dem sie glaubte, dass Ihr dort in Sicherheit wärt. Sie konnte nicht ahnen, was später geschehen würde; niemand konnte das vor all den Jahren voraussehen. Aber sie muss Lady Dudley so weit misstraut haben, dass sie Vorsichtsmaßnahmen zu Eurem Schutz ergriff. Das beweist allein schon Euer Name.«

Abwehrend streckte ich eine Hand aus. »Aufhören! Bitte. Ich … ich halte das nicht mehr aus.«

»Ihr müsst.« Er löste sich von der Wand. »Ihr müsst akzeptieren, dass es Verrat und Lügen gegeben hat, und Ihr müsst das überwinden. Wenn nicht, ist das Euer Untergang.« Er hielt inne. »Sie hat Euch Euren Namen nicht wegen ihrer Verehrung für den heiligen Brendan gegeben, sondern weil das die lateinische Form des irischen Namens Bréanainn ist, der von dem Wort für ›Prinz‹ im alten Walisisch abgeleitet ist. Mistress Alice hat Euch Euer Erbe gleich zu Anfang zum Geschenk gemacht. Es hat Euch Euer Leben lang begleitet.«

»Aber warum?«, rief ich verzweifelt. »Wenn Mistress Alice wusste, wer ich bin, warum hat Lady Dudley sie nicht in dem Moment getötet, als sie mich zu ihr brachte? Warum hat sie so lange gewartet?«

Einen langen Moment schwieg Cecil. Schließlich murmelte er: »Das kann ich nicht sagen. Das Einzige, was ich mir vorstellen könnte, ist, dass sie von Alice abhängig war. Als Angehörigen der unteren Klassen hätte Euch jeder Bedienstete aufziehen können, und das war schließlich die Illusion, die Lady Dudley aufrechterhalten musste: dass Ihr zu niemandem gehört. Aber Diener klatschen nun einmal, und da hättet Ihr schnell ins Gerede kommen können. Ganz gewiss wusste Lady Dudley, dass man Euch vor Frances von Suffolk verbergen musste und sie für Eure Betreuung eine vertrauenswürdige Person benötigte. Für beides war Alice bestens geeignet. Also ging Lady Dudley das Risiko ein, dass Alice Euch eines Tages die Wahrheit sagen würde. Damals bestand ja noch kein dringender Anlass zu handeln. Ihr wart noch ein Baby; Ihr konntet jederzeit sterben wie so viele Kinder. Niemand wusste, wie es in der Thronfolge weitergehen würde, aber ein Geheimnis wie das Eure konnte sich noch als unschätzbar wertvoll erweisen. Absolutes Schweigen war vonnöten – Schweigen und geduldiges Warten.«

Er beobachtete mich. Das Herz dröhnte mir bis in die Ohren. Es gab noch mehr; ich spürte, wie es sich unmittelbar unter der Oberfläche regte, wie es ihre falsche, brüchige Haut durchstieß.

»Natürlich könnte es sich auch anders verhalten haben«, fuhr Cecil fort. »Vielleicht hat Lady Dudley Alice am Anfang nur deshalb nicht umgebracht, weil sie wusste, dass Alice sich jemandem anvertraut hatte, jemandem, der das Geheimnis um Eure Existenz aufgedeckt hätte, wenn ihr irgendetwas zugestoßen wäre. Wenn das zutrifft, dann war Lady Dudley von Alice und dieser anderen Person in die Enge getrieben worden. Sie konnte es nicht wagen, impulsiv zu handeln. Das wurde erst möglich, als ihr König Edwards Erkrankung eine Gelegenheit dazu bot.« Er hielt inne. »Fällt Euch jemand ein, dem Mistress Alice ein derart gefährliches Geheimnis anvertraut haben könnte?«

Ich überlegte. Stokes’ Worte kamen mir wieder in den Sinn: Aber irgendetwas muss in diesen letzten Stunden geschehen sein. Mary von Suffolk muss sich der Hebamme anvertraut und etwas gesagt haben, das bei ihr Verdacht erregte

Und sogleich fielen mir auch wieder Mary Tudors Worte ein, als sie einen Besuch des Haushofmeisters von Charles von Suffolk erwähnt hatte – ein strammer Mann …

Ich wollte ins Freie stürmen, fortlaufen, nichts mehr wissen, das wollte ich. Es würde ja doch keinen Frieden für mich geben, kein Versteck. Ich würde dazu verdammt sein, bis ans Ende meiner Tage zu suchen.

Aber es war zu spät. Ich wusste, wie Alice sich geschützt hatte: mit meinem Muttermal, welches eine andere Person, die mich versorgte, ebenfalls gesehen hatte. Und mir war auch klar, wem sie sich anvertraut hatte. Wie alles andere war es die ganze Zeit da gewesen und hatte nur darauf gewartet, dass ich genügend Einzelheiten in Erfahrung brachte, um es zu entdecken.

Cecil blickte mich immer noch fragend an. Ich antwortete mit einem Kopfschütteln. »Nein, da ist mir niemand bekannt. Und es hat ja auch keine Bedeutung mehr. Mistress Alice ist tot.« Ich verlieh meiner Stimme einen härteren Klang. »Aber eines weiß ich: Ihr habt keine Beweise. Es gibt keine Beweise. Und ich will zusehen, dass es so bleibt.« Ich bohrte meinen Blick in den seinen. »Wenn Ihr je einer Menschenseele davon erzählt, bringe ich Euch um.«

»Es erleichtert mich, das zu hören.« Er lachte. Und als hätten wir uns über das Wetter unterhalten, zupfte er sein Wams zurecht und schlenderte vorbei an dem zertrümmerten Stuhl zu seiner Tasche. »Denn die Offenbarung Eurer Geburt könnte Komplikationen mit sich bringen, die für alle Beteiligten höchst unselig wären – vor allem für Euch.«

Ich brach in rohes Lachen aus. »Ist das der Grund, warum Walsingham mir mit einem Dolch in der Hand auf die Festungsmauer gefolgt ist? Angesichts der Ungewissheit in der Erbfolge muss ich ja ein schreckliches Hindernis dargestellt haben!«

»Ihr wart nie ein Hindernis.« Sorgfältig drapierte Cecil seinen Umhang um die Schultern. »Ich habe vielleicht Euren Scharfsinn unterschätzt, aber ich hatte nie die Absicht, Euch sterben zu lassen, weder in meinen Diensten noch sonst wie.« Sein ernster Ton verblüffte mich. »Wenn Ihr Euch die Ereignisse vor Augen haltet, werdet Ihr sehen, dass ich bei Eurer Ankunft nichts hatte als unbegründete Gerüchte und das Wissen um eine Kräuterkundige, die einmal Mary von Suffolk gedient hatte. Da konnte ich unmöglich alles von vornherein berechnet haben.«

Ich erlebte aufs Neue den Abend von Elizabeths Eintreffen im Whitehall-Palast und hörte wieder jenes rätselhafte Flüstern: Il porte la marque de la rose.

Ich konnte nicht länger wüten. Ich konnte nicht kämpfen. »Erst als Euch jemand Euren Verdacht bestätigt hat«, entgegnete ich. »Darum habt Ihr Walsingham auf mich angesetzt, nicht wahr? Um zu sehen, ob er mich nackt überraschen konnte. Das Zeichen auf meiner Haut, das Zeichen, das die Rose genannt wird – es hätte den schlagenden Beweis geliefert.«

Er neigte den Kopf, als hätte ich ihm ein Kompliment gemacht. »Ich habe keine weiteren Geheimnisse vor Euch. Jetzt können wir gemeinsam für eine Sache arbeiten, die größer ist als wir beide – die Sache Elizabeths, die bald vor einer Herausforderung stehen wird, und die wird weit schrecklicher als jeder Dudley sein.«

»Ich habe nicht gesagt, dass ich noch mit Euch zu schaffen haben will«, knurrte ich.

Er bedachte mich mit einem wissenden Lächeln. »Warum, mein lieber Junge, seid Ihr dann noch hier?«

29

Es war Spätnachmittag, als wir das Haus verließen. Ich war noch nie auf einem Ruderboot gewesen, musste jedoch zugeben, dass das in London die angenehmste Art zu reisen war, auch wenn die Oberfläche des Flusses mit Treibgut übersät war. Ich wollte nicht allzu genau hinschauen, denn davon stieg ein ätzender Geruch empor, der sich an die Kleider heftete. Trotzdem war die Themse sauberer als jede Londoner Straße, und man kam mühelos voran. Zu verdanken war das den Gezeiten, die dafür sorgten, dass der Dreck ins Meer getragen und frisches Wasser hereingespült wurde. Was mich wunderte, war die Geschwindigkeit, mit der uns der Bootsmann, den wir gemietet hatten, halb betrunken, wie er war, zu jener gewaltigen Steinbrücke beförderte, über die die Hauptstraße nach Canterbury und Dover führte.

Das tortenähnliche Gebilde thronte, verziert von einem Wärterhäuschen im Süden und überdacht von Wohngebäuden, auf zwanzig Pfeilern. Während ich es betrachtete, kommentierte Cecil: »Es gibt Menschen, die auf dieser Brücke geboren werden, leben und sterben, ohne sie je zu verlassen. Bei Flut kann man ›durch die Brücke schießen‹ – was ein ziemliches Abenteuer ist, wenn man es überlebt.«

Prompt jagte der Bootsmann den Kahn mit einem zahnlosen Grinsen und übelkeiterregender Geschwindigkeit durch einen der schmalen Bögen der Brücke. Ich klammerte mich an meiner Holzbank fest, die Lippen aufeinandergepresst. Auf der anderen Seite geriet der Kahn in einen gewaltigen Sog und richtete sich blitzartig auf. Mir stieg der Geschmack von Erbrochenem in die Kehle.

In Zukunft wollte ich mich wieder an mein Pferd halten.

Endlich erreichten wir ruhiges Wasser und glitten auf ein atemberaubend schönes, spiegelglattes Becken zu, wo vor Anker liegende Galeonen unter dem dämmrigen Himmel schaukelten. Weiter hinten wachte der Tower über die Einfahrt in die Stadt. Obwohl ich sie nicht sehen konnte, war ich mir sicher, dass Kanonen jeden Zoll seiner vom Wasser umspülten Mauern schützten. Im schwindenden Tageslicht waren die verwitterten Steine des Towers in einen rostfarbenen Ton getaucht, der an Blut gemahnte und seinen Ruf als düsteren Ort unterstrich, den man nach Möglichkeit meiden sollte.

»Ihr braucht das nicht persönlich zu tun«, meinte Cecil. »Es gibt viele Wege, einen Brief zu überbringen.«

Ich betrachtete das Hauptgebäude innerhalb der Anlage, an dessen vier Türmen Standarten hingen. »Nein, das ist das Mindeste, was sie verdient, und Ihr schuldet es mir.«

Cecil seufzte. »Scharfsinnig und starrköpfig. Hoffentlich begreift Ihr, dass wir nicht länger bleiben können, als wir willkommen sind. Ich weiß nicht, was uns erwartet, wenn ich die Befehle der Königin erst einmal übermittelt habe. Unabhängig davon wird in ein paar Stunden die Sperrstunde ausgerufen, und dann werden alle Tore geschlossen. Wer dann noch drinnen ist, bleibt drinnen.«

Unser Kahn legte an. Cecil erhob sich. »Zieht Euch die Kappe übers Gesicht. Was immer Ihr tut, sprecht nur, wenn Ihr müsst. Je weniger man von Euch sieht und hört, umso besser.«

»Soll mir recht sein«, murmelte ich.

Wir stiegen die Stufen zum Pier hinauf und marschierten über ein freies Feld zum Torhaus, wo erschreckend viele Wächter den Eingang kontrollierten. Von drinnen drang das gedämpfte Brüllen von Löwen zu mir herüber. Kurz blickte ich zu dem sich über mir auftürmenden Gemäuer. Ein mit Zinnen und Schießscharten versehener Wehrgang ragte zum Schutz des weißen Hauptgebäudes in den Himmel.

Ein Wächter trat vor. Rasch schlug Cecil seine Kapuze zurück. Der Wärter stutzte. »Sir William?«

»Guten Tag, Harry. Ich darf annehmen, dass es Eurer Frau besser geht?« Cecils Stimme war so glatt wie das unter uns schimmernde Wasserbecken. Ich indes zog meine Schultern noch höher und beobachtete den Mann unter dem Schutz meiner Kappe. Einmal wenigstens war ich dankbar für meine schmale Gestalt und bescheidene Größe. In meiner abgetragenen Reiseausstattung sah ich aus wie ein unwichtiger Diener, der seinen Herrn begleitete.

»Sie ist auf dem Wege der Besserung«, antwortete der Wärter spürbar erleichtert. »Seid bedankt für die Nachfrage. Die Kräuter, die Eure Gemahlin geschickt hat, haben uns sehr geholfen. Wir stehen tief in Eurer und Lady Mildreds Schuld. Das war sehr freundlich von Euch.«

Trotz meines Misstrauens Cecil und seinen Tücken gegenüber musste ich grinsen. Darauf konnte man sich verlassen, dass er dort, wo es darauf ankam, jemanden mit einer Gefälligkeit zu seinem Schuldner machte.

»Nicht der Rede wert«, erwiderte er. »Lady Mildred wird entzückt sein, wenn sie erfährt, dass ihr Mittel geholfen hat. Sie arbeitet ja in einem fort an ihren Rezepten. Ach, übrigens, Harry, ich habe ganz vergessen, bestimmte Dokumente mitzunehmen, als ich gestern hier war.« Er deutete auf mich, woraufhin ich mich verneigte. »Das ist ein Lehrling, den ich zum Sekretär ausbilde. Könntet Ihr uns für einen Moment durchlassen? Wir kommen gleich wieder zurück.«